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Blitzzug nach Konstantinopel

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Am 5. Juni sind es 85 Jahre her, daß der Orientexpreß zum erstenmal aus der Halle des Pariser Gare de l’Est rollte, um seine Reise quer durch Europa bis nach Konstantinopel anzutreten. Dieser 5. Juni 1883 verdient nicht nur deswegen den Rang eines jubiläumsreifen

Datums, weil mit der Einführung deg Orientexpresses die erste transkontinentale Eisenbahnverbindung geschaffen wurde, sondern vielmehr, weil dieser Luxuszug, nur aus Schlaf- und Speisewagen bestehend, der erste seiner Art in Europa war.

Im Laufe der Zeit wurde der Orientexpreß zu einem markanten Begriff, mit dem sich selbst heute noch die Vorstellung von weltweitem, schnellem und komfortablem Reisen verbindet, obwohl der einstige Glanz schon längst verblichen ist. Nicht nur, daß der Luftverkehr, dessen Netz von Jahr zu Jahr dichter wird, ganz allgemein den Typus des Luxuszuges überhaupt verdrängt hat, haben auch die beiden Weltkriege und die politischen Ereignisse das ihre dazu beigetragen, die Bedeutung und den Nimbus des Orientexpresses zu schmälern. Der Orientexpreß 1968 präsentiert sich daher nicht mehr als Luxuszug, sondern vielmehr als einer der vielen internationalen Schnellzüge, die ohne jeden besonderen Komfort auskommen müssen. In den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts jedoch war die Einführung des schon äußerlich so vornehm wirkenden „Blitzzuges“, wie er damals genannt wurde, mit seinen braunen, teakholzgetäfelten und messingbeschlagenen Waggons nicht nur ein technisches und wirtschaftliches, sondern wegen seiner prominenten Fahrgäste nicht zuletzt auch ein gesellschaftliches Ereignis ersten Ranges.

Die Geschichte der Luxuszüge im allgemeinen und des Orientexpresses im besonderen begann in Amerika, in den Vereinigten Staaten. Dort bestanden schon einige Jahre früher ständige Schlafwagenverbindungen, um den Reisenden auf der viele Tage dauernden Durchquerung des Kontinents die größtmögliche Bequemlichkeit zu bieten. Diese Einrichtung veranlaßte den belgischen Ingenieur Georges Nagelmackers, der die Schlafwagen anläßlich einer Amerikareise kennengelernt hatte, solche Waggons auch in Europa einzuführen. Er gfüpdete im Jahre 1876 in Brüssel die Internationale Schlafwagengesellschaft' deren Waggons bald zwischen allen westeuropäischen Großstädten verkehrten.

Als im Jahre 1880 die Gesellschaft auch Speisewagen in Betrieb nahm, war der Weg zur Einführung eines internationalen Luxuszuges nicht mehr weit. Während aber in Amerika durch die Einheitlichkeit des Staatsgebietes dem Fernverkehr keinerlei Hindernisse im Wege standen, waren die Verhältnisse in dem in zahlreiche Staaten zersplitterten Europa wesentlich schwieriger. In diesem Zusammenhang muß erwähnt werden, daß die österreichischen Behörden an dem Projekt sehr interessiert waren, da man den großen wirtschaftlichen Wert dieser Transitverbindung erkannt hatte. Der Strom der Reisenden aus England und Westeuropa nach dem Vorderen Orient würde nun — wie ganz richtig vermutet wurde — den Weg nicht mehr wie bisher über Marseille oder Brindisi wählen, sondern den Orientexpreß benützen, was für den Fremdenverkehr und das Geschäftsleben in Österreich nur Vorteile bringen konnte. Als endlich alle Verhandlungen abgeschlossen waren, wurde der Expreß mit Beginn des Sommerfahrplanes 1883 in Verkehr gesetzt.

Der Zug bestand ursprünglich aus zwei Schlafwagen, einem Speisewagen und zwei Gepäckwagen; der Fahrpreis von Paris bis Konstantinopel betrug 550 Franken, einschließlich der Speisewagenverpflegung. Die Strecke war bis zur Fertigstellung der türkischen Anschlußlinien folgendermaßen festgelegt worden: Von Paris über Straßburg, München, Wien, Budapest und Giurgiu. Dort wurden die Fahrgäste mit einer Donaufähre nach dem gegenüberliegenden Rustschuk gebracht, von wo sie in einer bereitstehenden bulgarischen Garnitur bis zum Schwarzmeerhafen Varna weiterreisten. Das letzte Stück der insgesamt 84stündi- gen Reise bis Konstantinopel wurde mit einem Eilschiff des „österreichischen Lloyd“ zurückgelegt. Erst ab 1889 fuhr der Orientexpreß auf der direkten Strecke über Belgrad, Nisch, Sofia nach Konstantinopel.

Auf seiner Jungfernfahrt führte der „Blitzzug“ seinen Namen nicht zu Unrecht in doppelter Bedeutung, weil er auf der Fahrt von einer fast ununterbrochenen Kette schwerster Gewitter begleitet wurde. Unter Wolkenbrüchen fuhr er durch Bayern und Österreich, kam aber, gezogen von der Lokomotive „Penzing“, die den Zug in der Grenzstation Simbach übernommen hatte, auf die Minute pünktlich nach Wien. Auch auf seiner weiteren Fahrt durch Ungarn und Rumänien besserte sich das Wetter nicht. Ja, es sollte noch schlimmer werden, und fast wäre der erste Blitzzug das Opfer der entfesselten Naturgewalten geworden. In der Nähe von Verciorova in Rumänien stürzten derartige Wassermassen vom Himmel, daß der Bahnkörper an mehreren Stellen überschwemmt wurde. Der den Zug begleitende Chefingenieur der rumänischen Staatsbahnen bestieg angesichts der Gefahr nun selbst die Lokomotive und führte persönlich den Zug im Schrittempo über die unterwaschene Strecke.

In welcher Gefahr der Orientexpreß damals schwebte, zeigte sich erst später, als ein unmittelbar nachfolgender Personenzug an der gleichen Stelle entgleiste und umstürzte, wobei einige Personen getötet wurden. Trotz allen Unbilden hatte der Zug bei seiner Ankunft in Bukarest nicht mehr als sechs Minuten Verspätung, wie damals von den Reisenden lobend betont wurde. Überhaupt war man von der Schnelligkeit des Zuges und dem Luxus, mit dem die Schlafwagengesellschaft ihre Fahrgäste umgab, außerordentlich befriedigt. So schrieb ein Hamburger Kaufmann, der die erste Reise nach dem Orient mitgemacht hatte, begeistert dem „Berliner Börsenkurier“:

„Was den Luxus dieses Zuges anbelangt, ist das Höchste geleistet, was bisher bei Zügen, die für die öffentliche Benützung bestimmt sind, geboten worden ist.

Solche und ähnliche Reiseschilderungen waren natürlich die beste Werbung für eine Fahrt mit dem Orientexpreß. Für die wirkungsvollste Reklame sorgte aber die Schlafwagengesellschaft selbst, als Georges Nagelmackers einige Wochen später Vertreter der angesehensten europäischen Zeitungen zu einer Gesellschaftsfahrt nach Konstantinopel einlud, gewissermaßen um eine rollende Pressekonferenz abzuhalten, ähnlich, wie heute die Luftlinien Blitzflüge mit journalistischer Besatzung veranstalten.

Es spricht für den Ruf, den der Expreßzug damals schon genoß, daß die Reisegesellschaft überall mit besonderen Ehren und in Bukarest sogar vom Königspaar empfangen wurde.

Die schönste Ehrung hatte sich aber der Besitzer des Hotels „Luxembourg“ in Konstantinopel ausgedacht. Er benützte die seltene Gelegenheit der Anwesenheit so vieler illustrer Gäste, die Taufe seines Töchterchens vornehmen zu lassen, und bat den Präsidenten der Wagon-Lits und eine Wiener Dame, die Patehstelle zu übernehmen. So verband man die Abschiedsfeier mit einem Taufschmaus, bei dem der acht Monate alte Täufling — so lange hatte nämlich der schlaue Levantiner mit der Taufe gewartet, um nur recht gute Paten für sein Kind zu finden — mit an der Tafel saß.

Was dann später aus der kleinen Türkin wurde, das ist uns nicht bekannt. Vom Orientexpreß aber wissen wir, daß er bald zum reprä sentativsten Zug Europas wurde, zum Zug der Millionäre, der Diplomaten und der Aristokratie. Ein ganzer Legendenkranz bildete sich um den Namen „Orientexpreß“, und die alten Dienstbücher bieten Stoff für eine spannende Geschichte, die reich ist an ernsten und heiteren Episoden. Was allein trug sich zu auf der Strecke östlich Belgrads, wo der „wilde“ Balkan begann! Da konnte es zum Beispiel, wie im Jahre 1891, passieren, daß der Blitzzug zur Entgleisung gebracht, eine mehrköpfige Reisegesellschaft verschleppt und erst gegen ein Lösegeld von 100.000 Franken wieder freigelassen wurde. Besonders im Lande Mohammeds gab es oft Überraschungen. So war einmal für die Lokomotive nicht ein Stäubchen Kohle aufzutreiben. Auf die allgemeine Frage, wann denn der nächste Kohlentransport eintreffe, meinten die Bahnbeamten : Das wisse nur Allah! Um nicht endlos festzusitzen, entschlossen sich die Reisenden kurzerhand, die Kohlen selbst zu kaufen. Jeder spendete einen gewissen Betrag, und als das Geld auf dem Tisch des Stationsvorstah- des lag, dampfte wenige Minuten später eine große Lokomotive aus dem Heizhaus. Man war glücklich, daß es wieder weiterging und verschmerzte die zusätzlichen Fahrtkosten.

Bezeichnend für die Exklusivität der Fahrgäste des Orientexpresses ist jene kleine Geschichte, die sich bald nach dem 1. Weltkrieg abgespielt hat. Es war kurz vor Budapest, als der Schlafwagenkontrollor aus einem der Abteile heftiges Stöhnen hörte. Er betrat das Coupe, auf dem Teppich lag eine Dame. Der Kontrollor übersah sofort die Situation und lief so schnell er konnte durch den Zug um ärztliche Hilfe zu holen. Im Zug reisten Diplomaten, Privatiers, Geschäftsleute, nur ein Arzt war nicht .aufzutreiben. Schließlich erklärte sich eine Dame bereit, „Erste Hilfe“ zu leisten. Mit vereinten Kräften wurde ein Knabe geboren, und später dann, als sich der Kontrollor für die wertvolle Hilfe bedanken wollte, erfuhr er, daß die „Hebamme“ niemand anderer als die inkognito reisende Königin von Rumänien gewesen war.

Ja, das war der Orientexpreß, ein Zug voll Abenteuern, Romantik, Skandalen und Tragödien, ein Zug. in dem ganze Harems reisten und in dem man Tausende von Gulden, Franken oder Dollars ausgeben konnte. Heute gehört der Luxuszug, der Blitzzug, ebenso der Geschichte an, wie der Reichtum, die Eleganz und die Sorglosigkeit jener Zeit um die Jahrhundertwende. Der Orientexpreß unserer Tage aber sorgt zusammen mit seinen Vettern, dem Direct-Orient, dem Tauern-Orient und dem Balt-Orient nach wie vor für eine direkte, rasche Verbindung zwischen West- und Südosteuropa.

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