Breschen in der Mauer des Leugnens

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Mit der Annäherung an Armenien beginnt die Türkei, sich ihrer eigenen Vergangenheit zu stellen, schreibt die „Süddeutsche Zeitung“.

Die Türkei gegen Armenien. Am Mittwoch treten sie an, im Stadion in Bursa: Fußball-WM-Qualifikation. Dabei sind beide Teams schon aus dem Wettbewerb geflogen. Ein Spiel also, bei dem es um nichts mehr geht? Im Gegenteil: Der armenische Präsident wird erwartet, in einem türkischen Stadion. Das hat es noch nie gegeben. Es soll der nächste Schritt in der historischen Annäherung sein, nach der Unterzeichnung der Protokolle vom Samstag. Und wie am Samstag zittern alle: Kommt er? Kommt er nicht?

Es ist mutig, was die Regierungen beider Länder da vorhaben – und man kann nur hoffen, dass sie nicht die Angst vor der eigenen Courage packt. Für beide Länder nämlich gilt: Zu Hause ist der Widerstand gegen jede Annäherung stark. […]

Die Frage des Völkermords ist der Kern der hoch emotionalen Debatte. Die meisten Historiker sind sich heute einig, dass man die Massaker an den Armeniern im Osmanischen Reich 1915/16 einen Völkermord nennen kann, wenn man die Definition des Begriffes durch die Vereinten Nationen von 1948 zugrunde legt. Bis zu 1,5 Millionen Armenier, sagt Armenien, seien getötet oder in Hungermärschen in den Tod getrieben worden. Die Türkei leugnet offiziell eine geplante Auslöschung der anatolischen Armenier und sagt, es seien lediglich ein paar Hunderttausend bei Kriegshandlungen ums Leben gekommen.

Die Front der Völkermord-Leugner bekommt Risse

Die Leugnung ist Teil der Staatsideologie, die seit Gründung ihrer Republik den Türken einimpft, sie seien lediglich Opfer gewesen: „Wir sind die sauberste, reinste und unschuldigste Nation der Erde“, meint noch heute der als Nationalist bekannte Vizepremier Cemil ¸Ci¸cek. Im türkischen Erzurum gibt es ein „Armenisches Völkermord-Museum“ – darin ausgestellt werden armenische Massaker an Türken.

Aber: Die Front der Leugner bekommt Risse. Die Jahre der Demokratisierung sahen in der Türkei ein Tabu nach dem anderen fallen, auch dank der Regierung von Premier Tayyip ErdoØgan. Eben noch war dies ein paranoides Land, in dem Schüler eingeimpft bekamen, die Türkei sei umgeben „auf drei Seiten von Meeren und auf vier Seiten von Feinden“.

Neue Devise: Alle Nachbarn zu Freunden machen

Mit einem Mal aber ist es die offizielle Devise seiner Außenpolitik, „alle Nachbarn zu Freunden zu machen“. 2005 wagten es erstmals Historiker auf einer Konferenz in Istanbul öffentlich das Wort „Völkermord“ in den Mund zu nehmen. 2008 starteten türkische Intellektuelle eine Unterschriften-Kampagne, die den Armeniern zuruft: „Wir entschuldigen uns.“

Mehr als 30.000 haben unterzeichnet. Und Anfang 2009 veröffentlichte der türkische Autor Murat Bardak¸c1 historische Dokumente von Tˆalat Pascha, dem Architekten der Massaker von 1915, die zeigen, wie innerhalb von zwei Jahren 972.000 Armenier aus den Meldelisten des Osmanischen Reiches verschwanden.

„Noch vor zehn Jahren hätte man mich einen Verräter genannt“, sagt Bardak¸c1, „die Mentalität hat sich geändert.“ Kein Zweifel: Irgendwann wird die Türkei sich ihrer Vergangenheit stellen müssen. Und jeder weitere Schritt der beiden Länder aufeinander zu wird ein Schritt auf diesen Moment hin sein, wird eine weitere Bresche in die Mauer des Leugnens schlagen. Deshalb sollten die Armenier die Annäherung feiern, auch wenn sie heute noch nicht bekommen, was sie gerne hätten. Am Mittwoch treten in Bursa zwei Teams gegeneinander an, die ihr Ticket zur WM schon verspielt haben. Ein Duell zweier Verlierer? Die Politiker haben es in der Hand, daraus das Spiel zweier Gewinner zu machen.

* „Süddeutsche Zeitung“, 12. Oktober 2009

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