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Bonapartismus - wenig gefragt

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Paris, im Juni 1953.

Eine Reihe sozialer Spannungen der letzten Wochen, welche nicht nur aus politischen Motiven entstanden sind, gewisse Parteienverbindungen vor der Stichwahl der Bürgermeister sowie der erwartete Bruch zwischen de Gaulle und seiner Parlamentsfraktion lassen eine Veränderung in der politisdien Struktur Frankreichs erwarten.

Am sichtbarsten tritt diese Umgruppierung an der rechten Seite des Parlaments zutage, wo die Auflösung der Sammelbewegung de Gaulles eine veränderte Situation schafft. Als de Gaulle am 7. April 1947 seine Bewegung ins Leben rief, ohne Programm, aber mit einem deutlichen politisdien Ziel, so konnte man nicht sofort eine klare Vorstellung vom Umfing oder der Entwicklung dieses Faktors der französischen Politik haben. Der General hätte eine neue politische Bewegung auslösen können, wie sie von den nichtkommunistischen Mitgliedern der Resistance erwartet wurde. Nidit umsonst hatte man in engen Kreisen der Resistance von politischen Formen jenseits des Liberalismus und des Kommunismus geträumt. Alle jene, welche im MRP nicht die Erfüllung ihrer Sehnsucht fanden, hofften in der von de Gaulle inaugurierten Politik die grundlegenden Reformen des französischen Lebens vorzufinden. Für einen Augenblick eröffneten sich sogar europäische Perspektiven. Eine deutschfranzösische Sammclbewegung stand in

internsten Kreisen um de Gaulle zur Erörterung. Aber entspredicnd seinem Charakter und seiner historischen Rolle als Befreier Frankreidis entschloß sich der General, einen klaren nationalistischen Kurs einzuschlagen. Er stellte seine Bewegung als die einzige legitime Vertretung für Frankreich' dar, mit stark autoritären Zügen, ausgedrückt in den Leitworten: „Ordnung, Autorität, Disziplin.“ Dem Staat sollte eine neue Autorität zugebilligt werden. Vom stärksten Sendeglauben erfüllt, vernadilässigte er die politischen Realitäten und nahm sich nicht die Mühe, die wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhänge und ihren Einfluß auf die Politik zu erwägen. Als wichtiges politisches Prinzip stand der Kampf gegen das System der Parteien im Vordergrund seiner Angriffe. Durch einen direkten Appell an das Volk, ohne daß dieser je spezifiziert wurde, hoffte er die Mehrheit der Nation um sich zu vereinen. In der Tat gelang es ihm, Katholiken und Freimaurer, Radikale, die Vertreter der Resistance und 'die Anhänger Vichys in gleicher Weise für sich zu gewinnnen. Ein Genie wie Malraux, ein kühler Skeptiker wie Raymond Aaron scharten sich um de Gaulle, der am 19. Oktober 1947 wohl 38% bei den Gemeindc-ratswahlen gewinnen konnte, aber weit ab war von der erhofften absoluten Mehrheit.

Trotzdem, ein neuer Bonapartismus stan4 vor der Tür. Die Mittelparteicn jedoch dachten nicht daran, Selbstmord zu begehen, und dem General die Macht zu überantworten. De Gaulle war gezwungen, seine intransi-gente Position zu nuancieren. Als aus der Kampfesliga der ersten Monate eine' Partei wurde, zeigten sich sehr bald die Spannungen und die Gegensätze zwischen dem ursprünglichen Ideal und dem Hang der Gewahlten, ihre Stellung auszunützen. Da de ' Gaulle nicht der Träger einer echten revolutionären Idee war, nützte er sich in der Opposition sehr stark ab, und anläßlich der Investitur Pinays splitterte sich eine erhebliche. Dissi-denz ab.

Der Entschluß de Gaulles, der Fraktion die Freiheit zu geben, lag damit in der Logik der Entwicklung. Immerhin verdient die Offenheit, mit der er seinen Mißerfolg eingestehen mußte, festgehalten zu werden. Die Scheidung zwischen der Resistance und de Gaulle ist damit auf alle Fälle vollendet. Wird die große Gruppe des RPF im Parlament eine einheitliche Linie und ihre innere Festigkeit behalten? Die Anzeichen lassen darauf schließen, daß die Gruppe versudien wird, bis auf weiteres eine gemeinsame Politik zu vertreten, und die letzte Regierungskrise läßt sich im wesentlichen daraus erklären. Eine eingehendere Analyse jedodi führt zum Schluß, daß eine weitere Spaltung zu erwarten ist. Je nadi Affinität und sozialer Herkunft dürfte sich dabei ein Teil der Abgeordneten den Unabhängigen verschreiben, ein weiterer dem ARS (der ersten gaullistischen Dissi-denz) und nur ein kleiner Kern strenger Nationalisten um Soustelle und Koenig werden die Traditionen des früheren RPF weiterführen. Schließlich werden einige wenige, wie Chaban Delmas, sich den Radikalen zuwenden.

Was jedoch wird aus der großen Masse der Wähler und der Organisationen des RPF werden? Ihrer soziologischen Struktur nach gehören sie meistenteils dem kleinen Bürgertum an und sehen ihr Ideal viel deutlicher im ruhigen Pinay als in de Gaulle, dem Mann dramatischer Katastrophen. Alle Informationen lassen darauf schließen, daß der Gaul-lismus in neuer Form als wirklich revolutionäre und stoßkräftige Bewegung aufzutauchen gedenkt. Malraux hat das Fehlen einer kohärenten Doktrin erkannt und ein umfassendes Werk sozialer und wirtschaftlicher Natur, eine Art „Kapital“ des 20. Jahrhunderts, wird von seinen Freunden angekündigt. Pierre de Gaulle, der Bruder des Generals, wird die Reste der Partei in Paris sammeln und ein Zentrum zum Studium politischer Fragen errichten. De Gaulle selbst glaubt nach wie vor, daß eine große politische oder wirtschaftliche ßrise, die nach seiner Meinung sehr bald kommen wird, sdiließlich nur eine Lösung kennen wird: Die Ueber-gabe der Macht an ihn, ähnlich wie 1940 Petain installiert wurde. Basiert auf eine neue soziale Doktrin, hofft er Teile des MRP und der Sozialisten gewinnen zu können.

Alle diese Pläne und Erörterungen mögen reizvoll sein für das Studium der politischen Ideen der französischen Gegenwart, sie haben jedoch wenig Aussicht auf Erfolg, wenn nicht Ereignisse eintreten, die außerhalb der zu übersehenden Entwicklung stehen. Vielleicht liegen die Ideen Malraux' derart im Gange der Geschichte, daß es ihnen gelingt, eine soziale Bewegung großen Stils zu kristallisieren.

Ohne. Zweifel frißt sich eine Vertrauenskrise durch das französische Volk. Immer mehr belasten die Gruppeninteressen die legislative Tätigkeit, nur selten wurde eine wirtschaftliche Konzeption konsequent entwickelt, gelangte jedoch nie zur Anwendung. Den Parteien, soweit sie ein konstruktives Programm haben, ist keine Gelegenheit gegeben, dieses zu verwirklichen. Die französische Presse kritisiert immer stärker den Mangel an politischer Klarheit, Anläßlich der Gemeinderatswahlen hat sich die Unzufriedenheit der arbeitenden Massen nur zu deutlich durch die Stellungnahme gegen die Wirtschaftspolitik manifestiert. Das Wort „Volksfront“ wird immer häufiger gebraucht, obgleich die sozialistische Parteileitung eine derartige Formel eindeutig ablehnt. Jedoch ist die Partei seit Jahren in. einer Opposition, die sich immer deutlicher verstärkt. Der Generalsekretär der kommunistischen Partei, Thorez, gab Weisungen an alle seine Parteiorganisationen, für die Sozialisten zu stimmen, sobald der eigene Kandidat keine Chancen hatte. Bezeichnend ist die Wahl des Bürgermeisters von Marseille, eines Sozialisten, der im dritten Wahlgang mit den Stimmen der Unabhängigen und der ARS gewählt wurde. Die Kommunisten hatten ihre eigene Kandidatur aufrechterhalten, und diese Taktik wurde von der Parteileitung in keiner Weise gebilligt. Eine Zusammenarbeit zwischen Sozialisten und Kommunisten im Generalrat der Seine ist nicht erfolgt. Die beiden Parteien besitzen dort eine Mehrheit von 53%, und die politischen Parteien waren der Meinung, daß eine Verbindung der beiden Parteien in diesem Fall als eine Art Test gewertet werden könnte. Sicher ist, daß die Masse der sozialistischen Anhänger sich des Gefühles nicht erwehren kann, immer stärker ausgebeutet zu werden. In der Tat verschärfen sich die sozialen Gegensätze, und nur eine sehr eindeutige Sozialpolitik kann die Tendenz, einen Linksblock zu bilden, unterbinden.

Wir stellen fest: Die bisherige Vorstellung vom französischen Parteienwesen, mit ihren Mittelparteien und den zwei Oppositionen, beginnt sich aufzulösen. Da aber jede einschneidende Strukturveränderung Rückwirkungen auf die europäische Politik haben muß, wird die angezeigte Entwicklung mit großem Interesse zu verfolgen sein.

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