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Blutige Erde

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Paris, im Mai 1957.

Die dramatischen Ereignisse im Nahen Osten, ob es sich um die Suezkrise oder die Machtprobe in Jordanien handelt, werden in Paris ausschließlich unter dem Gesichtspunkt des nationalen Dramas betrachtet, das sich täglich in Algerien abspielt. Kein Silberstreif zeigt sich am Horizont, der an Stelle der Leidenschaften einen Plan zur Beendigung des Krieges anzeigt. Immer noch ist der Einsatz von 400.000 Soldaten erforderlich, der die Finanzen des Staates aufs äußerste anspannt. Diese riesige Armee vermochte die 30.000 Fellachen nicht entscheidend zu schlagen. Die Bewaffnung der Aufständischen wird immer besser. Die Intensität der Gefechte nimmt zu. Wenn ein größerer Verband aufgerieben wird, verstärkt sich der Terror in den Städten, ein Terror, der selbst ins Mutterland getragen wird. So wurden in Frankreich innerhalb der letzten 16 Monate 196 Muselmanen ermordet und 1804 schwerverwundet: die 300.000 Araber in Frankreich müssen sich einer kleinen, aber radikalen Minderheit beugen, wenn sie nicht als Verräter einer unerbittlichen Maffia zum Opfer fallen wollen. Die Polizei steht machtlos da.

Auf der anderen Seite stehen die Geheimverbände der Weißen in Algerien, die im Falle eines Abzuges der Armee einen Bürgerkrieg entfesselten, der die Grausamkeiten in Spanien vervielfachen würde. Die Gefahr einer „Bartholomäusnacht“ steht als Schreckgespenst hinter allen Anordnungen der Verwaltung.

Nach der relativ günstigen Behandlung, die Frankreich vor der UNO anläßlich der letzten

Algeriendebatte gefunden hat, konnte der Entwurf einer umfassenden Reform erwartet werden. Allerdings kann die Regierung Mollet im politischen Sektor nur sehr wenig positives Material vorweisen.

Die zahlreichen Appelle des Regierungschefs, einen Waffenstillstand anzunehmen, dem nach 90 Tagen freie Wahlen folgen sollten, wurden von den Aufständischen nicht akzeptiert. Die Agrarreform ist über bescheidene Anfänge kaum hinausgegangen.

Bisher wurden zwei Reformpläne vorgelegt, der P1 a n P a y e, der für Algerien neue Institutionen vorsieht, und der Plan C h a m p e i x, der Algerien unorganisch in drei Regionen aufteilt. Diese Pläne zeichnen sich durch eine gewisse Klarheit auf dem Gebiet der Verwaltung aus, bringen jedoch keine neue Politik. Teilungspläne im Stile Indochinas werden wohl erörtert, sind jedoch niemals offiziell zur Diskussion gestellt worden. Nach wie vor übt der Resident Lacoste alle Gewalten aus, ist aber immer stärkeren Angriffen ausgesetzt. Seine Beziehungen zu dem gemäßigten Teil der weißen Bevölkerung und auch zur katholischen Kirche sind in einem Stadium akuter Krise. Trotzdem erklärte sich Mollet mit seinem Minister bedingungslos solidarisch.

Lacoste ist es nicht gelungen, in einen echten Kontakt mit den Arabern zu treten, obwohl eine bedeutende Fraktion der einheimischen Bevölkerung, des Terrors ebenfalls müde, zu einer Aussprache bereit wäre. Die Politik Lacostes wird unter zwei Gesichtspunkten zu charakterisieren sein: Algerien im Rahmen der franzö-

sischen Union zu halten und eine Rückkehr zum Status quo zu verhindern.

Die öffentliche Meinung Frankreichs verfolgt mit Anteilnahme, Unruhe und tiefer Sorge die Ereignisse. Der frühere Generalresident Sou st eile hat eine Organisation ins Ltben gerufen, die sich „Heil und Erneuerung Algeriens“ nennt und vor allem die konservativen Kräfte des Landes anspricht. Von der Linken wird der Krieg in Algerien verwendet, um systematisch die Armee und die zivile Verwaltung anzugreifen. Es ist unnötig, hinzuzufügen, daß sich die kommunistische Partei dieser billigen und lohnenden Propaganda ausgiebig bedient. Unter den meisten Intellektuellen, Journalisten, Professoren ist jedoch in den letzten Wochen eine Gewissensfrage aufgetaucht, die in ihrer Tragik und Dramatik eine Diskussion eingeleitet hat, die immer weitere Kreise erfaßt. Die Auswüchse der Macht, das ewige Problem menschlicher Werte steht im Mittelpunkt dieser Fragen und Antworten. Der katholische Schriftsteller Simon führte in einem Buch Tatsachen von Folterungen in Algerien an, begangen von Soldaten und Polizisten. Besonders die Methode der Verhöre beunruhigen die Beobachter. Es ist außergewöhnlich schwierig, zu derartigen Anklagen Stellung zu nehmen. Grausamkeiten sind vorgekommen, sie jedoch als konsequente Politik zu bezeichnen, ist unrichtig und entspringt demagogischen Erwägungen. Es ist immerhin ermutigend, daß in einem Kolonialkrieg, der vielfach im Dunkeln und mit unvorstellbarer Wildheit geführt wird, eine derartige Gewissens erforschung eingesetzt und konsequent weiter verfolgt wird.

Das Buch Simons fand einen außergewöhnlich großen Widerhall und wurde von allen bedeutenden Zeitungen kommentiert, die

Methoden, die zu Folterung von Gefangenen führen, wurden kategorisch abgelehnt. Zu gleicher Zeit erschien eine Artikelserie des Herausgebers der Zeitschrift „Express“,

S. J. Schreiber, der als Offizier in Algerien gedient hat und nun die höchsten Armee- und Verwaltungsstellen angreift. Er klagt diese Kreise an, daß sie im Sold obskurer kapitalistischer Kolonialinteressen ständen. In einem offenen Brief unterstützte einer der kommandierenden Generäle in Algerien, Bollardie-re, den Verfasser und erklärte sich mit dieser Veröffentlichung einverstanden. Die Regierung sah sich gezwungen, den General zu 60 Tagen Festung zu verurteilen, um eine rein politische Auseinandersetzung nicht in die Armee zu tragen. Bekannte Professoren verlangten ebenfalls Abstellung jener Mißstände, die mit dem Gewissen einer Kulturnation nicht in Einklang zu bringen seien. So äußerte der Dekan der juridischen Fakultät in Algier seine Bedenken über den rätselhaften Selbstmord eines arabischen Anwalts. Besondere Spannungen machen sich auch unter den Katholiken in Algerien bemerkbar sowie in der französischen Hochschülerschaft. Junge Priester versteckten mehrfach Personen, die unter dem Verdacht standen, Agenten der Aufständischen zu sein.

Die französische Hochschülerschaft wurde durch die algerische Angelegenheit in ihre bisher schwerste Krise gestürzt. Ein Teil der Studenten verlangte rigoroses Vorgehen in Algerien, andere Gruppen nahmen in einem Brief an Präsident Coty die Argumente bekannter Publizisten und Politiker auf und wünschten die Herstellung eines Dialoges Frankreich- Algerien jenseits der Waffen und der polizeilichen Maßnahmen.

Die radikale Partei (Tendenz Mendės-France) wollte eine eigene Untersuchungskommission nach Algerien entsenden, aber der Ministerresident wie der Bischof weigerten sich, diese Kommission zu empfangen, deren Anwesenheit ohne Zweifel schwere Unruhen hervorgerufen hätte. Eine heftige Kontroverse zwischen Mendes-France und Lacoste hat inzwischen eingesetzt. Immer stärker überschneiden sich

Interesse, echte Gewissenszweifel und Patriotismus. Die Positionen der verschiedenen Elemente der öffentlichen Meinung klaffen gefährlich auseinander. Die algerische Presse verharrt in ihrer sehr nationalen Schreibweise. Eine repräsentative Figur Algeriens, der, Senator Doumenac, Mitglied der SFIO, verließ seine Partei, da er die Haltung Lacostes gegenüber der Kommission der radikalen Partei nicht billigte. Die Regierung sah sich gezwungen, eine Kommission zum Schutz der Menschenrechte und der individuellen Freiheiten in Algerien einzusetzen. Der Kommission gehören hohe Richter und untadelige Persönlichkeiten, wie der

Präsident des Roten Kreuzes, Franęois Poncet, an. Ihr wurde als Aufgabe gestellt, jede angebliche Verletzung der Menschenrechte in Algerien zu untersuchen und die Regierung bei der Abstellung derartiger Vorfälle zu beraten.

Inzwischen geht jedoch der heimtückische Krieg weiter und die Art des Kampfes ruft Repressalien hervor, die wieder einen verstärkten Terror einleiten. Eine Ordnung im Recht kann unserer Ansicht nach durch eine klare Konzeption, eine auf Verständigung auf gebaute Politik hergestellt werden. Bis es soweit ist, wird die Erde Algeriens weiter durch das Blut zweier Nationen gerötet.

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