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Bitte um den Leninorden

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Der tschechische Exilpolitiker Dr. Bohdan C h u d o b a, ehemaliger Abgeordneter der Volkspartei in der Prager Nationalversammlung bis zum kommunistischen Putsch von 1948, der jetzt an einer Universität in den USA lehrt, hat an den tschechoslowakischen Staatspräsidenten Zapotocky einen Brief gerichtet, in dem er u. a. ausführt:

„Gestatten Sie mir, Herr Präsident, daß ich mich um den Lenin-Orden bewerbe. Bekanntlich wird dieser Orden jenen Leuten verliehen, die eich auf besondere und weitsichtige Art und Weise um das Wohl der UdSSR verdient gemacht und deren Feinde tapfer bekämpft haben. Aus diesem Titel schließe ich, daß der genannte Orden mir erteilt werden sollte und begründe dieses folgendermaßen:

1945, als auch treue und wohlverdiente Bolschewiken sich durch Josef Wissarionowitsch Dschu-gaschwilis (Stalins) vermeintliche Klugheit haben täuschen lassen, veröffentlichte ich in der Prager Zeitschrift .Obzory' eine detaillierte Kritik der sogenannten geschichtlichen und philosophischen Theorien Stalins, wobei ich offen erklärte, daß er kein. Gelehrter noch Staatsmann, sondern ein Mensch bescheidenen Intellektes sei, dem keine ausreichende Bildung zuteil geworden ist, weswegen er mit seinen wirren Auffassungen und namentlich durch seine Unfähigkeit zu kritischem Denken unserer lugend wie auch der Jugend der Sowjetunion verderblich werden könnte. Damals hatten alle, nicht allein die treuen Bolschewiken, sondern auch die Männer anderer Parteien, wie Zenkl, Kipka, Stransky, Häla, Duchäcek, Lettrich, nur Worte der Bewunderung für Stalin. Die Folgen meines Artikels waren damals für mich katastrophal. Ich wurde wiederholt verhaftet, in den Erklärungen des Innenministeriums öffentlich verleumdet und noch in anderer Weise angegriffen, bis mich für einige Zeit die Abgeordnetenimmunität schützte, die ich im Mai 1946 erhalten habe — diese wurde dann ein Jahr lang gern oder ungern noch respektiert. Seit jener Zeit hat sich vieles geändert. Genosse Nikita Chruschtschow hat jetzt in aller Oeffentlichkeit den niedrigen, ja pathologischen Charakter des obenerwähnten Dschu-gaschwili-Stalin geschildert und mir so moralische Satisfaktion gegeben. Ich lese, daß Wosnessenskij und andere Sewjetfunktionäre, die von Stalin umgebracht wurden, wieder in den Enzyklopädien erscheinen, daß ihre Bilder in den Galerien ausgehängt werden. Der 72jährige Bubnow, der jetzt aus dem Gefängnis entlassen wurde, erhielt seine Genugtuung sogar noch nach zwanzig Jahren. Aber Wosnessenskij, Bubnow und die anderen haben nie gewagt, die verderblichen Ansichten und politischen Methoden Stalins öffentlich zu kritisieren. Es fand sich in der ganzen Sowjetunion und in den Satellitenstaaten kein einziger Mensch, der wie ich bereit gewesen wäre, alles für das Wohl des Vaterlandes zu opfern und Stalins teuflische Absichten einer öffentlichen, ja gedruckten Kritik zu unterziehen. Ich bin natürlich unendlich stolz darauf, daß ich bereits vor gut elf Jahren das ausdrücken konnte, was Genosse Chruschtschow jetzt gesagt hat. Aber Sie werden begreifen, Herr Präsident, daß mir dieser Stolz nicht genügt. Man sollte, da ich Tscheche bin, öffentlich darauf hin-hinweisen, daß es ein Tscheche war, der in seiner Weitsicht und Sorge um das Wohl unserer Slawenvölker allen anderen um mehr als ein Jahrzehnt vorausgegangen ist...“

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