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Blick durch die Latten

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DER ABEND KOMMT SCHNELL in diesen kurzen Herbsttagen. Die Sonne sank blutrot hinter dem Gschaidt und dem Masenberg. Als wir in Hartberg vor dem romanischen Karner standen, mußte man bereits Scheinwerfer zum Ausleuchten der Architektur nehmen. Neben der Stadtpfarrkirche Zum heiligen Martin sind eben neue Ausgrabungen im Gange. Auch der Karner selbst ist Gegenstand von Forschungen. Sie werden unter anderem die Frage nach der ursprünglichen Verwendung des Bauwerkes beantworten, in dem man eine Taufkapelle vermutet. Wenn man heute durch Hartberg kommt, kann man kaum glauben, wie sehr die Stadt durch die Kriegshandlungen gelitten hat. Noch immer zählt man den Bezirk Hartberg, der nur durch den Bezirk Oberwart von der ungarischen Grenze getrennt ist, zu den förderungswürdigen Bezirken der Steiermark.

AUCH DER BEZIRK FELDBACH, südlich von Fürstenfeld, gehört zu den förderungsbedürftigen Gebieten. Es handelt sich hier um 85 Gemeinden mit 62.679 Einwohnern. Von den 37.973 Berufstätigen ist, wie uns Bezirkshauptmann Dr. Niederl erklärt, die weitaus größte Zahl — mehr als 30.000 — in der Landwirtschaft beschäftigt. 4627 Betriebe dieser Art haben eine Größe bis fünf Hektar. Durch die Kriegsereignisse wurden 300 Gehöfte zerstört und 1100 beschädigt. Die Industrie beschränkt sich auf zwei Unternehmungen, die jedes für sich nicht mehr als 250 Menschen beschäftigen. Es herrscht nicht nur Land-, sondern auch Gebietsflucht. Aus dem Bezirk Feldbach sind von 1900 verzeichneten Baufacharbeitern und Bauhilfsarbeitern 600 abgewandert; von 100 unselbständigen Berufstätigen sind sechsunddreißig außerhalb der Wohngemeinde beschäftigt. Im Jahre 1957 wurden 17g2, im Jahre 1960 durchschnittlich 1911 Arbeitslose verzeichnet: Für das konjunkturfreudige Österreich eine ernste Mahnung! Der Bürgermeister von Fehring, Ing. Eberhard, hat mir gesagt, daß im Gegensatz zur durchschnittlichen Verschuldungszahl von 98 Schilling im Bundesgebiet die bezügliche Zahl in Fehring zweitausend Schilling lautet. Einer durchschnittlichen Geldflüssigkeit von 1020 Schilling je Kopf der Bundesbevölkerung steht eine Geldflüssigkeit von 293 Schilling in Fehring gegenüber. Die Kopfquote an Steuereinkommen beträgt in 75 Gemeinden unter 378 Schilling. 30 Prozent der Gemeinden besitzen noch keine Telephonanschlüsse, zwölf der Betriebe haben noch keinen Stromanschluß. Die Bundesstraßen sind zu mindestens 75 Prozent ausbauwürdig. Was den Eisenbahnverkehr anlangt, genügt es. die Tatsache zu erwähnen, daß der Bahnhof Fe!i-ring als letzter der zerstörten in Österreich wiederaufgebaut wurde — und das erst nach Interventionen aller Art.

VON FEHRING SÜDWÄRTS fahren wir die Straße zur Burg Kapfenstein. Im milden Sonnenlicht des Spätherbstes dämmern die Wellen des oststeirischen Hügellandes. Die Straße verläuft immer südwärts und nähert sich immer mehr der Grenze — bei Klöch sind es dorthin kaum mehr als 400 Schritte. Für längeres Schauen durch die Latten des Zaunes ist keine Zeit. Ja, es gibt sogar auf dem weiteren Weg ein Stück, das durch fremdes Staatsgebiet geht — erst kürzlich ist auf österreichischem Boden die Umfahrungsstraße fertiggeworden -, jenes seltsame alte Wegstück, an dessen Beginn eine Tafel sowohl das Anhalten als auch das Aussteigen verbietet. Wir sind es gefahren. Wir sahen drüben die gleichen Haselbüsche und Weidenkronen wie hüben, das gleiche Flammen des Ahorns über grünen Wiesen — aber dazwischen lag und liegt Gefahr. Oben auf der neuen Abkürzungsstrecke, also auf Österreichischem Boden, ist inzwischen der Wagen der Gendarmerie gefahren, der uns seit Kirchberg begleitet.

AUF DIE BRÜCKE ÜBER DIE MUR bei Rad-kersburg hat man einen rotweißroten Streifen gemalt. Keine Fleißarbeit, sondern eine nützliche Hilfe in solchen Fällen, wo man von drüben in allzu eifrigem Tempo einem Flüchtling nachsetzt. Der Verkehr ist gering Eben werden zwei schwarzgekleidete Frauen und ein Mann mit Kirchhofkränzen von der Zollwache abgefertigt. „Zu Allerheiligen sollten Sie hier sein“, sagt der Gendarm, der neben mir auf dem Grenzstreifen steht. „Ja, da herrscht Leben — aber Leben für die Toten. Viele von hier haben Angehörige drüben begraben.“ Die im letzten Krieg schwer getroffene Stadt — von 321 Häusern blieben nur vier unbeschädigt, von den 1900 Einwohnern waren nur 467 übrig — sieht sich, wie der gesamte Bezirk Radkersburg mit seinen 73 Ortsgemeinden und 28.000 Einwohnern, als nahezu ausschließlicher Agrarbezirk vor einem weitaus geringeren Lebensstandard als andere Gebiete Österreichs. 66 Prozent aller Landwirtschaften haben eine Größe von weniger als fünf Hektar. 75 Prozent der Gewerbebetriebe sind überhaupt wieder nur in Verbindung mit der Landwirtschaft lebensfähig. Der Bezirkshauptmann Dr. Liebenwein meint daher, eine Gründung von kleinen und mittleren Industriebetrieben, für welche die schwierige Verkehrslage keine ausschlaggebende Rolle spielt, könnte der Entvölkerung entgegenwirken. Was für Radkersburg gilt, das trifft auch auf den Markt Mureck zu. Dort hat man, wie mir im Bürgermeisteramt gesagt wurde, am 1. Juni 1951 noch 2140 Einwohner gezählt; am 10. Oktober 1959 waren es nur noch 1915. Die Probleme für Radkersburg und Mureck können aus eigener Kraft der Gemeinden — obzwar diese Großartiges an Aufbau geleistet haben — nicht gemeistert werden. Das wird uns sogleich klar, wenn wir hören, daß das Gewerbesteueraufkommen in Mureck im Jahr 358.000 Schilling beträgt, ein projektierter Kindergarten fast das Doppelte kosten würde.

DAS HERZSTÜCK DES GRENZLANDES ist wohl der Bezirk Leibnitz, mit seinen 70.000 Einwohnern der dichtest, besiedelte der Steiermark (102 Menschen je €Ma€ratKJlctteter).''Wii- smd durch den ausgesprochen agrarisch ausgerichteten Bezirk gefahren, der übrigens der größte Weinproduzent der Steiermark ist: 75 Prozent des steirischen Weines kommen aus diesem Gebiet. Eine achtbare Persönlichkeit in Wien hat allerdings gelegentlich einer Vorsprache gemeint, der steirische Wein käme doch aus Jugoslawien. Nun, der regsame Bezirkshauptmann Dr. Heinz Pammer wäre gerne bereit, solchen und anderen mangelhaft Unterrichteten Nachhilfestunden entlang der Weinstraße zu geben, wenn nötig, mit Kostproben.

Der beträchtlichen Abwanderung (im Jahre 1958 standen im Bezirk Leibnitz noch 340 Objekte verlassen da) wird mehrfach tatkräftig entgegengewirkt: Zunächst durch die Verkehrsaufschließung. Seit 1945 wurden 250 Kilometer Gemeinde- und Güterwege ausgebaut; weiter durch die Verbesserung der landwirtschaftlichen Produktion. Man baut Tabak an und hat es im Bereich von Leutschach mit Hopfen sehr erfolgversprechend versucht: Der Gesamthektarertrag von 72.959 Kilogramm Hopfen entspricht immerhin einem Wert von rund drei Millionen Schilling. Hand in Hand mit der verkehrsmäßigen Auf Schließung (85 Prozent der bäuerlichen Besitzungen sind nun erschlossen, und in vielen Fällen ist erst dadurch der Abtransport der Produkte kostendeckend möglich), geht der .Anschluß an das elektrische Energienetz, das nun 90 Prozent der Gehöfte erreicht. Es ist daher doppelt bedauernswert, daß man die wichtige Verkehrsader Wien—Graz—Belgrad so vernachlässigt, ja, daß man sich nicht scheute, das zweite Geleise bis Leibnitz trotz allen Protesten abzumontieren. Vor dem Jahre 1918 haben auf dieser Strecke zwölf Schnellzugpaare Leibnitz passiert, heute sind es zwei.

Auf dem Bildungssektor hat man im Bezirk viel geleistet. Seit 1945 haben die Gemeinden für Schulzwecke 33 Millionen ausgegeben. Es wurden neue Hauptschulen errichtet, zum Beispiel in Leibnitz, Gamlitz und Leutschach. Die mit Beginn des Schuljahres 1958/59 nach Leibnitz gelegte Expositur des 2. Realgymnasiums Graz verzeichnet jetzt in acht Klassen 280 Schüler — ein Beweis, daß darnach Bedarf vorhanden war. Als einziger Bezirk Österreichs verfügt Leibniz über ein Bezirksjugendfürsorgeheim (in Arnfels gebaut), das vier Millionen Schilling gekostet hat. Wir haben dieses Haus genau angeschaut und müssen sagen, daß hier Vorbildliches geleistet wurde. Das Katholische Bildungsheim auf Schloß Seggauberg ist zu einem kulturellen Zentrum internationaler Geltung geworden. Dort haben wir die Worte des Landeshauptmanns Krainer begriffen, der von der „lebendigen Grenze“ sprach und in seinen temperamentvollen Gedankengängen von dem an diesem Abend auf Seggau anwesenden Bischof Dr. Schoiswohl sekundiert wurde. Leider ist entgegen dem Vorschlag der Steiermärkischen Landesregierung für die politischen Bezirke Deutschlandsberg, Leibnitz, Radkersburg, Feldbach, Fürstenfeld und Hartberg sowie die Gerichtsbezirke Gleisdorf und St. Gallen bei der Förderungsaktion 1959 vom Bundesministerium für Finanzen eine abweichende Regelung getroffen worden. Als wirtschaftlich unterentwickelte Gebiete sind darnach nur jene anzusehen, die im Bewertungsfreiheitsgesetz 1957, BGBL. 70, namentlich angeführt sind. Das sind in der Steiermark die Gerichtsbezirke Eibiswald, Arnfels, Leibnitz, Mureck, Radkersburg, Fehring und Fürstenfeld. Die Steiermark hat nach dieser Regelung für 1959 an Bundeszuschuß 6,184.975 Schilling erhalten, was rund dreizehn Prozent des auf fünf Bundesländer aufgeteilten Betrages entspricht. Der Bundesvoranschlag 1960 sieht 50 Millionen für alle Bundesländer vor, also ungefähr ebensoviel wie 1959. Das ist zuwenig. Das zeigt kein großes Verständnis für Grenzlandprobleme. .

AUF DER WEINSTRASSE hügelauf und hügelab. Das ist die sogenannte „neutrale Straße“, die erst vor kurzer Zeit ausgebaut und staubfrei gemacht wurde. Oft gehört die linke Seite des Straßenrandes zu Jugoslawien, die rechte zu Österreich. Oder die Grenze teilt zwei Häuser: das rechte ist österreichisch, das linke, kaum zwanzig Meter entfernt, jugoslawisch. Noch hängen in den Weingärten verspätete Trauben. Noch gehen die Winzer mit ihren Butten hangauf und hangab. Noch gilbt und rötet sich das Reblaub, noch wärmt die Sonne des hohen Mittags. Da kommt ein sachter Wind auf, der jeden Klapotetz zu seinem melancholischen Klapperton anregt. Noch fällt vor aufziehenden Föhnwolken in die Fenster der Krainer-Grenzlandschule von Großwalz ein Streifen Sonnenlicht, und huscht über die Zeichenhefte der zweiten Klasse. Oben in Soboth, der welteinsamen Kanzel der südlichen Steiermark, braust bereits ein Sturm, der die Fichten ungestüm zaust. Lange noch, als wir schon durch Deutschlandsberg und Wies fahren, klingt das „Grüß Gott“ der Kinder in der Grenzlandschule in meinen Ohren, vermischt sich mit dem Sturm über den Höhen. Einige Verszeilen des Werkarztes von Köflach, des Eibiswalder Hans Kloepfer, ziehen durchs Gedächtnis: „Ich kehre heim beim Licht der Sterne aus hohen Wäldern, drin die Nacht nun geht.“

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