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Blau gegen Rot

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ALLENTSTEIG 6 KILOMETER. Der Wegweiser an der Abzweigung weist gegen Süden. Der Autobus verläßt den Asphalt der über Gmünd -nach Prag führenden Bundesstraße und vermindert seine Geschwindigkeit. Bald taucht er in dichten Wäldern unter. Herb ist hier, im Herzen des niederösterreichischen Waldviertels, die Landschaft. Herb, aber nicht ohne Reize. Die dreitausend Soldaten des österreichischen Bundesheeres, die hier seit achtundvierzig Stunden bereits im ersten großen Manöver liegen, dürften freilich wenig Sinn für die besondere Eigenart der Gegend entfalten. Ihre Offiziere sprechen — so sie mit besonderer Vorliebe für historische Vergleiche belastet sind — von dem „neuösterreichischen Galizien“. Ohne Zweifel: das kleine Städtchen Allentsteig ist „Zivilisationsgrenze". Hier hört auch der Rest vom mitteleuropäischen Straßennetz auf. Die Grenze des Truppenübungsplatzes, der von dem längst von der Landkarte verschwundenen Dorf Döl- lersheim seinen Namen hat, ist bald erreicht. Dichte Staubfahnen der fahrenden Kolonne markieren seinen Beginn.

DÖLLERSHE1M: DER NAME WECKT ERINNERUNGEN. Zehntausende von Soldaten haben diesen Fleck in den letzten zwanzig Jahren passiert. Zuerst jene in den steingrünen Uniformen der Deutschen Wehrmacht, dann solche im Lehmgelb der Sowjetarmee. Wie viele Tausende gingen von Döllersheim ab, ohne je wiederzukehren? Ein Obelisk mit dem roten Stern erinnert daran, daß auch für manche Russen Döllersheim die letzte Garnison auf dieser Welt gewesen ist. Diese düsteren Schatten zu verscheuchen, gelingt selbst der steigenden Sommersonne nur schwer.

HINEIN IN DAS SPERRGEBIET! Unser Postautobus macht nicht lange mit. Umsteigen auf Heereslastwagen. Ein Kollege wird von Erinnerungen überwältigt. Will unbedingt „O du schöner Westerwald. ..“ singen, findet aber für diesen Kantus wenig Gegenliebe und gibt daher sein Solo bald auf. Die Löcher der durch die Ruinen dės Dorfes Schlagles führenden Straße tun ein übriges. In den Jungwäldern zur Linken und zur Rechten herrscht mitunter verdächtige Bewegung. Einmal taucht aus einem Graben ein getarnter Stahlhelm .auf. Kein Zweifel: wir nähern uns der „Front".

AUF DER HÖHE 605 herrscht Bewegung. Ein verfallener großer Bunker „im Niemandsland" erlaubt eine Uebersicht über das ganze Gelände. Er ist deshalb nicht nur Treffpunkt aller Schlachtenbummler, sondern auch natürlicher Standort der Manöverleitung. Der Leiter der Grenzschutzabteilung im Landesverteidigungsministerium, Oberstleutnant L e e b, übernimmt die strategische Betreuung der Presse. In der Linie Waidhofen—Zwettl—Ottenschlag ist eine imaginäre Staatsgrenze angenommen. Diese wurde vom Westen von einer „roten Partei" überschritten. Zur Abwehr dieses Angriffs wurde daraufhin die als „blaue Partei“ auftretende 3. Brigade des Bundesheeres, das sind die gesamten in Niederösterreich stationierten truppen, mobilisiert. Am 17. Juni konnten sie den bereits bis Horn vorgedrungenen Angreifer stellen, am 18. gelang es, ihn bis zum Ostrand des Uebungsplatzes zurückzudrängen. Heute, am 19. Juni, 10 Uhr, soll mit Unterstützung aller Waffen der Gegenangriff angetreten, der Gegner über die „Staatsgrenze" zurückgeworfen werden. Hauptzweck der Uebung sei eine erste Erprobung des Zusammenspiels det verschiedenen Einheiten und Waffen in einem größeren Verband. Blau gegen Rot: international eingeführt sind wohl diese militärischen Parteien, wo immer Soldaten ins Manöver ziehen. Trotzdem blieb es nicht unbemerkt, daß man an verantwortlicher Seite wohl darauf geachtet hat, keine weltpolitischen Farbassoziationen aufkommen zu lassen. Wohl-

gemerkt: die angreifende „rote Partei" war vom

Westen gekommen ...

19. JUNI, io UHR: BLAU IST ZUM GEGENANGRIFF ANGETRETEN. Zunächst ist es nur ein Scheinangriff der Infanterie auf dem linken Flügel. Die obligaten Rauchtöpfe knallen zwar hier und da, Artillerieunterstützung ,'ymboli-

sierend. Das Bild ist aber noch weitgehend friedlich. Die Waldvögel lassen sich in ihrem Gesang nicht stören. Sie sind in dieser Gegend schon größeren Kummer gewöhnt. Da: die Szene belebt sich. Das Zentrum geht zum entscheidenden Stoß vor. Dumpfes Rollen ist von dem unserem Standort gegenüberliegenden Waldrand zu vernehmen. Aus ihrer einwandfreien Dek- kung brechen Panzer hervor. Der wuchtige russische T 34 übt neben seiner Kampfkraft noch immer die psychologische Wirkung von Hanni- bals Elefanten. Sein amerikanischer „Kollege“ M 24 hat dafür größere Wendigkeit für sich. Der Gesang der Vögel ist verstummt. Dafür sind andere Vögel in der Luft. Die „blaue Partei“ hat Fliegerunterstützung angefordert und bekommen. Die blauen Jagdbomber fliegen die rote Front entlang. Besonderes Vergnügen- macht es ihnen, vor dem „Feldherrnhügel“, auf dem auch der Bundesminister "für Landesverteidigung sowie die Militärattaches der Großen Vier Posten bezogen haben, auf vierzig Meter herunterzugehen und über die Köpfe hinwegzuorgeln. Dreizehn Jahre sind zu wenig, um über dem militärischen Uebungsspiel den tödlichen Ernst ähnlicher Situationen vergessen zu lassen ... Inzwischen sind die Panzer auf unsere Höhe herangerückt. Die Soldaten der Infanterieschule folgen. Schieß du, ich spring... Was ist los, Freunde? Tatsächlich: man hat euch ins sommerliche Gefecht zwar im Hemd, aber mit salonmäßig geknüpfter Krawatte geschickt. Ich glaube, unsere Großväter haben in solcher Situation sich selbst den heute gern belächelten Stehkragen aufgeknöpft. Vernunft wird Unsinn. Wohltat Plage ...

EIN BLICK AUF DIE VIER MILITÄRATTACHES. Er lohnt sich. Da ist zunächst ein wohlgefälliger Blick, sobald Waffen zum Einsatz kommen, die jeweils aus den Arsenalen ihrer Armeen stammen. Ansonsten aber hätte ein Schönpflug an ihnen seine helle Freude gehabt: Jeder der in Wien als Militärattache akkreditierten Offiziere verkörpert den Typus des Offiziers seines Landes — wie man sich ihn vorzustellen beliebt. Von untersetzter gedrungener Statur ist Oberst Makowskij, der sich in der neuen, petrolfarbenen Galauniform russischer Stabsoffiziere vorstellt und mit Interesse den Verlauf der Manöver verfolgt. Mit aufgezwirbeltem Schnurrbart steht sein englischer Kollege, Oberst Packard, neben ihm — jeder Zoll ein würdiger Repräsentant Old-Englands. Ganz anders der Militärattache der USA, Oberst S1 o o n. In seinem, aus den Erfahrungen des Koreafeldzuges hervorgegangenen „Battledreß“ wirkt er wie das leibhaftige technische 20. Jahrhundert. Auf Komplimente eingestellt ist Frankreichs militärischer Vertreter in Wien, Oberstleutnant H u m m. Aus seinem Munde fällt auch das höflich-anerkennende Wort vom „Esprit" des neu-österreichischen Soldaten, das bald die Runde macht.

ABBLASEN! Dem Kommando folgt das klassische Trompetensignal — beliebt wie kaum ein zweites bei vielen Generationen österreichischer Soldaten. Die Truppen rücken ein, und auch die Presse versammelt sich um die Feldküche. Hier ist Oberstleutnant Bild ein vorzüglicher Gastgeber. Der Kommandant des Truppenübungsplatzes kümmert sich um das leibliche Wohl seiner Gäste. Ein robuster Photoreporter, den der Oberstleutnant — in sommerlichem Hemd, nur durch einenbreiten, und. zwei -4 schmale goldene', Winkel mit Kokarde am Arm erkennbar — soeben persönlich kulinarisch versorgt hat, klopft ihm jovial auf die Schulter: er sei auch, damals bei den Preußen, Obergefreiter gewesen... Zum Rindsbraten und zum Schwechater Bier spielt eine kleine Jazzband der Kremser Feldjäger die neuesten Schlager. Lautstark und mit Schwung. Die Probe aufs Exempel, ob sie außer dem letzten Blue auch den Radetzky-Marsch spielen können, gelingt zur Zufriedenheit. Der Leiter der wehrpolitischen Abteilung im Landesverteidigungsministerium, Dr. Kolb, strahlt. Er glaubt, wieder einmal seinen Leibspruch „Verbindung von Tradition und Moderne“ akustisch bestätigt gefunden zu haben.

DIE LEHREN DES ERSTEN GROSSEN MANÖVERS werden ausgewertet. Freimütig erklärt Oberstleutnant Leeb, daß aus den Erfahrungen dieser ersten Uebungen gemischter Verbände vor allem die Führung zu lernen haben werde. Ein Ueberblick über das militärische Soll und Haben könne aber erst gewonnen werden, wenn die Schiedsrichter ihre Beobachtungen sorgfältig ausgewertet hätten. Eines könne aber schon heute gesagt werden: Die Frage der Dienstzeit, vor allem bei den technischen Truppen, werde eines Tages erneut zur Diskussion gestellt werden müssen. Funker im Zeitlupentempo zum Beispiel seien einmal keine Attraktion für eine kleine, nicht gerade reiche Armee, die ihre Mängel vor allem durch Schnelligkeit ausgleichen müsse.

DIE KAPELLE DES HORNER FELDJÄGER- BAONS bläst sich durch beinahe zwei Stunden die Kehlen heiser. Die abrückenden Truppen defilieren noch einmal, bevor die einzelnen Kolonnen Kurs in ihre Garnisonen nehmen. Freundliche Grüße der Bevölkerung begleiten sie in allen Dörfern und Städten. Sie gelten jenen jungen österreichischen Soldaten, denen das Schicksal ihrer Väter und älteren Brüder erspart werden soll: in fremder Uniform für fremde Interessen in fremden Ländern einen bitteren Opfergang anzutreten.

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