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Bringt das Chaos den Fortschritt?

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Ausnahmezustand, Pressezensur, die Armee in Alarmbereitschaft: Nach wochenlangen Unruhen spitzte sich die Lage in Albanien am vergangenen Wochenende dramatisch zu, das Land stand Anfang der Woche am Rande eines Bürgerkriegs.

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Ausnahmezustand, Pressezensur, die Armee in Alarmbereitschaft: Nach wochenlangen Unruhen spitzte sich die Lage in Albanien am vergangenen Wochenende dramatisch zu, das Land stand Anfang der Woche am Rande eines Bürgerkriegs.

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Yor einer Woche konnte der Beobachter registrieren: Wieder einmal, so wie in Belgrad und in Sofia, hat „die Straße” den politischen Fortschritt gebracht. Denn in Albanien wurde einer korrupten Regierung der Volkszorn demonstriert. Vor zwei Wochen begannen die Studenten in Vlora, wo die Demonstrationen vor fast zwei Monaten ihren Anfang genommen hatten, ihren Hungerstreik, der den Rücktritt der Regierung forderte.

Albaniens Regierung mußte sich dem Druck fügen und trat zurück. In den allerletzten Tagen aber verlangt die inzwischen aus den Fugen geratene Volksmenge nicht mehr nur den Rücktritt der Regierung, sondern in allen Städten und Teilen des Landes vor allem: „Wir wollen unser Geld zurück!”. Politische Ziele scheinen vorerst vergessen.

Vor vierzehn Tagen noch fand die allabendliche Demonstration in Vlora (es war der erste Tag des Hungerstreiks der Studenten) in aller Friedlichkeit statt; kleine Kinder wurden auf den Schultern der Eltern getragen, Luftballons tänzelten an langen Schnüren über den Köpfen, wer nicht teilnahm, zeigte seine Sympathie vom Trottoir aus. Am zweiten Sonntag danach zeigten TV-Reportagen im Ausland das brennende Vlora. Auch andere albanische Städte wurden Opfer von Vandalismus - die Menge plünderte Geschäfte, demolierte Autos, in Tirana wurden ausländische Journalisten attackiert, die Regierung erklärt den Ausnahmezustand.

Es ist, als seien nicht dieselben Menschen am Werk. Zum Reispiel widerspricht der Angriff auf die ausländischen Journalisten der Tatsache, daß ganz Albanien - in Städten und Dörfern, im Norden und im Süden -seit vielen Monaten ausschließlich die albanischen Nachrichten des RRC und der Voice of America hört, um zu erfahren, was im eigenen Land vor sich geht. Die einheimischen, staatskontrollierten Medien kann niemand aushalten. Resonders seit die Demonstrationen dort entweder gar nicht oder in verfälschter Form vorkommen. Das hat auch dem letzten Albaner, der ja weiß, was auf der Straße vor sich geht, bewiesen, daß in diesen Medien gelogen und manipuliert wird.

Oder: Geschäfte zu plündern. Wenn das spontan wäre, warum geschah das nicht gleich, als die Demonstrationen begonnen hatten?

Wenn das ein Ausdruck von Neid und Empörung sein sollte gegenüber denen, die wirtschaftlichen Erfolg haben, während man selbst um die Früchte schwerer Arbeit in Griechenland und in Italien betrogen worden ist - dann hätte das am ersten Tag stattfinden müssen.

Es hat in Albanien in den letzten Monaten auch Stimmen gegeben, die sagten, daß die Demonstranten „gelenkt” würden, daß Oppositionsparteien ihr eigenes Süppchen kochen würden im Zuge der allgemeinen Empörung über die Verantwortung der Regierung an der Pyramiden-Affäre. Es gab aber auch Reob-achter, die erklärten, zuerst sei alles spontan gewesen, dann hätten Oppositionspolitiker gesehen, es muß organisiert werden und versucht, nach dem Muster der Relgrader Studenten Parolen wie „Rlumen statt Steine” zu lancieren. Das waren im wesentlichen die Sprecher des ad hoc entstandenen „Forum für Demokratie”, in dem die meisten Parteien der Opposition, von ganz links bis ganz rechts, vertreten sind.

Die latente Gefahr eines Rürger-krieges liegt in der Luft. Niemand wollte ihn. Das Rewußtsein dieser Gefahr war bislang sogar eine Rremse für die Ausbreitung der Demonstrationen - noch vor zwei Wochen. Es ist möglicherweise eine gewagte Spekulation, aber die einzigen, die ein Interesse an einer Eskalation haben konnten, scheinen diejenigen zu sein,

die die Machtmittel in der Hand haben, um dann mit aller Härte gegen die Demonstranten zuzuschlagen. Dieses Interesse muß nicht unbedingt auf Seiten der Regierung oder des Präsidenten persönlich zu suchen sein es können auch Machtinstrumente wie Polizei, Geheimpolizei und Armee in solchen Momenten eine politische Eigendynamik entfalten. Das aber würde bedeuten, daß mit den sowieso schon hart getroffenen Albanern wiederum manipuliert wird, denn sie werden dann die Zeche zu zahlen haben -statt endlich den Weg in einen Rechtsstaat und eine bürgerliche Ordnung zu finden.

Und das ist die wirkliche Tragödie der Albaner heute. Sie hatten nie in ihrer bisherigen Geschichte die Erfahrung, „Rür-ger” eines Staates zu ein, der die Rechte dieser seiner Rürger vertreten hätte, darum kennen sie weder die Rechte noch die Pflichten der Rürger oder der Regierung. Es sah daher so aus, als wären diese ersten Reaktionen der Revölkerung auf die finanziellen Machinationen der regierenden Partei auf dem Rücken der Rürger gleichzeitig ein erster Schritt in Richtung tatsächliche Demokratisierung.

Der Schock, als vor wenigen Monaten einige der sogenannten „Pyramiden-Firmen” ihre Zahlungsunfähigkeit erklärten, und Zehn tausende, vielleicht Hunderttausende von Albanern ihr investiertes Geld verloren, war ungemein tief. Einige Menschen wurden apathisch, sogar Selbstmorde (in Albanien bisher sehr seltene Vorkommnisse) wurden registriert. Andere wurden sich ihrer totalen Ohnmacht bewußt und setzten dieses Gefühl blitzartig um in leiden schaftliche Anklage gegen das Regime, das es nicht nur unterlassen hatte, die unerfahrenen Rürger vor den kriminellen finanziellen Machinationen der Pyamiden-Firmen zu warnen, sondern diese auch noch aktiv unterstützte und sich den eigenen Wahlkampf von ihnen bezahlen ließ.

Dieser Ausbruch ohnmächtiger Verzweiflung entlud sich in diesem Winter 1996/97, ähnlich wie bei den ersten Ausschreitungen 1990/91, in der Zerstörung von Objekten, die für Symbole der Korruption gehalten werden: Autos, Rüros von Firmen, Präsident Rerishas Sommervilla in Vlora, belagert wurden öffentliche Gebäude.

Gleichzeitig versicherten viele der albanischen Gesprächspartner:

„Nicht nur die Regierung trägt Verantwortung für den Pyramiden-Skandal - auch wir selbst sind schuld, daß wir das schnelle Geld haben woll ten und darum Retrügern aufgesessen sind ...” Man müsse von vorne anfangen, und sich gegenseitig Mut machen, sagten sie. „Albanien ist an einem Scheideweg”, meint ein Opposi tionspolitiker. „Der erste Anlauf zur Demokratie ist nicht gelungen, wir sind jetzt klüger, wir haben die ersten politischen Erfahrungen gehabt und Illusionen verloren. Das kann ein gesunder Prozeß sein, um die Realität besser zu erkennen.”

Sein Wort in Gottes Ohr.

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