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Bis Stalingrad... (III)

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Am 31. Jänner 1943 erreichte um 7.45 Uhr folgender Funkspruch des AOK. 6 die Herresgruppe Don: „Russe vor der Tür. Wir bereiten Zerstörung vor.“ Wenige Minuten später wurde Feldmarschall Paulus mit den Resten des Armeestabes gefangen genommen. Eine Gedenktafel kennzeichnet heute jenes Haus in Stalingrad, in dessen Keller Paulus am 31. Jänner 1943 die Kapitulation unterzeichnet hat. Der Nordkessel unter General Strecker kämpfte weiter, bis zum 2. Februar vormittag. Hitler hatte noch am

1. Februar an das XI. AK. gefunkt: „Ich erwarte, daß der Nordkessel von Stalingrad sich bis zum letzten hält. Jeder Tag, jede Stunde, die dadurch gewonnen wird, kommt der übrigen Front entscheidend zugute. Adolf Hitler.“

Seit dem 10. Jänner, dem Beginn des russischen Großangriffs, bis zum

2. Februar 1943 gerieten 91.000 deutsche Soldaten in russische Gefangenschaft; 40.000 davon starben in den Monaten Februar und März allein im Gefangenenlager Begetowka. Nach ziemlich übereinstimmenden deutschen und russischen Meldungen haben nur 5000 bis 6000 Stalingradkämpfer die russische Kriegsgefangenschaft überlebt, oder anders ausgedrückt: abgesehen von den etwa 30.000 verwundet oder krank Ausgeflogenen hatte nur jeder fünfzigste, der im Kessel Eingeschlossenen die Chance, zu überleben.

Angesichts einer solchen Tragödie erhebt sich natürlich die Frage nach der Schuld; obwohl schon viele Dokumente zur Verfügung stehen, ist derzeit wohl nur ein vorläufiges Urteil möglich, weil in das Handeln und Unterlassen der maßgebenden militärischen Führer Deutschlands zahlreiche übermächtige Umstände mit hineinverflochten waren. Das soll aber nicht heißen, daß man nicht in sehr ernster und tiefgründiger Weise sich Gedanken machen kann über das Problem „Grenzen der Befehlsgewalt“ beziehungsweise „Grenzen des militärischen Gehorsams“.

Letztlich stehen hinter dem Geschehen von Stalingrad dämonische Kräfte: und zwar ebenso gewiß, wie es niemand bezweifelt, daß der Abschluß der Tragödie auf Maria Lichtmeß fiel. Der Mensch als Wesen mit Verstand und freiem Willen ist jedoch diesen dämonischen Kräften keineswegs ausgeliefert: Er kann sich für das diabolische „Ich will nicht dienen!“ ebenso entscheiden wie für Marias Antwort: „Mir geschehe nach Deinem Willen!“ Schuldig ist ein Mensch nur insoweit, als er sich trotz aller seiner Gewissensbedenken hochmütig über das klar erkannte Sittengesetz hinwegsetzt. Nach diesem Maßstab werden wir vor allem jene vier Männer zu beurteilen haben, die am Untergang der 6. Armee besonders beteiligt gewesen waren: Paulus, Manstein, Göring und Hitler.

Angesichts der vielfältigen Verflechtungen eines so komplexen Geschehens könnte man freilich auch andere Männer herausheben, die offenbar ihrem Gewissen gefolgt sind: wir erwähnten schon v. Seydlitz und v. Drebber, die örtliche Kapitulationen abschlössen, aus Gewissensüberzeugung und gegen Hitlers Befehl; ebenso könnte man General Pfeffer anführen, der zweimal einen Angriffsbefehl von Paulus verweigerte, und zwar mit der Motivierung: „Ich schicke meine Soldaten nicht sinnlos in den Tod!“ Diese Beispiele, gegeben von kampferprobten und mit Ritterkreuz ausgezeichneten Männern, bezeugen, daß man auch in Stalingrad nach seinem Gewissen handeln konnte. Aber nicht alle taten dies.

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