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Brücke Wissenschaft

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FRAGE: Der Titel Ihres Lehrfaches, „Sowjetologie“, dürfte für Laien, aber auch für viele Fachleute neu sein. Wie viele akademische Lehrer dieses Faches hat Österreich derzeit?

ANTWORT: Ich bin derzeit der einzige, der an österreichischen Hochschulen Vorlesungen über Sowjetologie hält. Es gibt dabei in Österreich an keiner Universität oder Hochschule einen Lehrstuhl für Sowjetologie, und ich halte meine Vorlesungen im Rahmen der philosophischen Fakultät der Universität Wien und im Institut für slawische Philologie (dort in russischer Sprache) nur auf Grund eines Lehrauftrages, der von Semester zu Semester erneuert werden muß.

FRAGE: Wie verhält sich die Sowjetologie zu den anderen Wissenschaften, und was ist ihr Inhalt?

ANTWORT: Die Sowjetologie ist eine junge Wissenschaft, die sich bisher nicht endgültig von anderen Wissenschaften hat abgrenzen können. An den Universitäten hat sie nur während des letzten Weltkrieges und besonders in der ersten Nachkriegszeit ihren Einzug gehalten. Zur Zeit ist die Anzahl der ausländischen Universitäten, in denen Sowjetologie vorgetragen wird, kaum zu übersehen, und es werden immer neue Lehrstühle angekündigt. An manchen Universitäten ist die Sowjetologie an die Institute für russische Sprache und Geschichte angegliedert, an anderen an die für politische Wissenschaften oder Soziologie. Erst in der letzten Zeit werden selbständige und unabhängige Lehrstühle für die gesamte Sowjetologie errichtet. In diesen Vorlesungen muß die Aufmerksamkeit auf alle Gebiete gerichtet werden, da sie einen unteilbaren Komplex bilden. Deswegen muß der Sowjetologe nicht nur die Geschichte und Kulturgeschichte Rußlands, sondern auch die Theorie des Marxismus und Leninismus, Geographie, Wirtschaftsentwicklung, ferner Ideologie, Rechtsgestaltung, Kunst und Literatur, Erziehungssystem, die Familiengestaltung usw. kennen.

FRAGE: Behandelt die Sowjetologie nur russische Probleme?

ANTWORT: Die Sowjetologie behandelt nicht nur russische Probleme, sondern auch die anderer kommunistischer Länder Europas. Für ein eingehendes Studium sowjetolo- gischer Erscheinungen in den ostasiatischen Ländern, gewisser Formen des sowjetischen Kommunismus in Afrika und anderes reichen leider die Mittel nicht aus, obwohl die Gegenüberstellung in vielen Fällen wichtig wäre. Da die Entstehung und Weiterentwicklung vieler Erscheinungen, wie des Staatsaufbaues, der Gesellschaftsstruktur und der Kultur, von vielen Faktoren abhängig ist und darunter die Geschichte und die Kultur eines Volkes und seine bisherigen Beziehungen zu seinen Nachbarn eine viel größere Rolle spielen als allgemein angenommen wird, ist für Österreich die Untersuchung der Entwicklung in den Nachbarländern, mit denen Österreich eine langwierige Geschichte und eine wechselseitig beeinflußte Kultur, darunter auch das ideologische Denken und das religiöse Leben, verbindet, von besonderer Bedeutung. Ich möchte es daher eine spezifisch österreichische Aufgabe der Sowjetologie nennen, auf Grund objektiven Wissens den Menschen, wie er heute lebt und denkt, au verstehen und die Kultur, die von diesem Menschen geschaffen wird, als das eigene Land formend und gleichzeitig in andere Länder ausstrahlend zu untersuchen. Dabei muß nicht nur festgestellt werden, unter welchen fördernden und verbietenden Normen seitens des Staates die Kulturwerke entstanden sind, sondern auch, welches Echo diese Kulturwerke bei den Menschen als „Kulturkonsumenten“ hervorrufen.

FRAGE: Sind die Kultur- und Wirtschaftsformen in Rußland die gleichen wie in den anderen kommunistischen Ländern?

ANTWORT: Man kann schon seit längerem nicht mehr von einem monolithischen Block der kommunistischen Staaten und ihrer Wirtschaft noch von einer nur nach dem Beispiel Moskaus ausgerichteten Kultur sprechen. Die Erscheinungsformen sind durchaus verschieden. So gibt es zum Beispiel das Kolchosensystem, das nach der Verfassung der Sowjetunion zusammen mit der Staatsindustrie die unentbehrliche Grundlage des Staates bildet, nicht in Jugoslawien, und auch in Polen äst der private Kleinbauernbetrieb die herrschende Form der Landwirtschaft, ohne daß diese Staaten dadurch ihren kommunistischen Charakter eingebüßt haben. Auch in der Kultur hat Polen nie die strenge staatliche Reglementierung der Kunst in der Form des sozialistischen Realismus mitgemacht und auch nie den engen Kontakt mit den modernen Kunstrichtungen Westeuropas unterbrochen. Sie läßt der Diskussion einen viel breiteren Raum, ohne daß damit die marxistisch-leninistische Ideologie vernichtet wäre. Das sind nicht Einzelfälle, sondern betrifft ganze Völker und große Gebiete, so daß auch mit diesen Erscheinungsformen eine Auseinandersetzung notwendig ist. Man kann bei den kommunistischen Staaten gewiß von einem Vorbild Moskaus — zu Stalins Zeiten: das einzige Vorbild und der einzige Weg — sprechen, doch entstünde ein falsches Bild, wenn man nur dieses eine Vorbild berücksichtigen würde. Man kann auch nicht leugnen, daß eine besondere Art von Polyzentrismus (auch ohne China!) innerhalb des Ostblocks besteht und an Bedeutung immer mehr zunimmt.

FRAGE: Kann Österreich zu diesem größeren Verstehen unter den Völkern und Menschen beitragen?

ANTWORT: Ich finde, daß gerade auf diesem Gebiet die Möglichkeiten und auch die Aufgaben Österreichs besonders groß sind. Einen Menschen und auch ein Volk kann man am besten verstehen, wenn man auf einer gemeinsamen Basis unter Anerkennung gemeinsamer Werte einen aufrichtigen Dialog führt. Gerade hier hat Österreich als neutraler Staat, der keine ungelösten Fragen mit seinen Nachbarn hat, als große Kulturnation, die so viele gemeinsame Werte mit anderen Völkern aufweist, und besonders als Nachbarstaat, der seine Nachbarn nicht nur aus Büchern und Untersuchungen, sondern aus langjährigen, sehr engen und rein persönlichen Kontakten kennt und wertet, große Chancen. Das hat sich schon jetzt auf der Universität und in der Arbeitsgemeinschaft Ost bei Vorträgen und Diskussionen mit Vertretern der Nachbarländer deutlich gezeigt.

FRAGE: Wie groß ist das Interesse der Studenten an Ihrem Fach?

ANTWORT: Ich kann mit Freude feststellen, daß das Interesse der Studenten an der Universität Wien für die Sowjetologie von Jahr zu Jahr zunimmt, was sich auch in der Anzahl der inskribierten Studenten ausdrückt. Neben den österreichischen Hörern zeigen besonders Studenten aus Deutschland und aus den USA dafür Interesse. Die Arbeit wird leider sehr erschwert durch das Fehlen einer Fachbibliothek, eines eigenen Seminars und einer ausreichenden Anzahl von Vorlesungsstunden .

FRAGE: Wie sehen Sie die Entwicklung Ihrer Tätigkeit in Österreich für die Zukunft?

ANTWORT: In Österreich habe ich meine Vorlesungen bis 1951 auch an der Hochschule für Welthandel gehalten. Von 1951 bis 1955 war ich an der Universität in Innsbruck tätig, wo die Mehrzahl meiner Hörer aus Deutschland kam. Diese bekundeten ein besonderes und praktisches Interesse für die Verhältnisse in Ostdeutschland. Die in Wien von der Arbeitsgemeinschaft Ost gegründete Ostakademie hat in den ersten Jahren ihres Bestandes auch systematische Vorlesungen über Fragen der Sowjetologie sowie Wirtschaftsfragen in den Ostländern gehalten. Es wurde damals der Versuch gemacht, den Hörern die notwendigen praktischen Kenntnisse für die Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen mit den Ostländern zu vermitteln. Das Hauptgewicht wurde aber auf den russischen Sprachunterricht gelegt, was bei den wenigen zur Verfügung stehenden Stunden — der Unterricht sollte auch den Erwerbstätigen zugänglich gemacht werden und konnte deshalb nur in den Abendstunden stattfinden — dazu geführt hat, daß die theoretischen Fächer immer weniger gepflegt wurden. Die große Aufgabe Österreichs wäre nun, alle Möglichkeiten, die sich aus seiner geographischen Lage und seiner kulturpolitischen Mittlerrolle ergeben, zu nutzen, darunter auch die Ausweitung des neuen Faches der Sowjetologie, nicht nur als Lehr-, sondern auch als Forschungsgegenstand, und zwar nicht nur in Wien, sondern auch an den neuen Hochschulen in Salzburg und Linz. Man darf dabei aber nicht vergessen, daß die Brücke zu den Nachbarvölkern und das Verständnis für den Osten nicht nur eine akademische Angelegenheit der betreffenden Hochschulen ist, sondern in das kulturpolitische Konzept des Staates überhaupt gehören. Das hat „Die Furche“ früh erkannt, indem sie schon immer den Ostfragen in ihren Spalten breiten Raum gewidmet hat.

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