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Bismarck siegte über Lenin

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Noch vor zwei Monaten sprachen sich zahlreiche junge sowjetische Journalisten, „für die tschechoslowakische Lösung“ aus und hofften, es werde davon auch für sie etwas abfallen. Natürlich waren sie Realisten genug, um zu wissen, daß in nächster Zeit noch keine russischen Dubceks in den Kreml einziehen werden, aber mit dem Blick auf die Wirtschaft glaubten sie an eine baldige Reform, wie sie am Anfang des Prager Frühlings stand. Die Sowjetpanzer, die bis zum Wenzelsplatz vorstießen, haben auch diese Hoffnungen niedergewalzt.

„Der 21. August war ein trauriger Tag für uns alle“, sagte mir ein junger intelligenter Mann aus Bjelo- rußland, nachdem er mit unglaublicher Energie die militärische Intervention seines Landes in der Tschechoslowakei zu rechtfertigen versucht hatte. Das ist kein Widerspruch. Es ist höchstens das Resultat zweier

Gedankengänge, die sich an verschiedenen Stellen überschneiden. Die beiden Gedankengänge selbst aber könnten am besten mit der Sorge um den internationalen Sozialismus einerseits und mit der Sorge um die europäische Sicherheit anderseits umschrieben werden. Allerdings gehen die Meinungen zum Teil sehr stark auseinander. Es gibt junge Russen, die die militärische Intervention begrüßen, da sie angeblich die europäische Sicherheit garantiere, die sie aber verurteilen, weil dadurch der internationale Sozialismus Schaden genommen habe. Und es gibt andere junge Russen, die genau das Gegenteil behaupten: der internationale Sozialismus sei dadurch gerettet, doch sei durch die Verschiebung des militärischen Kräftegleichgewichtes die europäische Sicherheit ge fährdet.

Dieser Widerspruch verlangt eine Erklärung.

Der internationale Sozialismus

Der ĘpziąŲsgnųi ist.,dig Maxime, an der niemand rütteln will. Vor allem die Russen identifizieren den Sprung aus der zaristischen Leibeigenschaft zur modernen Industriegesellschaft mit dem Sozialismus und sind überzeugt, daß sie mit einer anderen Weltanschauung diese Entwicklung nicht oder wenigstens nicht so schnell hätten machen können. Trotzdem erkennen sie gewisse Fehler, die ihrer Meinung nach zwar nicht im Wesen des Sozialismus selbst, wohl aber in der Art seiner Verwirklichung liegen. Vor zwölf Jahren hat Chruschtschow mit seiner Anti-Stalin-Rede vor dem XX. Parteitag den Anstoß zum ersten Wandel gegeben. Natürlich stand damals die Verurteilung des Personenkultes mit all seinen Terrorexzessen im Vordergrund; für die Söwjetmenschen aber war der Umstand ausschlaggebend, daß offiziell als falsch bezeichnet wurde, was bisher noch als die einzig richtige Linie gewertet worden war.

So hat im Grunde genommen Chruschtschow eingeleitet, was jetzt in der Tschechoslowakei und anderswo seine Früchte zeitigt. „Wenn die Kommunisten der dreißiger und vierziger Jahre zu Fehlern fähig waren, so sehe ich nicht ein, weshalb die heutigen unfehlbar sein sollten“, hielt in einem Streitgespräch ein georgischer Student seinen etwas älteren Kommilitonen entgegen. Die Frage, ob er denn an seine eigene politische Fehlerlosigkeit glaube, verneinte er heftig: „Natürlich nicht, aber es geht einfach darum, daß jeder das tut, was er für sich selbst und zu einer bestimmten Zeit für richtig hält. Ob wir von einer späteren Generation desavouiert werden, ist weniger wichtig.“

Selber denken!

Damit ist aber das Kernproblem der ganzen großen Auseinandersetzung berührt: Wenn jeder — auch im Kommunismus — dasjenige tun soll, das er zu gegebener Zeit und für sieh selbst als richtig erachtet, so muß er als einzige Richtschnur die Entscheidungen der Partei ablehnen. Das eigene persönliche Denken scheint allmählich in den Vordergrund zu rücken. In der Sowjet

union dauert dies etwas länger, weil ja schließlich seit Jahrhunderten in politischen Fragen kein einfacher russischer Bürger selbst denken durfte. In den früheren Satellitenstaaten Osteuropas aber geht der Prozeß etwas schneller vonstatten, denn hier — ganz besonders in der Tschechoslowakei — kann man auf frühere Vorbilder und alte Traditionen zurückgreifen. Gerade das Auseinanderklaffen im Rhythmus zwischen Moskau und Prag führte letzten Endes zur Spannung und zu ihrer Entladung.

Die europäische Sicherheit

Es sind nicht nur die „konservativen“ Sowjetkräfte, die dem Abenteuer der Warschauer-Pakt-Staaten Verständnis entgegenbringen. Die jungen sowjetischen „Progressisten" sind einfach vorläufig erst zum halben Schritt fähig und schrecken vor dem zweiten und entscheidenden zurück. „Ich bange sogar um die europäische Sicherheit“, gestand ein so

wjetischer Rundfunkmann, „denn der Einmarsch in die CSSR hat das Kräfteverhältnis verschoben, was gefährlich werden kann, wenn die NATO etwa nachzuziehen versuchen sollte. Ich glaube aber, unsere Regierung mußte dieses Risiko in Kauf nehmen, um das höhere Ziel, eben die Rettung des internationalen Sozialismus, zu verfolgen.“

Damit ist die Widersprüchlichkeit der Argumentation perfekt, denn der Reporter mußte aus dem Mund eines jungen Landsmannes vernehmen: „Im Gegenteil. Die Staateneinheit des Warschauer Paktes lief Gefahr, die Tschechoslowakei zu verlieren, wodurch das militärische Gleichgewicht gestört und damit die europäische Sicherheit gefährdet gewesen wäre. Ich bin der Meinung, daß unsere Regierung die Gefährdung des internationalen Sozialismus, die durch die militärische Aktion akut wurde, in Kauf nehmen mußte, um die europäische Sicherheit zu wahrem? • ftlpdEnarn

Das also sind die beiden extremen Standpunkte: die militärische Intervention gefährdete den internationalen Sozialismus und garantierte die europäische Sicherheit oder aber sie gefährdete die europäische Sicherheit und hielt den internationalen Sozialismus hoch.

Trotzdem wäre es falsch, daraus den pessimistischen Schluß zu ziehen, die Sowjetunion stelle eine politische Versteinerung dar, die jede Hoffnung auf Entwicklung ausschließe. Audi die sowjetische Jugend ist in einem Aufbruch, nur muß sie ihre ersten Gehversuche auf dem Weg zu Freiheit und Demokratie in der Zwangsjacke des Systems unternehmen, und überdies kann sie sich aus russischer Tradition und Geschichte heraus an keinerlei eigene Leitbilder halten. Diesem Umstand muß man Rechnung tragen. Dann wird wohl der Schluß unvermeidlich sein, daß nicht durdi negatives Verurteilen, sondern nur durch ein Urteil aus den Gegebenheiten heraus die positiven Kräfte gestärkt werden können.

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