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„Bin ich eine Kassandra?“

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MAXIMILIAN BEN DA: „Herr Präsident, Ihr letztes Buch über die gaullistische Außenpolitik ist im Verlag Drömer-Knaur (München) kürzlich unter dem Titel „Ehrgeiz und Illusion“ zur Kenntnis des deutschsprachigen Auslandes gebracht worden. Ich habe der Presse entnommen, daß Sie selbst anläßlich der deutschen Ausgabe in München waren und dort einige öffentliche Erklärungen abgegeben haben. Welche waren Ihre Eindrücke von der letzten Deutschlandreise?“

PAUL REYNAUD: „Meine Eindrücke waren glänzend. Ich war nicht unempfindlich gegenüber dem Interesse, das mir das. deutsche Publikum entgegengebracht hat. Ich rechnete damit, daß zum Empfang, der gelegentlich der Bucherscheinung gegeben wurde, etwa 50 Personen kommen würden. Man sagte mir jedoch, daß 700 Personen erschienen waren.“

BENDA: „Es liegt nun nahe, daß ich einige Fragen an Sie im Zusammenhang mit Ihrem Buch stelle, das in der politischen Öffentlichkeit Frankreichs ein so starkes Aufsehen erregt hat. Wie stehen Sie, Herr Präsident, zu den französischen Kritiken Ihres Buches? Ich denke dabei in erster Linie an die beiden wichtigsten: die Abhandlung Andre Fon-taines in ,Le Monde' und Roger Massips im ,Figaro'. Es werden Ihnen im wesentlichen — wie Sie wissen — die folgenden Dinge zum Vorwurf gemacht: Erstens hätten Sie die Wandlung der amerikanisch-sowjetischen Beziehungen in der letzten Entwicklungsperiode unberücksichtigt gelassen. Das heißt: In dem Maße, wie sich das Verhältnis zwischen Washington und Moskau entschärfte, verliere auch Ihre These von der Notwendigkeit der steten Mobilisierung der Demokratien gegen die totalitäre Gefahr progressiv an Bedeutung. Es wird Ihnen ferner vorgehalten, daß Sie dem Unternehmen de-Gaulles, die unterentwickelten - Länder aus der Alternative Kommunismus oder Kapitalismus zu befreien, keine objektive Würdigung gegeben hätten. Schließlich stimmen Ihre dem gegenwärtigen Regime positiv gesonnenen Kritiker darin überein, daß die Schärfe Ihrer Ausführungen gegen den Präsidenten der Republik von Voreingenommenheit zeuge und den sachlichen Gehalt Ihrer Argumente entwerte.“

PAUL REYNAUD: „Man hat mein Buch mehrfach als ,Pamphlet' bezeichnet. Ich kann darauf nur erwidern, daß, nach der Definition des Lexikons Larousse, Pamphlet ein „petit ecrit“ (eine kleine Schrift) ist. Dies kann aber gerechterweise von meinem Werk nicht behauptet werden. Allein in den ersten beiden Kapiteln habe ich General de Gaulle — ich habe mir nachträglich die Zählarbeit gemacht — nicht weniger als 58mal zitiert. Ich habe zahlreiche Äußerungen international bekannter Staatsmänner verwertet und die Weltpresse verschiedener Orientierungen hundertfach zitiert. Sie werden mir zugestehen, daß ich mir es wahrhaftig nicht leicht gemacht habe, um meine Argumente auf einem soliden Fundament aufzubauen, um eine historische Arbeit zu leisten.

Wer kann mir, möchte ich Sie fragen, gerechterweise unterstellen, daß ich die Dinge auf die Spitze ge-

trieben, daß ich die Welt vom Standpunkt einer überholten Vergangenheit dargestellt hätte — diese Welt, die bald eine Milliarde Chinesen zählen wird? Was kann objektiv gegen die Feststellung ins Feld geführt werden, daß de Gaulle 1950 für Frankreich die unbestrittene militärische Führung Europas beanspruchte, daß er den Briten den Orient und den Amerikanern den Stillen Ozean zuwies? Ich habe darin etwas Schlimmeres erblickt als im Slogan ,Go home!' — es war die Aufforderung: ,Go to the Pacific!'. Ich habe gesagt, daß die Sowjets heute in Brest stehen würden, wenn die Amerikaner diesen Rat de Gaulies befolgt hätten. Will General de Gaulle Europa mit den beiden französischen Divisionen verteidigen, die heute in Deutschland stehen? Und doch hat er sein Aufbegehren gegen den Integrationsgedanken, gegen die NATO, klar zum Ausdruck gebracht, als er 1959 wörtlich sagte: .Frankreichs Verteidigung muß französisch sein. Es ist unerläßlich, daß sich Frankreich selbst verteidigt — für sich selbst und auf seine Weise.' Hat sich in den Jahren, die diesen so kraß ausgesprochenen Forderungen folgten, etwas geändert? Gibt es nur einen Anhaltspunkt, der auf ein Einlenken des Generals gegenüber der NATO schließen ließe? Keineswegs. Jetzt hat de Gaulle seine Offiziere aus dem Kommandostab der NATO zurückgeholt. Stellen Sie sich vor: Er zieht die Beobachter zurück! Er will nicht einmal wissen, was passiert!

Ich habe für die Persönlichkeit de Gaulles alle Hochachtung (beau-coup d'egard). Das schließt jedoch nicht aus, daß er im Bereich der französischen und europäischen Politik eine auf seine eigene Person abgestellte Einseitigkeit entwickelt. Ich kann diesen Standpunkt nicht nur nicht teilen, sondern erachte ihn als verhängnisvoll — sowohl für unser Land als auch für Europa.“

BENDA: „Herr Präsident, als wir uns das letztemal sahen — Sie waren damals Präsident des Finanzausschusses der Nationalversammlung —, hatten wir Gelegenheit, über Ihr zweites Gespräch mit dem sowjetischen Regierungschef zu sprechen. Das Gespräch hatte in Moskau am 15. September 1961 stattgefunden.

Worauf es mir heute ankommt ist, Ihren persönlichen Eindruck von Ihrem Gespräch mit Nifcita Chru-

schtschow zu erhalten. Sind Sie der Meinung, daß man wirklich ernsthaft mit ihm verhandeln kann? Glauben Sie, daß es ihm mit der Versicherung, die Sowjetunion betrachte die Erhaltung des Friedens als ihr höchstes Anliegen, ernst ist?“

PAUL REYNAUD: ,!ch darf Ihnen ohne Zögern versichern, daß ich in Ministerpräsident Chruschtschow eine sehr bedeutende Persönlichkeit, einen wirklichen Staatsmann erblicke. Ich hatte besonders von unserer zweiten Begegnung einen hervorragenden Eindruck. Ich sage dies aus tiefster Überzeugung und gewiß nicht wegen der schmeichelhaften Komplimente, die er mir machte.

Es ist zu hoffen, daß ihm ein

möglichst langes Leben beschieden sein möge. Sie werden mich fragen, womit ich diesen Wunsch begründen kann. Nun, mit meiner festen Überzeugung, daß Chruschtschow es erkannt hat, daß im Falle eines Atomkrieges niemand verschont bleiben wird — weder Kapitalisten noch Sozialisten, weder Unternehmer noch Bauern und Arbeiter. Chruschtschow hat es mir gesagt — und das war gewiß keine Floskel.

Das bedeutet aber natürlich nicht, daß ich die Gefahr des Kommunismus und des sowjetischen Imperialismus unterschätze. Sie ist nach wie vor latent, und wir wissen nicht, was uns die Zukunft bringt. Wenn General de Gaulle versichert, die kommunistische Bedrohung sei nach wie vor gegeben, so stimme ich darin mit ihm überein. Das ist so ziemlich der einzige Punkt, in dem ich ihm zustimme. Was aber meinen Eindruck von der Persönlichkeit Chruschtschows angeht, so wiederhole ich: Dieser Mann will den Frieden...“

BENDA: „Sehen Sie, Herr Präsident, eine Möglichkeit für die Lösung der deutschen Frage ,in Frieden und Freiheit' noch in dieser Generation? Haben Sie in Ihrem letzten Gespräch mit Chruschtschow etwas herausgehört, was den Schimmer einer Hoffnung rechtfertigen würde?“

PAUL REYNAUD: „Ich habe am 15. September 1961 — nach einem Besuch der Berliner Mauer — in der Presse auf den unmenschlichen Charakter dieser quer durch eine Großstadt gehenden Befestigung hingewiesen. (J'ai souligne le carac-tere sauvage de ces fortifications.) Ich habe gesagt, daß sich die ganze zivilisierte Welt entrüsten würde, wenn es sich bei diesen 17 Millionen gefangener Europäer um Schwarze handeln würde. Aber da es sich ,nur' um Weiße handelt, glaubt man, sich mit diesem Zustand abfinden zu können. Aber trotzdem halte ich es — allem gegenteiligen Anschein zum Trotz — für sinnvoll, immer wieder mit Chruschtschow über diese Fakten zu sprechen. Ich zweifle keinen Augenblick daran, daß die Sowjets wirklich Angst vor Deutschland haben. Eine der Fragen, die Chruschtschow an mich richtete, lautete: ,Wird Deutschland einen Krieg beginnen?' Ich stellte ihm die Gegenfrage: ,Womit? Mit welchen Waffen? Mit den wenigen Gewehren, die der bundesdeutschen Armee zur Verfügung stehen?'“

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