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Brot statt Dollars!

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Rom, Ende September Die Welttagung der landwirtschaftlichen Produzenten in R o m ist zeitlich mit der Veröffentlichung des Berichtes der FAO (Food and Agriculture Organisation) über die Entwicklung der Landwirtschaft im letzten Dezennium zusammengefallen, und so wurde gleichzeitig und vom gleichen Orte aus dieselbe ernste Mahnung an die Regierungen gerichtet, ihr ganzes Augenmerk auf die Ernährungsfrage zu lenken. Es wäre weder neu noch sensationell gewesen, wenn etwa festgestellt worden wäre, daß die Nahrungsmittelproduktion mit dem steten Bevölkerungszuwachs nicht mehr Schritt zu halten, vermag. Ueberraschenderweise ist es gerade das Gegenteil, was in diesem Augenblick Sorgen macht: in einigen Ländern ist die Ueberproduktion zu einem Problem geworden, in Kanada, in den Vereinigten Staaten, in Australien sind bedeutende Mengen von Baumwolle, Zucker und Weizen unverkauft geblieben, und man sucht die Preise durch Verringerung der Anbaufläche zu verteidigen.

Wenn es wahr ist, daß die Menschheit täglich um 85.000 Menschen wächst, so geht aus dem Bericht der FAO doch auch hervor, daß die

Erzeugung von Nahrungsmitteln seit 1946/47 um 25 Prozent zugenommen hat, so daß sie, die Bevölkerungszunahme überflügelnd, den Menschen bereits mehr Nahrung als vor dem Kriege liefern kann. Aber 1954/5 5 ist diese Entwicklung jäh zum Stillstand gekommen, teils wegen der schlechten Witterung, vor allem aber wegen der freiwilligen Produktionseinschränkung in den genannten Ländern. Die wahre Gefahr droht also von hier: die rückläufige Bewegung der Produktion könnte durch die ungleiche Verteilung der Reichtümer ausgelöst werden. Unter den FAO-Delegierten und erst recht unter den Farmern gibt es wenige Anhänger des Neo-Malthusianismus. Es gibt wenige, die, wie der englische Pastor Thomas R. Mal-thus (1766 bis 1834), der Meinung sind, die Erde könnte einmal ihre Bewohner nicht mehr ernähren und man müßte zu freiwilliger Geburtenbeschränkung greifen. Es gibt nicht einmal viele, die an die Notwendigkeit glauben, Beefsteak und Schweinebraten müßten einmal durch fettreiche Algen ersetzt werden — eine wahrhaft trübe Aussicht. '

Aber während sich in Amerika die Surplus-Produkte häufen, bleibt der Konsum in weiten

Gebieten Asiens und Südamerikas unangemessen. Es fehlt in den Depressed areas an Geld, sich die Lebensmittel zu kaufen, und selbst wenn man sie ihnen schenken wollte, würden sie die Transportspesen nicht zahlen können, noch über die Magazine verfügen, wo die Lebensmittel aufbewahrt werden könnten. Nach den Erhebungen der FAO sind zwei Drittel der Menschheit schlecht ernährt, in dem Sinne, daß ihnen eine der wichtigsten Komponenten unserer Nahrung fehlt, zumeist die Proteine. Die Verwendung der „ungeheuren“ Stocks (der Ausdruck ist dem FAO-Bericht entnommen) in einigen Ländern ist somit eines der wichtigsten Themen auf der Welttagung des Internationalen Landwirtebundes in Rom geworden.

Welche Lösungen schweben den FAO-Ex-perten vor? Vor allem hoffen sie auf eine friedliche politische Entwicklung und internationale Entspannung, die zu R ü s t u n g s b e s c h r ä n-k u n g e n führen kann. Denn die zwölf Millionen Dollar, welche die FAO jährlich ausgibt, stellen nur ein Prozent der amerikanischen Rüstungsausgaben dar. Da die Landwirtschaftsund Ernährungsorganisation der Vereinten Nationen aber nicht die Hände in den Schcß legen kann, bis die ersehnte Entspannung Wirklichkeit geworden ist, muß sie andere erfolgversprechende Projekte ausarbeiten. Sie versucht die Regierung der Vereinigten Staaten zu veranlassen, die wirtschaftliche Entwicklung in den unterentwickelten Gebieten nicht durch Dollaranleihen, sondern durch Lieferung landwirtschaftlicher Ueberschußprodukte zu fördern. M. Ezechiel, wirtschaftlicher Direktor der FAO, hat in Rom über das Ergebnis seiner Studien in Indien berichtet. Dort ist unter anderem geplant, den Schülern und Studierenden Stipendien in Form von Lebensmitteln statt in Bargeld zu gewähren. Millionen indischer Kinder können die Schulen nicht besuchen oder müssen sie vorzeitig verlassen, weil sie ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen haben. Mit einem Aufwand von 38 Millionen Dollar, aufgeteilt in vier Jahren, würde Indien um 6000 Hochschüler, 60.000 Mittelschüler und 1,5 Millionen Volksschüler mehr haben. Ein weiteres Projekt besteht darin, daß den Bewohnern jener Dörfer, die lokale Bonifizierungen, Straßenbauten, Aufforstungen usw. durchführen wollen, Gratismahlzeiten verabreicht werden. Dr. M. Ezechiel hat errechnet, daß mit Lebensmittellieferungen im Werte von sieben Millionen Dollar hunderttausend Freiwillige und 5000 arbeitslose Akademiker für die Aufsicht angeworben werden könnten. Die FAO arbeitet detaillierte Pläne für derartige Lebensmittelinvestitionen aus. Ein Beispiel: Auf den drei Andamaneninseln könnte eine etwa 250 Kilometer lange Straße durch den Urwald gebaut werden. Der Wald besteht aus Edelhölzern und der Verkauf des geschlagenen Holzes würde, in dem Maße des Vordringens, das Unternehmen schließlich amortisieren und gewinnbringend machen. ,Es gäbe Arbeit für 60.000 Menschen und 200 Elefanten. Kostenpunkt: 14 Millionen Dollar in Lebensmitteln.

Die Ziffern des Voranschlages mögen zunächst erschreckend hoch erscheinen; sie sind jedoch gering, verglichen mit den enormen Kapitalien, die derzeit in Form von unverkäuflichen Ueberschußprodukten eingefroren sind. Holland hat sich bereits bereit erklärt, seine Lebensmittelüberschüsse der wirtschaftlichen Entwicklung in den Depressed areas zur Verfügung zu stellen. Die Regierung der USA zögert noch, aber die Farmer Amerikas, Wähler der Republikanischen Partei, sind entschlossen, auf die Verwaltung Eisenhowers einen, Druck auszuüben, damit ihre Produkte statt Dollars in die hilfebedürftigen Länder geschickt werden. Der Faure-Plan schließlich sieht die Verwendung der durch Rüstungsbeschränkung ersparten Summen in den unterentwickelten Gebieten vor.

Der Präsident des Rates der FAO, Universitätsprofessor Josue De 'Castro, ein Brasilianer, hat eine überraschende Theorie entwickelt: die Welt leidet Hunger, nicht weil sie überbevöl-' kert ist, sondern sie ist überbevölkert, weil sie Hunger hat. Dieser Erkenntnis sind lange Studien über den Einfluß einer proteinreichen Nahrung auf die Fruchtbarkeit bei Mensch und Tier vorausgegangen. An Ratten vorgenommene Experimente von J. R. Slonaker haben ergeben, daß fleischreiche Nahrung zu einer starken Verminderung der Fortpflanzungsfähigkeit führt, während proteinreiche Nahrung sie enorm steigert. In seiner „Geographie des Hungers“ hat Prof. De Castro den Zusammenhang zwischen Fleischkonsum und Geburtenindex in 14 Ländern statistisch nachgewiesen. Die beiden extremen Fälle werden durch Schweden und Formosa dargestellt: während in Schweden bei einem täglichen Konsum von 62,6 Gramm tierischer Proteine ein Geburtenindex von 15 zu verzeichnen ist, beträgt in Formosa dieser Index 45,6 bei einem Konsum von 4,7 Gramm. Die Reihe der Länder, bei denen der Index dem sinkenden Fleischkonsum entsprechend ansteigt, ist diese: Schweden, USA, Australien, Dänemark, Irland, Deutschland (Index 20, Konsum 37,3 Gramm), Bulgarien, Italien, Griechenland, Jugoslawien, Japan, Indien, Malsische Staaten, Formosa.

De Castro ist weit davon entfernt, dieses Phänomen auf rein biologische Ursachen zurückzuführen und die sozialen, psychologischen und spirituellen außer acht zu lassen. Aber das Verhältnis der beiden Faktoren ist so auffallend, daß der Rat des Präsidenten der FAO, „gebt heute mehr zu essen, wenn ihr morgen weniger sein wollt“, die Aufmerksamkeit der Regierungen verdient.

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