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Chancendes Ost-West - Gesprchs

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Die Weltpolitik gleicht in diesen Wochen einem arithmetischen Puzzle. Man fragt sich, ob die stillstehenden Verhandlungen zwischen den zwei Weltmächten, oder den drei führenden Mächten, oder noch besser zwischen den traditionellen „vier Großen“ wieder aufgenommen werden sollten. Man weiß nicht, ob der fleißige Briefschreiber im Kreml wahrlich eine Entspannung mit Amerika anstrebt oder nur verhindern will, daß London und Washington die rissig gewordene angelsächsische Einheit wieder festigen. Sollte nun Moskau im Laufe des Briefwechsels mit Washington nach genauer Berechnung etwas Ballast abwerfen, nicht genug, um jenseits des Atlantiks einen Stimmungsumschwung herbeizuführen, aber genug, um in Westeuropa Verwirrung hervorzurufen, dann würden sich innerhalb der NATO Unstimmigkeiten zeigen, zumal in Griechenland bereits starke innerpolitische Kräfte für einen neutralen Kurs eintreten, in Frankreich die Tendenz zur Verständigung mit Rußland eben neue Blüten treibt, und in Italien die Linke einen wachsenden Einfluß auf die Innenpolitik hat. Auch an der Nordflanke der NATO beginnen sich die weltpolitischen Konturen zu verwischen, denn der Beitritt des absolut neutralen Finnlands zur nordischen Gruppe könnte sich auf die Haltung Norwegens und Dänemarks auswirken.

Bevor also der Westen überhaupt daran denken könnte, zu einer zweiten Runde in Genf anzutreten, muß er bei sich selbst eine Art politisches Inventar aufnehmen. Dies sollte nun rasch erfolgen, denn der Westen kann es sich nicht leisten, Rußland gegenüber auf Zeitgewinn zu spielen. Damit würde er seine moralische Lage bei den unterentwickelten Nationen weiter aushöhlen und bei einigen atlantischen Partnern große innerpolitische Schwierigkeiten heraufbeschwören! Er darf aber auch keine Politik gegenüber dem Ostblock einschlagen, die seinen inneren Zusammenhalt schwächen könnte- Mit diesen zwei allgemeinen Hinweisen sind wohl die Standorte der weltpolitischen Scylla und der innerpolitischen Charybdis nicht mit kartographischer Genauigkeit bestimmt worden, und auch die atlantischen Seefahrer kennen sie nicht genau. Sie wissen bloß, daß die Fahrtrinne schmal ist und daß jedes Abweichen nach- links oder nach rechts in sehr gefährliche Gewässer führen müßte.

Die inneren Schwierigkeiten der atlantischen Gruppe sind hingegen Bulganin wohlbekannt und vielleicht bezweckten seine beiden Briefe an Präsident Eisenhower eben die Verschärfung der Gegensätze im rivalen Lager. Es ist auffallend, daß sich Rußland diesmal ausschließlich an Amerika wendet, wogegen es früher immer die Vierer-Gruppe von Potsdam zusammenzutrommeln trachtete. In den ersten Nachkriegsjahren hätte es der Logik der Lage mehr als heute entsprochen, die weltpolitischen Entscheidungen zwischen den zwei Giganten auszuwürfeln Wenn also der Kreml just mit dem Vorschlag hervortritt, die Weltpolitik zu zweit zu bestimmen, so dürfte dahinter die Absicht liegen, zwischen London und Washington neue Zwietracht zu säen.

Welchen Kurs soll nun Washington einschlagen, um die eigenen Interessen und auch diejenigen der atlantischen Gruppe zu wahren? Ein stures Festhalten an den Genfer Bedingungen wäre bestimmt ein politischer Fehler. Man hat seither erfahren, daß amerikanische Spezial-flugzeuge aus 4000 Meter Höhe photographische Aufnahmen gemacht haben, auf denen jedes einzelne Wäschestück, das in einem Bauernhofe zum Trocknen aufgehängt war, deutlich identifiziert werden konnte. Man weiß auch bereits, daß diese, Flugzeuge in vier Stunden einen 80 Kilometer breiten Streifen von Washington bis San Francisco kontrollieren können und daß die neueste „Eva“-Kamera selbst bei stockfinsterer Nacht jeden Gegenstand photographie-ren und echten Wald, echtes Laub, von Tarnungen unterscheiden kann. Unter solchen Umständen kann Moskau die gegenseitige Luftkontrolle, die Präsident Eisenhower vorgeschlagen hat, vorerst nicht zulassen. Sollte also Amerika diesen Vorschlag vorerst zurückstellen, dann könnte es andere Anregungen mit um so größerem Nachdruck vertreten, und es gibt solche, die den Preis wert sind. So müßte es bei den unterentwickelten Ländern — um deren Sympathien Moskau den ganzen propagandistischen Feldzug zu führen scheint — einen großen Eindruck hinterlassen, wenn der Westen ganz aufhören würde, über gegenseitige militärische Kontrollen zu sprechen, hingegen die Erleichterung der Fühlungnahme zwischen den Nationen in den Vordergrund stellen würde.

Mit einem Los könnte dabei der Westen gleich zwei große politische Treffer machen.

Im Felde der Tagespolitik würde eine konstruktive Haltung Washingtons gegenüber den wiederholten Anbiederungen Moskaus überall eine gute Wirkung ausüben. Die Vorbedingung, daß Moskau die Kontakte zwischen den Nationen nun endlich erleichtern sollte, würde überall sympathisch wirken; jedenfalls kennte sie der Kreml nicht rundweg ablehnen, und hätte er sich einmal im voraus zu konkreten Abmachungen nach gewissen Richtlinien verpflichtet, so wäre es ihm doppelt schwer, sie nachher durch Umdeutungen wieder illusorisch zu machen. Auf lange Sicht dürfte aber die Annäherung zwischen den Völkern überhaupt die tinzige Möglichkeit darstellen, dem kalten Krieg ein Ende zu bereiten. Sie wäre mehr wert als die strengste Kontrolle aus dem Luftraum oder ein noch so präzises Abrüstungsabkommen. Wo Mißtrauen besteht, kann man auch mit den genauesten Vorschriften die Gefahr von Konflikten nicht bannen; wenn aber die Völker sich besser kennen würden, dann könnte kein noch so dogmatisch befangener Bolschewik den breiten Massen in Rußland die Berechtigung eines ideologischen Kreuzzuges vorgaukeln.

Es gibt also — trotz den Enttäuschungen seit Potsdam und trotz dem Mißerfolg in Genf — Möglichkeiten, um mit den Russen ins Gespräch zu kommen, ohne dabei ihre politischen Postu-late zum Programm für die Konferenzarbeiten zu erklären. Der Westen würde bei neuerlichen Gesprächen nicht nur Risiken auf sich nehmen er hatte auch Gewinnchancen.

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