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Budget als Prüfstein

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Am Anfang war Friede. Auf den Frieden folgte ein Kampf aller gegen alle. Die Menschen sehnten sich nach Sicherheit. Da hoben sie einen Mann auf den Schild. Die Macht verführte ihn (oder einen Nachfolger) zur Despotie. Die Menscher! sehnten sich nach Freiheit und stürzten den Tyrannen. Und erfanden die Demokratie. Die Demokraten redeten, stritten und waren zu schwach, die Probleme zu lösen. Die Menschen sehnten sich nach Ordnung und Autorität. Es erscholl der Ruf nach dem starken Mann. Es kam der Diktator. Er mißbrauchte die Macht. Die Menschen sehnten, sich nach Frieden in Freiheit... und so dreht sich das Rad der Geschichte. Das ist der ewige Zyklus.

Das Streben, dem Gemeinwesen die beste Lebensform zu geben, ist die Politik. Und eine Friedenspolitik ist die Fortsetzung des Kampfes mit subtileren Mitteln. Einst waren die Meinungsverschiedenheiten ein Casus belli. Dann erfand man einen Modus vivendi. Heute geht es um den Modus procedendi. Auch die parlamentarische Demokratie braucht Autorität — aber ihre Kraft liegt nicht im Befehl, und sei es der Gesetzesbefehl, sondern in der Ausstrahlung von Regierung und Parlament. Nur ein Parlament, das seine Kraft nicht in ständigem inneren Kampf verbraucht, nur ein Parlament, das seine verfassungsmäßigen Aufgaben erfüllt, das Gemeinschaftsleben einer pluralistischen Gesellschaft sinnvoll zu ordnen, das den Staatskörper in guter Verfassung erhält, hält den Zyklus bei der Marke „Parlamentarische Demokratie“.

Noch in der jüngeren Geschichte Österreichs rotierte dieser Zyklus in einem Tempo, daß Gefahr bestand, aus der Völkergemeinschaft herausgeweht zu werden. Wir hatten einen raschen Wechsel von Staats- und Regierungssystemen, Monarchie und Republik, Demokratie, Diktatur, Annexion und Okkupation. Es gilt nun, die parlamentarische Demokratie zu erhalten und dem Homo Austriacus die ihm gemäße Lebensform in der modernen Welt zu sichern.

Soll das Werk gelingen, muß das Umspannwerk der gesellschaftlichen Ströme, das Parlament, funktionieren. Mehr noch: Mit dem Modell Baujahr 1920 und der Methode 1848 kann das parlamentarische Kraftwerk nicht mehr die nötigen Impulse geben, es kommt zu Leistungsabfall, Fehlleitungen, Kurzschlüssen. Nun sind Verfassungs- und Geschäftsordnungsänderungen immer ein Problem, man weiß — zum Unterschied vom eingelegten System — nie genau, was herauskommt. Man scheut daher institutionelle Reformen, um so mehr, als sie vielfach mit dem Maßstab der Wahlgeometrie konstruiert werden. Aber die Methoden ließen sich ohne Prestigeverlust verbessern, die Parteien und damit das Parlament und das Staatsganze würden davon nur profliitiieren.

Österreich ist ein demokratischer Rechtsstaat. Für den Bürger wird der Unterschied zwischen Demokratie und Diktatur vor allem im Verhalten der Exekutivgewalt evident. Es läßt sich so ausdrücken: Die Polizei, dein Freund und Helfer — oder: Die Polizei, dein Feind und Häscher. Ein weiterer Unterschied zwischen parlamentarischer Demokratie und parlamentarischer Diktatur — denn die Diktatur verhüllt sich ja in der Moderne mit einem parlamentarischen Mäntelchen: In demokratischen Parlamenten geben die Abgeordneten den Ton an, die Minister haben Rede und Antwort zu stehen — in einer parlamentarischen Diktatur haben die Abgeordneten zu akklamieren, was die Führer sagen. Im ersten Falle eine reiche Palette parlamentarischer Presseberichterstattung, im anderen die fast wörtliche Wiedergabe der Führerreden in gleichgeschalteten Zeitungen. Demokratie Dedeutet Kontrolle, Korrektur. Demokratie heißt Diskussion. So gern dieser Satz zitiert wird, so leicht vergißt man die Konsequenz, die ihm erst Sinn gibt: Diese Diskussion darf nicht Selbstzweck sein. Es geht bei uns auch nicht mehr darum, parlamentarische Redefreiheit zu demonstrieren.

Damit ist Sinn und Zweck parlamentarischer Reden vorgezeichnet. Ein Parlament ist ein Forum sui generis. Das ideale Parlament ist daher weder Wahlversammlung noch Hörsaal, weder Stegreifbühne noch Debattierklub. Hier sollten weder Wahlreden noch Vorlesungen gehalten werden, nicht der Vortrag, sondern die Wechselrede ist die dem Parlament adäquate Ausdrucksform. Die große Versuchung des Politikers ist die große Rede. Die Dauer der Budgetdebatten der letzten fünfzehn Jahre beweist es: Die durchschnittliche Dauer der Budgetverhandlungen im Plenum des Nationalrats belief sich in den Jahren 1955 bis 1964 auf rund 62 Stunden, in den Jahren 1966 bis 1969 betrug sie 112 Stunden. Den Höhepunkt erreichten die Budgetverhandlungen im Dezember 1968 mit 159 Stunden. Nimmt man die Ausschußberatungen hinzu, zeigt sich, daß der Bundesvoranschlag 1969 im Nationalrat genau 250 Stunden beraten wurde.

Die Dauer der Plenarsitzungen sagt freilich an sich noch nichts aus. Die Frage ist: In welchem Verhältnis stehen Aufwand und Effekt. In der Frühzeit des Parlamentarismus waren lange Plenarsitzungen mit endlosen Debatten an der Tagesordnung. Was zur Folge hatte, daß nur relativ kleine Tagesordnungen erledigt werden konnten. Als sich die Erkenntnis durchsetzte, daß diese Methode nicht zielführend sei, verlagerten sich die Detailberatungen immer mehr in Komitees und Ausschüsse. Im Plenum wurden grundsätzliche Stellungnahmen abgegeben beziehungsweise die politischen Streitfragen diskutiert. Unversehens und scheinbar unmerklich ist eine Umkehr mit einer neuerlichen Verlagerung der Verhandlungen in das Plenum eingetreten. Man ist versucht, zu sagen: Aus einer parlamentarischen Kinderkrankheit entwickelte sich ein chronisches Übel.

Das Musterbeispiel ist die Budgetdebatte, wie schon die angeführten Zahlen zeigen. Da erwiesenermaßen im Finanz- und Budgetausschuß selten, im Plenum praktisch überhaupt keine Änderungen am Budgetentwurf vorgenommen werden, liegt dieser sechswöchigen Monsterdebatte (drei Wochen Ausschuß, fast drei Wochen Plenum) zweifellos nicht der Zweck zugrunde, auf Grund des Meinungsaustausches die Regierungsvorlage abzuändern. Und selbst bei der jetzigen Form der Mlnder-heitsregierunig wird die Opposition ihre Abänderungsanträge gerade bei einer so komplizierten Materie zweckmäßigerweise nur im Ausschuß stellen können. Die Plenardebatte trägt daher vorwiegend politischen Charakter, mit dem Ziel, „im offenen Haus“ und „vor der Öffentlichkeit“ die Parteistandpunkte darzulegen und jedem Abgeordneten die Möglichkeit zu geben, sich vor seinen Wählern zu legitimieren. Doch auch dieser Effekt muß füglich bezweifelt werden.

Eine wochenlange Marathondebatte ist „unfaßbar“. Weder die unmittelbar betroffenen Volksvertreter noch die Massenmedien vermögen diese Redeflut zu fassen. Das „offene Haus“ ist zwangsläufig ein oftmals nur schütter besetztes Haus. In der Fernsehübertragung ergibt das eine ausgesprochen schlechte Optik, in der Presse negative Kommentare: Debatte über Landesverteidigung „plätscherte lustlos dahin“, „Monstersitzungen, an denen keiner Freude hat, und Dauerreden, die niemand anhört“, „Lustlos von neun Uhr früh bis Mitternacht“. Da überdies die Massenmedien nur einen geringen Bruchteil dieser Fülle publizieren können, ist ein Großteil der Reden weder für die Öffentlichkeit noch pro domo gesprochen, sondern für das stenographlache Protokoll. Weniger wäre also gerade hier mehr. Aufwand und Effekt sind geradezu umgekehrt proportional. Der Schaden, der dem Parlament als Institution und damit allen Volksvertretern durch eine schlechte Optik entsteht, ltt zweifellos wesentlich größer alt der Nutzen, der einem Abgeordneten in «einem Wahlkreis auf Grund «einer Intervention zu erwachsen vermag. Und die aufgewendete Mühe wird mit einem Schlag entwertet. Nicht selten entlädt sich die durch die lange Sitzungsdauer aufgestaute Nervosität explosionsartig — oft aus nichtigem und keineswegs lebenswichtigem Anlaß —, und der Eklat ist da. Diese parlamentarischen Zusammenstöße finden dann In den Massenmedien weit größeren Niederschlag als die sachliche Arbeit und erzeugen nicht den Eindruck eine« arbeitenden, sondern eines streitenden Parlaments. Und das ist ein weitere» Kriterium für Demokratie und ein evidenter Unterschied zur Diktatur: Im autoritären System heißt es: Achtung, Feind hört mit! oder: Der große Bruder «leht dir zu! In der Demokratie sind die Rollen vertauscht, der Femseher beobachtet die Tätigkeit seiner Deputierten, seines Parlaments. Der Staat«- und Wahlbürger identifiziert sich nach solchen Szenen nicht mehr mit seiner Volksvertretung, er akzeptiert sie nur noch als das kleinere Übel. Die Einsicht in die Unzweckmaßig-keit dieses Traktierens gewinnt langsam an Boden. Dr. Withalm gab zu erwägen, das Budget eingehend Im Finanz- und Budgetausschuß zu diskutieren, die Erörterung im Plenum jedoch auf eine dreitägige Grundsatzdebatte zu beschränken. Dr. Hauser bezeichnete die Budgetdebatte im Plenum al« eine „gigantische Arbeitsbehinderung“ und erklärte: „Es war ein ungeheurer Zeitverlust, es ist eigentlich ein rhetorischer Heumarkt. Er hindert uns an der Arbeit. Auch da« Volk nimmt es nicht «ehr gut auf. Es Ist fast schon die Perversion einer Budgetdebatte. Wir überdrehen da. Würden wir es kürzer, sachlicher tun, wir würden der Bevölkerung mehr bieten als mit Beschimpfungen.“ Dr. Broda wiederum sprach von einer „Budgetdoppeldebatte, die die übrige parlamentarische Arbelt während zweier Monate lahmlegt“. Fazit: Nicht die Monsterdebatte ist das Wesen des Parlamentarismus, nicht die Marathonsitzungen werden von der Bevölkerung estimiert und honoriert Die Bevölkerung braucht die Normen, die das Gemeinschaftsleben ordnen — und wie viele Regierungsvorlagen, Initiativanträge und Berichte bleiben jede Gesetzgebungsperiode unerledigt —, die Bevölkerung will Antwort auf die Lebensfragen. Vielfach nehmen die Abgeordneten dann in mündlicher Aussprache zu Problemen Stellung, wenn ein Gesetzentwurf vorliegt oder das Budget behandelt wird. Dabei fällt die zeitlich gebundene Budgetdebatte oder dl« Einbringung eines Gesetzentwurfes, die mancherlei Imponderabilien unterworfen l«t, durchaus nicht Immer mit einem aktuellen Geschehen zusammen. Das hat zur Folge, daß, wahrend «ich die Bevölkerung mit brennenden Fragen befaßt, die Abgeordneten «Ich «n Themen entzünden, an denen das öffentliche Interesse schon wieder erloschen Ist. Mit einer Aktualisierung det parlamentarischen Geschehen« und der Überschaubarkelt der parlamentarischen Arbeit wird automatisch die erstrebte Aufwertung des Parlaments einhergehen. Das Parlament Ist vielfach in «einer Methode noch der Vergangenheit verhaftet. Im Parlament hat die Zukunft noch nicht begonnen. Aber das Parlament darf sich nicht selbst blockieren, es darf sich von Reformen und Strukturverbesserungen nicht ausschließen. Denn: Gewiß ist ein unzulängliches Parlament besser als die bestfunktionierende Diktatur — aber ein unzulängliches Parlament war noch immer der Wegbereiter der Diktatur. Der gute Ruf des Parlaments aber ist der beste Garant gegen den Ruf nach dem starken Mann.

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