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Bizonia

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Du große Problem, das oft ausgesprochen, oft aber auch als stummer Gast an den Konferenztischen über den Beistandspakten und Freundschaftsverträgen steht, ist Deutschland. Es gibt kaum eine der hochpolitischen und wirtschaftlichen Fragen, die sich mit der Zukunft Europas, seiner ökonomischen Wiederaufrichtung und der Herstellung des Friedens beschäftigen, 'die nicht irgendwie mit der andern, der heute wichtigsten Frage zusammenhängen würde: wie kann man dem im Augenblick toten Mittelstück unseres Kontinents wieder Leben einhauchen? Dabei ist dieses Mittelstück Europas heute gar kein Staat mehr.

Von vier Seiten waren die Sieger in ein Land einmarschiert, dessen Grenzen die gestürzten Madith abern bis zur Unkenntlichkeit verschoben hatten. Nun besetzten die Sieger Städte und Provinzen, und als sie sich an den Demarkationslinien trafen, erkannten sie, daß an die Stelle Deutschlands Zonen getreten waren, denen man — bewußt oder unbewußt — die staatliche Einheit wegamputiert hatte. Man hatte die Absicht gehabt, das militärische Deutschland zu zerstören und für die Zukunft unmöglich zu machen und hatte dabei weit mehr zerbrochen, vor allem die Wirtschaft. Die Russen waren die ersten, die aus dem Geschehenen in wohlberechnender Politik ihre Folgerungen zogen Der Westen änderte viel später seine Taktik. Erst als es klar wurde, daß eine Annäherung zwischen den Absichten des Ostens und des Westen';, wenn sie überhaupt erfolge, geraume Zeit in Anspruch nehmen würde, beschloß man im englischen und amerikanischen Lager, selbständig zu handeln. Nach zwei Jahren Besetzung, in denen das westdeutsche Industriepotential durch den Abtransport von Maschinen, Reparationen und Stillegung von Werken schwer beschädigt worden und viel geschehen war, demoralisierten Menschen den letzten Rest von Arbeitsfreude zu nehmen, entschlossen sich die beiden angelsächsischen Besatzungsmächte, ihre Zonen zusammenzulegen, um wenigstens in diesem Torso eine einheitliche Führung wirtschaftlicher und politischer Art zu ermöglichen.

Zugleich ging ein guter Teil der wirtschaftlichen Aufgaben an deutsche Behörden über. Die französische Zone hatte sich dem Plane einer Zusammenfassung nicht angeschlossen, nicht etwa, weil die Franzosen über die Vorteile eines im Herzen Europas funktionierenden Wirtschaftsorganismus im Zweifel gewesen wären, sondern weil auf ihnen die Vorstellung einer künftig noch möglichen deutschen Aggression wie ein Alpdruck lastet und sie in Ruhrkohle und Ruhrstahl immer noch die Gefahren einer deutschen Wiederaufrüstung verborgen sehen. Es war für sie ein Schlag, daß die USA beabsichtigen, die neuen vereinten Zonen als Partner in den Marshall-Plan eintreten zu lassen.

So ist jetzt ein namenloses Gebilde auf leutschem Boden entstanden, das man ,Bizonia“ nennen könnte, um schon durch den Namen das Künstliche seines Wesens KV bezeichnen. Hier erfährt man es/ wieder: es ist leichter, eine Maschine zu zerlegen, als sie wieder zusammenzusetzen. Der mit großem Schwung und hohen Hoffnungen begonnene Aufbau der neuen Ge-bietsgemein schaft begegnet allen Schwerfälligkeiten eines Kompromisses zwischen der englischen und amerikanischen Planung. Neben den beiden Militärregierungen, den höchsten Autoritäten, arbeiten acht Landesregierungen, der Wirtschaftsrat, das Exeku-tivkomitdie Direktoren der Zweizonen-departer fs und die Arbeitsausschüsse. Von den acht Ländern stehen vier unter sozialdemokratischen Regierungen, ■ zwei unter christlich-demokratischen und zwei unter Koalitionsregierungen dieser Parteien. Der Wirtschaftsrat wird fast ausschließlich von den christlichen Demokraten gelenkt, im Exekutivkomitee, das auf Länderbasis ausgewählt wurde, sind die Sozialdemokraten führend. Bei den Zweizonendepartements überwiegt in der Führung das christlichdemokratische Element, bei den Arbeitsausschüssen das der Sozialdemokraten. In dieser auf rein parteipolitischen Gleichgewichtsgrundsätzen aufgebauten Ordnung liegt die große Gefahr einer Verzahnung. Zu der Mehrgeleisigkeit der Verwaltung gesellt sich noch ein Mangel an wirklichen Führerpersönlichkeiten. Wenige der in der Aktion stehenden Männer überragen den Durchschnitt.

Als der Wirtschaftsausschuß von Bizonia in der großen Halle in Frankfurt am Main, die mit den schwarzrotgoldenen Farben der alten Weimarer Republik ausgeschmückt war, seine erste Sitzung abhielt, stand es fest, daß seit der Hitlerzeit noch niemals so viel Macht und selbständige Verantwortung in die Hände eines so kleinen Forums gelegt worden war. Es war also nicht die Einflußlosigkeit dieser Beauftragten, sondern nicht zuletzt dem Mangel an Initiative und wirklichem Genie zuzuschreiben, daß auf der neuen Konstruktion Enttäuschungen schatteten. Wohin will man hinaus? Das begehrte Ziel ist nur ganz verschwommen bekannt. Vorläufig schwanken die westlichen Alliierten noch zwischen Feuer und Wasser, zwischen der Einhaltung der in Potsdam feierlich festgelegten Linie, das deutsche Wirtschaftspotential auf ein Mindestmaß herabzusetzen und aus Deutschland einen Agrarstaat zu machen, und der nicht nur deutschem Interesse entsprechenden Notwendigkeit, die westdeutsche Industrie unter allen Umständen in einen großzügigen Wiederaufbauplan für Europa einzugliedern. Der bei den Verhandlungen um den Marshall-Plan in Paris anwesende Schweizer Delegierte kleidete dieses Problem — wie die amerikanische Wochenschrift „Time“ berichtet — in folgende Worte: „Wir haben gefunden, daß das Land A etwas braucht, was ihm nur das Land B liefern kann, unter der Voraussetzung, daß B etwas vom Land C bekommen kann, was dieses wieder nur herstellen kann, wenn ein bestimmtes Material vom Staate D geliefert wird. Und D kann das natürlich herstellen unter der Voraussetzung, daß es von — Deutschland, beziehungsweise von der Ruhr etwas geliefert bekommt. Was immer für ein Erzeugnis wir beraten, am Ende rennen wir gegen einen Steinwall — Deutschland!“ Fabriken, die schon zum Abtransport vorgesehen waren, laufen wieder an. Den streikenden Minenarbeitern im Ruhrkohlenbecken werden zusätzlich in den nächsten sechzehn Wochen 120.000 Kalo-r'en zugestanden. Und demjenigen Stollen, der am besten arbeitet, wird noch zusätzlich für Arbeiter und Angestellte je ein Carepaket versprochen. Der Versuch, die Ruhrstahlproduktion von sechs auf zwölf Millionen Tonnen zu erhöhen, scheiterte an den Franzosen. Die „HumanW, das' kommunistische Hauptorgan Frankreichs, antwortete auf den Vorschlag einer Produktionserhöhung im Ruhrgebiet mit der Überschrift: „Und wieder zittern die französischen Mütter.“ So wechselt an den Konferenztischen die Vorstellung eines karthagischen Friedens mit einem nichtexistieren-den Staat und der Versuch, für den Wiederaufbau ein Volk anzuspornen, das noch gar nicht weiß, in welchen Grenzen und inwieweit es überhaupt je wieder einen gemeinsamen Staatsorganismus bilden kann. Ganz leise klingt aber durch die Säle, in denen die Auseinandersetzing über das zukünftige Schicksal der Welt sich vollziehen soll, eine schwermütige Melodie um die begrabenen Hoffnungen der Nachkriegszeit.

Darüber ist sich die Welt klar: die traditionelle politische und wirtschaftliche Struktur des Deutschen Reiches ist für immer dahin. Und wenn ein Referent des „News Chronicle“ schreibt: „Heute erwartet Deutschland einen grimmigen Winter, eine formlose Zukunft und eine nutzlose Gegenwart. Von Osten und Westen wird es gestoßen, demokratisch zu werden, hart zu arbeiten, aber nicht sich zu beklagen, Gewerkschaften zu gründen, aber nicht zu streiken. Getreten und herumgezerrt, wird es täglich mehr und mehr der Depression überantwortet, aber gleichzeitig täglich mehr und mehr gefährlich für den wirtschaftlichen Frieden der Welt“, so ist dies wahrscheinlich ein zu düsteres, sicher aber auch in den angelsächsischen Ländern sehr weitverbreitetes Urteil.

Müßig ist ein Rätselraten, was weiter geschehen wird. Denn wenn auch die deutsche Frage wohl das gewichtigste Objekt im Kampf um die Wiederherstellung des Friedens ist, so können doch ganz abseits liegende Geschehnisse große Wirkungen auslösen. Und wenn die Angelsachsen von einem Separatfrieden mit Deutschland reden, so meinen sie nur die „Ultima ratio“ einer augenblicklich ausweglosen Situation. So marschiert denn ein Volk von 67 Millionen, derzeit führerlos und zerspalten und noch immer unter der Schockwirkung der vorhergegangenen zehn Jahre stehend, einen Weg ohne Ziel. Und es erwartet sich irgendeinen Anhaltspunkt, um die Politik der Sieger zu verstehen. Vielleicht kennen auch die leitenden Männer der Welt dieses Ziel. Aber sie haben es bisher niemandem verraten.

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