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Bitterer Reis in Ostasien

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Am 5. September 1905 wurde zu Ports-mouth im amerikanischen Staate New Hampshire der Vertrag unterzeichnet, der den russisch-japanischen Krieg zum Abschluß brachte. Seine Bestimmungen fanden bei der japanischen Bevölkerung keineswegs die Aufnahme, mit der die Regierung des Tenno geglaubt hatte, rechnen zu können. Die breiten Massen zeigten wenig Verständnis für den hohen Wert dessen, was erreicht worden war

— die Erwerbung Südsachalins und des Flotten-itützpunktes Port Arthur, die unbeschränkte Anerkennung der japanischen Oberhoheit über Korea, und, als wichtigstes, der Rückzug der Russen aus dem eine Million Quadratkilometer großen Gebiet der Mandschurei, die nun japanischen Siedlern und der japanischen Industrie, als unschätzbar reiche Rohstoffbasis, zur Verfügung stand; sie hatten als selbstverständlich angenommen, daß Rußland handfeste Reparationen in barer Münze leisten werde, und mit dem Ausbleiben einer solchen Kriegsentschädigung hielten sie sich für betrogen.

Fünfzig Jahre später sieht das japanische Volk wiederum einem Friedensschluß mit Rußland entgegen, aber freilich mit anderen und weit geringeren Hoffnungen als damals. Die Rollen sind vertauscht. Zwar hat die UdSSR im zweiten Weltkrieg so gut wie nichts zur Niederlage des Inselreiches beigetragen; ihre Kriegserklärung an Tokio erfolgte zu einer Stunde, da man dort längst die Unmöglichkeit erkannt hatte, dem übermächtigen Druck der amerikanischen Streitkräfte weiteren Widerstand zu leisten und entschlossen war, zu kapitulieren. Aber formal steht die Sowjetunion auch Japan gegenüber in der Reihe der Sieger; was allerdings nicht bedeutet, daß sie heute noch in der Lage wäre, über die mehr als üppige Beute hinaus, die ihr in dem 1951 zwischen den Westalliierten und Japan geschlossenen Friedensvertrag von San Franzisko „rechtens“ zugesprochen wurde, gewichtige Forderungen zu stellen. Vielmehr ist es die Gegenseite, die jetzt Forderungen erheben kann, und von einer Position aus, deren Stärke mit einem zuverlässigeren Maßstab zu messen ist, als dem der gegenwärtig verfügbaren militärischen Machtmittel.

Japan hat seit 1945, in diesen zehn Jahren einer unmittelbar nach Kriegsende mutig begonnenen und mit vorbildlicher Ausdauer weitergeführten Aufbauarbeit, einen erstaunlich weiten Weg zurückgelegt. Es hat seine buchstäblich in Ruinen gelegte Wirtschaft nicht nur rekonstruiert und die Produktionskapazität seiner Industrie auf den früheren Stand gebracht, was in Anbetracht der erlittenen Zerstörungen an sich schon eine hervorragende Leistung bedeutet hätte; Neues und Zusätzliches wurde in einem kaum glaublichen Umfang geschaffen, und zwar auch auf Gebieten, wie zum Beispiel dem der optischen Industrie und der Erzeugung bestimmter Spezialmaschinen und Apparaturen, auf denen Japan früher hinsichtlich Qualität eine Konkurrenz mit dem Westen nicht aufnehmen konnte. Dabei ist zu bedenken, daß das rohstoffarme Land durch den Kriegsausgang abgeschnitten war von den Rohstoffquellen auf dem Kontinent, über denen leine Flagge geweht hatte; daß der allergrößte Teil seiner Handelsflotte, einst einer der wichtigsten Devisenbringer, am Tage der Kapitulation auf dem Grunde des Meeres lag; daß am selben Tage nur mehr ein spärlicher Rest seiner Hochöfen und Walzwerke aus den Bombentrümmern ragte. Aber, betrug die japanische Stahlerzeugung noch 1946 knapp 200.000 Tonnen, so hat sie schon acht Jahre später alle früheren Rekorde gebrochen — mit 7,7 Millionen Tonnen — und sie ist weiter im Steigen; die Handelsmarine, die bereits Ende 1953 auf 3,25 Millionen BRT angewachsen war, hat gute Aussicht, wieder, wie vor dem Krieg, nach der USA, Großbritannien und Norwegen den vierten Platz unter den Flotten der seefahrenden Nationen einzunehmen.

Mit einem solchen Aufstieg konnte freilich die Entwicklung des allgemeinen Lebensstandards nicht Schritt halten. Die Lage der breiten Massen hat sich in den letzten Jahren fühlbar gebessert, und im Vergleich zu den übrigen asiatischen Staaten kann sie sogar als günstig bezeichnet werden, aber gemessen an den wachsenden Ansprüchen der Bevölkerung

- von westlichen Vorstellungen gar nicht zu reden — ist sie noch immer äußerst bescheiden und in ihrer Aufwärtsbewegung gehindert durch den Druck einer scharfen Deflationspolitik, die unvermeidlich geworden war, um die notleidende Zahlungsbilanz zu sanieren. Damit erklärt sich zum Teil der zunehmende Erfolg der kommunistischen Propaganda in den Gewerkschaften und namentlich auch unter der Hochschuljugend; er macht sich zwar nicht in einem Steigen der kommunistischen Wählerzahl bemerkbar — die KPJ ist im Parlament nur durch zwei Abgeordnete vertreten —, wohl aber in dem starken Zulauf, den die beiden besonders in ihrer außenpolitischen Zielsetzung den Kommunisten nahe verwandten sozialistischen Parteien bei den letzten Wahlen, im Februar d. J., zu verzeichnen hatten; zusammen verfügen sie jetzt über 156 von insgesamt 467 parlamentarischen Sitzen, sind also nicht auf die Unterstützung der Kommunisten oder sonstiger Splittergruppen angewiesen, um Anträge der 297 Abgeordnete umfassenden und meist gemeinsam operierenden demokratisch-liberalen Mehrheit zu blockieren, soferne zu deren Gesetzwerdung eine Zweidrittelmajorität erforderlich wäre. Die tiefere Ursache der Empfänglichkeit weiter Kreise für radikale Parolen liegt freilich auf einem anderen Gebiet. Mit der von den Amerikanern erzwungenen Zerschlagung der altjapanischen Gesellschaftsstruktur feudalistisch-patriarchalischen Charakters ist ein geistiges und sittliches Vakuum entstanden, welchem die Einführung eines Erziehungssystems und einer Verfassung westlich-demokratischer Prägung nicht sozusagen über Nacht einen befriedigenden neuen Inhalt geben konnte. Organisch gewachsene, auf einer | Tradition von fünfzehn Jahrhunderten beruhende Bindungen wurden gelockert oder zerstört, um Raum für eine Freiheit zu schaffen, die vielen der jüngeren Generation gleichbedeutend schien mit einem Recht auf Zügellosigkeit. Die erschreckende Zunahme der Jugendkriminalität war eine der Folgen; eine andere, in der politischen Sphäre, die Entwicklung extremistischer Strömungen, die sich übrigens auf der Rechten noch deutlicher abzeichnen als auf der Linken. Daher das merklich dringender werdende Verlangen nach einer gründlichen Revision der von der Besatzungsmacht oktroyierten Verfassung. Die unzweifelhafte Mehrheit des Volkes — und dem wird schließlich auch die sozialistische Opposition Rechnung tragen müssen — will die Rückkehr zu den althergebrachten Auffassungen und Institutionen, unter Beibehaltung nur jener Einführungen der Okkupationszeit und jener Eigenheiten des „American way of life“, die sich als nützlich und fortschrittlich im rechten Sinn erwiesen haben. Wie diese Auslese vor sich gehen wird, ist ungewiß, aber eines ist sicher: Japan hat sein Selbstbewußtsein wiedergewonnen und die Zuversicht, daß es ihm bestimmt ist, über kurz oder lang an der Spitze der asiatischen Nationen neuerdings seinen Platz unter den Großmächten ersten Ranges einzunehmen.

Diese Zuversicht hat nichts mit einem Wiederaufleben militärisch-imperialistischer Aspirationen zu tun. Sie beruht vielmehr auf einem unerschütterlichen Glauben an eine Expansionsfähigkeit der japanischen Wirtschaft, die hinlangen müßte, um die erste Voraussetzung und Grundlage einer Großmachtstellung zu schaffen — einen weltpolitisch bedeutsamen Grad industrieller und handelspolitischer Stärke, verbunden mit einer den heutigen Erfordernissen entsprechenden Prosperität im Inneren. Propagiert die Linke, zur Erreichung dieser Zunächstziele, eine mehr oder weniger begrenzte Annäherung an den Block kommunistischer Staaten, und die Rechte, ebenfalls nicht vorbehaltlos, eine womöglich verstärkte Anlehnung an den Westen, so gibt es doch nur einen außenpolitischen Kurs, der, über alle Parteigegensätze hinweg, im eigentlichen Sinne des Wortes populär ist; ein Kurs, der Japans Unabhängigkeit sichert, ohne auf Neutralität — ein fast allen japanischen Führern umsympathischer Begriff — festgeigt zu sein, und dem Lande die Möglichkeit offen läßt, seine Differenzen mit Mächten des einen Lagers durch bilaterale Uebereinkommen zu regeln, ohne sich damit die Gegnerschaft des anderen zuzuziehen. Es ist das eine Politik, deren konsequente Verfolgung geradezu seiltänzerische Geschicklichkeit erfordert, aber der Zwang der Umstände ließ kaum eine andere Wahl. Das heutige Japan umfaßt knapp 370.000 Quadratkilometer, die nur zu höchstens einem Sechstel landwirtschaftlich — für Reisanbau — nutzbar sind und trotz intensivster Bearbeitung nicht hinlangen können, eine Bevölkerung von jetzt schon nahezu 90 Millionen Menschen zu ernähren. Es gilt also vor allem, den Lebensraum dieser dichtgedrängten Massen zu erweitern; durch Landerwerb, soweit das auf friedlichem Wege erreichbar sein könnte; durch rastlose Bemühungen um die Bereitwilligkeit fremder Staaten — hier kommt fast nur Südamerika in Frage — japanische Auswanderer aufzunehmen; und, als das Entscheidende, durch Wahrnehmung jeder Chance, so geringfügig sie sein mag, den japanischen Außenhandel zu erhöhen und zu intensivieren.

Unter diesen Gesichtspunkten ist die japanische Regierung vor drei Monaten in die von Moskau angeregten Friedensverhandlungen eingetreten. Sie verlangt die Rückstellung der noch in sowjetischen Händen befindlichen Kriegsgefangenen, deren Zahl sich auf mehr als 10.000 Mann belaufen dürfte — etwa das Zehnfache der von Moskau offiziell angegebenen Ziffer; sie verlangt die Rückgabe von Südsachalin und den Kurilen sowie der zum ältesten japanischen Besitz gehörenden Inseln Shikotan und Habomai, auf denen angeblich durch das „Versehen“ eines sowjetischen Admirals die sowjetische Flagge gehißt worden ist; ferner, und das ist für die japanische Ernährungslage besonders wichtig, die Wiederherstellung japanischer Fischereirechte in nördlichen Gewässern; und schließlich gewisse Handelserleichterungen und die Aufgabe des sowjetischen Widerstands gegen die Aufnahme Japans in die Vereinten Nationen.

Von einem konkreten Ergebnis dieser seit Ende Mai in London geführten Verhandlungen wurde bis zur Stunde nichts bekannt, und es ist noch nicht abzusehen, wie Moskau sich am Ende zu den einzelnen japanischen Postulaten stellen wird. Man wird aber dort nicht außer-acht lassen können, daß es den Japanern gelungen ist, trotz ihrer fortdauernden Nichtanerkennung des Regimes Mao tse-Tung, ein für sie vorteilhaftes Abkommen über Fischereirechte in der ostchinesischen See abzuschließen und daß ein bereits im Vorjahr wirksam gewordener Handelsvertrag, der einen japanischchinesischen Warenaustausch im Wert von je 85 Millionen Dollar vorsah, kürzlich erneuert wurde. Das sind Tatsachen, die Moskaus stets auf lange Sicht eingestellte Politik auch Japan gegenüber beeinflussen müssen. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann der ungeheure Bevölkerungsdruck Chinas, der sich Jahr für Jahr durch einen Geburtenüberschuß von zwanzig Millionen verstärkt, beginnen wird, sich gegen Norden, gegen die menschenleeren Räume Russisch-Zentralasiens und Sibiriens Luft zu machen. Es ist aber keine Frage, daß es dann, wenn dieser Zeitpunkt gekommen ist, von entscheidender Bedeutung werden kann, ob sich die UdSSR, durch ihre Intransigenz in verhältnismäßig geringfügigen Punkten, auch Japans aktive Gegnerschaft zugezogen hat.

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