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Betrogener Glaube

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„Ein Gespenst geht um in Europa — das Gespenst des Kommunismus“, hatten im Jahre 1848 Karl Marx und Friedrich Engels drohend an den Anfang des „Kommunistischen Mani-fests“ geschrieben. Es war dies die erste, warnende Äußerung einer neuen Doktrin, welche sich, wie Karl Marx selbst im März 1852 in seinem Brief an Weydemeyer glänzend zusammenfaßte, auf eine — angebliche — Erkenntnis der historischen Prozesse stützte. Im Verlauf seines Briefes erklärte er: „Was ich neu tat, war erstens nachweisen, daß die Existenz der Klassen bloß an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden ist; zweitens daß der Klassenkampf notwendig zur Diktatur des Proletariats führt; drittens daß diese Diktatur selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft bildet ...“

Als jedoch im Herbst 1917 in der sogenannten „Oktoberrevolution“ V. I. Lenin mit einer Gruppe geschulter Berufsrevolutionäre die „Diktatur des Proletariats“ errichtete, da wurde mit diesem Siege des Marxismus in Rußland die Marxsche Theorie nicht etwa bestätigt, sondern ad absurdum geführt. Bereits damals ging die von Marx angeblich so klar erkannte „historische Notwendigkeit“ ihre eigenen Wege. Von einem Siege des Proletariats im Oktober 1917 kann keine Rede sein, fiel dieses doch zahlenmäßig kaum ins Gewicht, was übrigens auch Lenin genau wußte. Nicht zufällig wandte sich der geniale Revolutionär in seinen Parolen immer an die „Arbeiter, Bauern und Soldaten“. Seine Deklaration nach der Machtübernahme der Bolschewiki am 25. Oktober (beziehungsweise 7. November neuen Stils) war gerade in dieser Hinsicht ein Meisterstück an Taktik, denn sie lautete:

„An die Bürger Rußlands! Die provisorische Regierung ist abgesetzt. Als Organ des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten hat das Militärisch-Revolutionäre Komitee, welches an der Spitze des Proletariats und der Garnison von Petrograd steht, die Staatsgewalt übernommen. Die Sache, für die das Volk kämpfte: sofortiger Vorschlag eines demokratischen Friedens, Abschaffung des gutsherrschaftlichen Grundeigentums, Kon-tiolle der Produktion durch die Arbeiter, Einsetzung einer Sowjetregierung — diese Sache ist gesichert. Es lebe die Revolution der Arbeiter, Soldaten und Bauern!“ Mit drei Schlagwörtern verführte Lenin ein Volk: Friede, Land und Produktionskontrolle. Für die kriegsmüden Soldaten war sein Programm genau so verlockend wie für die landhungrigen Bauern, welche sich nur zu gerne die Leninsche Devise, „Raubt das Geraubte“, zu eigen machten, während sich die Arbeiter in deT Rolle eines „auserwählten Volkes“ gefallen durften. Auf dem III. Allrussischen Sowjetkongreß im Jänner 1918 erklärte Lenin unumwunden: „Die Dinge sind anders gekommen, als Marx und Engels erwartet haben. Uns, den werktätigen und ausgebeuteten Klassen, ist die ehrenhafte Rolle des Vortruppt der internationalen sozialistischen Revolution zugefallen, und wir sehen jetzt ganz klar, wie weit die Entwicklung der Revolution gehen wird.“

Es war dies die Geburtsstunde des Marxismus-Leninismus, die Modifizierung einer Prophetie durch eine andere. Immerhin blieb der neue „Seher“ seinem Lehrer insofern treu, als er die Fiktion einer Revolution des Proletariats aufrechthielt. Indem er 65 Prozent der Bevölkerung als von sogenannten Kulaken ausgebeutetes bäuerliches Proletariat bezeichnete, war wenigstens der Buchstabe der marxistischen Theorie gewahrt, auch wenn Marx selber unter dem Proletariat nur die von den Kapitalisten ausgebeuteten Industriearbeiter verstand.

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