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Budapest, 23. Oktober 1956

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Österreichische Zollbeamte lehnen sich an den Schlagbaum und blicken neugierig „hinüber“: Dort „drüben“ bewegen sich einige Soldaten vor dem Zollhaus, sie tragen, wie gewöhnlich, Maschinenpistolen bei sich, aber auf ihren Uniformröcken prangen rot-weiß-grüne Kokarden. Die Sonne scheint, es ist ein Wetter wie in Italien um diese Jahreszeit. Die Soldaten rauchen Zigaretten, gehen scheinbar ziellos hin und her. Eine Kolonne von Sanitätsfahrzeugen nähert sich von der ungarischen Seite der Grenze. Der Schlagbaum wird geöffnet, aber nur zwei, drei Männer kommen langsam herüber, sie deuten mit Handbewegungen an, daß sie telefonieren möchten. Die Österreicher begleiten sie in das Haus hinein.

Kurz darauf rollt in Wien die „Lawine der Menschlichkeit“ an. Im Rundfunk werden die Sammelstellen des Roten Kreuzes bekanntgegeben. Es ist ein Sonntag. An verschiedenen Plätzen der österreichischen Bundeshauptstadt wachsen Menschenschlangen. Zehntausende Pakete mit Kleidern, Konserven, Medikamenten werden abgegeben. Verbandstoffabriken öffnen ihre Lager. Eine Mineralölfirma spendet Treibstoff für die Rot-Kreuz-Auto- kolonnen, es fehlen nur noch Kanister. Ein Aufruf im Rundfunk in den Mittagsstunden: 30 Minuten später stapeln sich an der angegebenen Tankstelle auf dem Wiener Westbahnhof an die fünftausend Kanister.

Wien wird zum Umschlagplatz der Menschlichkeit und im übrigen zu jenem Punkt, von wo die Nachrichten in alle Welt hinausgehen. Mit Flugzeugen, mit der Bahn und mit Autos strömen die Korrespondenten und die Experten der Weltnachrichtenagenturen und der größten Zeitungen der Erde herbei, um von diesem vorgelagerten Posten aus zu berichten. Viele fahren zur Grenze hinunter. Einige wenige riskieren die Fahrt ins „Niemandsland“, denn so sieht es in Ungarn aus, wenn man vom Schlagbaum hinüberblickt. Verlassene Felder, leere Straßen. Der Herbst macht sich überall bemerkbar.

In fieberhafter Eile versuchen die Experten, die „Lage“ zu rekon- stuieren. Telefone und Fernschreiber kommen Tag und Nacht nicht zur Ruhe. Der Zigarettenkonsum erreicht Rekorde. Niemand war auf die Eruption vorbereitet. Man war abgelenkt worden: durch Polen,

durch Suez.

Eine belgische Regierungsdelegation weilt gerade in Moskau, wird von Marschall Bulganin, von Chruschtschow und den übrigen Mitgliedern der Sowjetführung empfangen; Mikojan und Suslow fehlen. Sie sind in aller Heimlichkeit nach Budapest geflogen. In einem Panzerwagen fahren sie vom sowjetischen Militärflugplatz in die Stadt, man sieht sie beim Verlassen der Parteizentrale in ihren dunkelblauen Wintermänteln, die lächeln, schütteln Hände, dann besteigen sie wieder das Fahrzeug, das sich ratternd in Richtung Flugplatz in Bewegung setzt.

Der Gongschlag...

Niemand beachtete die Anfänge. Es braucht immer eine gewisse Zeit,

bis das Trägheitsmoment überwunden ist.

Eine österreichische Delegation kehrt in jenen Tagen aus Budapest zurück, wo sie über Erleichterungen im Donauverkehr verhandelt hatte. Im Autokonvoi, geleitet vom diplomatischen Vertreter Österreichs.

Sie berichten über ihre Erlebnisse. Auf den Straßen waren Panzer erschienen, zunächst dachte man, es handle sich um irgendeine Übung. Das Radio kündigte an die sem Tag, es war der 23. Oktober, mehrmals an, Ernö Gero, der Erste Sekretär des Zentralkomitees der ungarischen KP, werde in einer Rundfunkrede über seinen soeben absolvierten Besuch in Jugoslawien berichten. Die Rede wird am Abend tatsächlich gesendet. Kurz vor Mitternacht wird das laufende Musikprogramm unterbrochen und in der entstandenen Stille nach einem Gonigschlag die „außerordentliche Nachricht“ bekanntgegeben, wonach das Politbüro der Partei „zur Auswertung der Lage und zur Festlegung der zu ergreifenden Maßnahmen für sofort einberufen wurde“. Es folgt „heiße Musik“, wie sie in Ungarn bisher nur durch die westlichen Rundfunkprogramme bekannt war: Oscar Peterson, Louis Armstrong ... Die „außerordentliche Nachricht“ wird mehrmals wiederholt. Am nächsten Tag kommt das Ausgehverbot. Aber niemand mehr hält sich daran. „Die Säuberung der Straßen von den plündernden gegenrevolutionären Banden ist noch im Gange ..

In den Sitzungszimmern begann es

Der Revolution auf der Straße ging die Revolution vorerst in den Sitzungszimmern und dann in den Versammlungshallen voraus. Der „monolithische Block“ des Politbüros war schon im Frühjahr 1953 angeschlagen, als Matthias Räkosi als Ministerpräsident zurücktreten mußte. Räkosi war „der beste Schüler“ des toten Stalin, sein Nachfolger Imre Nagy war der Schützling Malenkovs.

steiler Julius Häy, Tibor Dėry und noch manche andere hervor, deren Namen auch im Westen ein Begriff wurde. Im Petöfi-Kreis, im Schriftstellerverband, an den Hochschulen gärte es. Die Revolution fand zunächst im Saale statt.

Die Diskussion ergoß sich auf die Straße

Die große Mehrheit der Bevölkerung, die nicht aus Kommunisten bestand, begriff noch nichts. Nach dem Sturz Räkosis durch Mikojan veranstaltete die unsicher gewordene Partei ein nachträgliches Staatsbegräbnis für den 1949 auf Parteibeschluß hingerichteten Rajk und seine Genossen bei strömendem Regen am 6. Oktober 1956. Hunderttausende zogen an den Särgen vorüber. Unter den Trauergästen sah man überlebende Opfer und die Machthaber nebeneinander.

Schon Wochen vorher ergoß sich die „Diskussion“ auf die Straße. Bei der „Wirtschaftsdiskussion“ des Petöfi-Kneises gab es dreihundert Zuhörer. Bei der „Philosophendiskussion“ waren es eintausend, bei der Debatte der Parteiaktivisten fünfzehnhundert und an der „Pressediskussion“ am 27. Juni 1956 nahmen bereits sechstausend Menschen teil. Im Offiziersklub der Volksarmee, wo der Abend stattfand, wurden neben dem großen Saal alle kleineren Räume, Büros, Treppen und Korridore dicht besetzt. Die Menschen standen auch im Hof und auf der Straße, wo man Lautsprecher montiert hatte. Es regnete, aber die Menge harrte volle neun Stunden bis in die Nacht aus. Redakteure der Parteizeitung, Schriftsteller, Professoren sprachen leidenschaftlich über Pressefreiheit, über die Freiheit des Geistes, über die letzten Zehn Jahre. Sie forderten die Reform der Partei und die Rückkehr von Imre Nagy in die Partei, aus der ihn Räkosi ausgeschlossen hatte.

Am 23. Oktober 1956 in aller Frühe verteilten die Budapester Studenten Flugblätter, die ihre 14, dann 17 „Punkte“ enthielten: Forderungen nach Auszug der Sowjettruppen im Sinne des Friedensvertrages, nach geheimer Wahl aller kommunistischen Parteifunktionäre, nach einer Regierung Imre Nagy, nach allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlen, nach einer Bestrafung Räkosis und seiner Komplizen, nach Streikrecht und anständiger Entlohnung der Arbeiter, nach Reorganisierung der Wirtschaft und noch andere Forderungen symbolischer Art (Staatswappen, Rückkehr zur traditionellen Soldatenuniform, Solidarität mit der polnischen Jugend). Am Nachmittag versammelte sich eine Viertelmillion Studenten und Arbeiter vor den Denkmälern des Dichters Petöfi und des polnischen Generals Bern, der während des ungarischen Freiheitskampfes der Jahre 1848 bis 1849 eine große Rolle gespielt hatte. Es wurden Reden gehalten. Die demonstrierende Menge zog vor das Parlament, um Imre Nagy zu hören, vor das Rundfunkgebäude, wo die ersten Schüsse fielen, und schließ lich zum Stalin-Denkmal, das in der Nacht unter dem Jubel der Menge gestürzt wurde.

Von den Ereignissen überrollt

Das Innenministerium hatte die Demonstration verboten, als sie aber bereits im Gange war, doch offiziell erlaubt. Der ständig wechselnde Ton der Verlautbarungen verriet große Unsicherheit. Noch am selben Abend wurde der erst während des Tages aus der Provinz nach Budapest zurückgekehrte Imre Nagy in die Parteizentrale in der Akademiestraße geholt und zur Mitwirkung in der Regierung überredet. Am 24. Oktober in der Früh wurde bekanntgegeben, Imre Nagy habe den Posten des Regierungschefs übernommen. Erst zögernd waren die Vertreter des alten Regimes bereit, ihre Posten zu verlassen. In den Augen der Revolutionäre war Nagy diamit kompromittiert. Zudem hatte „die Regierung“ die Sowjettruppen um Hilfe ersucht. Unter solchen Umständen konnte es Nagy nicht mehr gelingen, das Vertrauen der erregten Bevölkerung, die noch gestern von ihm die bessere Zukunft erwartet hatte, zu erwerben. Während draußen die Straßenkämpfe tobten und der Generalstreik die Arbeit im ganzen Land lahmlegte, verhandelte Nagy mit jedem, der zu ihm kam, und setzte Erklärungen aufs Papier, die sich wie Konzessionen lasen, obwohl ihnen ein wohlüberlegtes demokratisches Konzept zugrunde lag. Aus den Fenstern, aus den Kanonen der Panzer wurde geschossen, auf den Straßen lagen Tote, Verbrecher und die man dafür hielt wurden gelyncht, eine ungeheuerliche Erregung erfaßte selbst den verhältnismäßig passiv gebliebenen Teil der Bevölkerung. Imre Nagy wirkte in dieser Situation doktrinär, ein Mann mit den besten Absichten, der aber von den Ereignissen überrollt wurde.

Vom Sieg zur Niederlage

In New York tagt der Sicherheitsrat. Zwischen den Großmächten werden Protestnoten ausgetauscht. Die Aufständischen glauben an eine bevorstehende Intervention des Westens und vermuten in Journalisten, die das UNO-Emblem tragen, erste Vorboten der Truppen der Vereinten Nationen. Dann gibt die Sowjetunion eine Erklärung über ihre künftigen Beziehungen mit den sozialistischen Staaten ab. Darin erklärt sie sich bereit, über die Frage der Stationierung ihrer Truppen in Ungarn mit der ungarischen Regierung zu verhandeln. Aus Budapest ziehen d e Sowjettruppen tatsächlich ab, und der Abzug aus Ungarn wird versprochen, ja eingeleitet. Der 30. Oktober, an dem Tag, an dem dieser Schritt der Sowjetregierung bekannt wird, scheint allen innerund außerhalb Ungarns als der Sieg der Revolution, als ein Wendepunkt in der Nachkniegsgeschichte. Polen, Jugoslawien, ja damals selbst Ohina, begrüßen diese Entwicklung. Der Ton der Sowjetpresse ist versöhnlich. Aber der Generalstreik geht weiter, und die Revolutionäre legen ihre Waffen nicht nieder. Es kommt zu brutalen Ausschreitungen einiger Gruppen, zu Fällen einer Lynchjustiz, die man selbst mit noch so großem erlittenem Leid nicht recht- fertigen kann. Und in Moskau gewinnen allmählich wieder jene Kräfte Überhand, die im Nachgeben in Ungarn den Anifang eines dann mit Sicherheit zu erwartenden Abbröckelns des sowjetischen Imperiums erblicken. Der Abmarsch wird gestoppt. Und am 1. November melden plötzlich viele Augenzeugen das Hereinströmen neuer großer Truppenverbände. Das Blatt wendet sich.

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