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Charles de Gaulle

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Die letzten Jahrzehnte haben viele interessante Staatsmänner hervorgebracht, und unter diesen verdient General de Gaulle bevorzugte Beachtung, nicht nur wegen des vollbrachten Werkes, sondern auch wegen seiner Persönlichkeit. De Gaulle gehört zur Garnitur der Berufssoldaten, die später auf die politische Bühne hinüberwechselten und die in der jüngsten Geschichte in nicht weniger als drei Dutzend Staaten das Staatsoberhaupt, den Regierungschef oder bedeutende Parteiführer stellten. Die Tat de Gaulies ist die Befreiung Frankreichs aus den Nöten des zweiten Weltkrieges, die eindrucksvoll vor der ganzen Welt steht und die vollauf genügt, den Namen des Befreiers für immer unter die ganz großen Gestalten der Geschichte einzureihen. Nun wird dieses Lebenswerk wirksam durch die Erinnerungen ergänzt, die als „M e m o i r e s de Guerre. L'Appel 1 94 0— 1 9 4 2“ vor kurzem bei Plön in Paris erschienen sind. Sie umfassen die Zeit vom Zusammenbruch Frankreichs im Juni 1940 bis zum 18. Juni 1942, dem zweiten Jahrestag jener Londoner Rundfunkansprache, mit der de Gaulle das Freie Frankreich aus der Taufe hob. Es gibt schon eine ganze Serie historischer Abhandlungen über das Frankreich der Jahre 1940 bis 1945, so von Joubert, Godfroy, Robert, Decoux und anderen Autoren, so daß der allgemeine Ereignisablauf in seinen Hauptzügen bereits feststeht. Was jetzt General de Gaulle persönlich beiträgt, hat seinen speziellen Wert für die Erkenntnis von der Rolle des einzelnen in der Geschichte, die — wie es sich neuerdings erweist — immer wieder eine überragende ist. Die Memoiren teilen sich in 261 Seiten Text und 419 Seiten Dokumente mit fünf Karten und Plänen, halten sich somit an das bewährte Beispiel Conrads, der ebenfalls den dokumentarischen Quellen einen breiten Raum in seinen Memoiren eingeräumt hat. Die große Sachlichkeit, Gewissenhaftigkeit und Vollständigkeit der Bearbeitung, gefördert durch einen fließenden Stil, sichern den Denkwürdigkeiten des französischen Staatsmannes einen gehobenen Rang innerhalb der Kriegsliteratur.

Die Einleitung befaßt sich mit der Vorgeschichte des Jahres 1940 und berichtet von den Reformplänen de Gaulies, die auf Schaffung einer beweglichen Panzerstoßarmee mit Berufspersonal abzielten, mit welcher man neben der mobilisierten normalen Armee ein passives Verharren in der Maginotlinie hätte verhindern sollen. De Gaulle sah einen langwierigen und vehement geführten Krieg voraus und warnte davor, untätig den Feind gewähren zu lassen, er trat in Wort und Schrift dafür ein, initiativ vorzugehen, sobald die Waffen zu sprechen haben. Noch während des Polenfeldzuges wollte er Deutschland angreifen, statt unschlüssig abzuwarten, doch drang er mit seinen organisatorischen und strategischen Ratschlägen nicht durch, er konnte weder P e t a i n noch W e y g a n d oder D e b e n e y gewinnen. Der Glaube an die allein 'seligmachende Panzerarmee — schon lange in Frankreich und England lebendig gewesen — war bei de Gaulle so stark, daß er es auch Hitler als groben Fehler vorwirft, 1941 nicht mit allen zusammengefaßten Panzerverbänden einen einzigen Stoßkeil auf Moskau gebildet zu haben. Natürlich bleibt die Frage offen, ob eine zeitgerechte Armeereform mit durchgreifender Aende-rung der strategischen Pläne Frankreich 1940 vor der Katastrophe bewahrt hätte, ob diese nicht vielmehr vorwiegend ein psychologisches Problem war, eine Schockwirkung der Hitlerschen Ueberfalls-strategie gegen einzelne isolierte Teile einer in sich zerfallenen Staatenwelt. Die Maginotlinie hätte bei besserer Bündnispolitik und größerer seelischer Widerstandskraft des Volkes sicher entsprechende Dienste leisten können, auch Deutschland baute seinen Westwall, und in Korea gab es abermals eine regelrechte Stellungskriegslinie wie im ersten Weltkrieg. Die 1940 vorhanden gewesenen 3000 französischen Panzer kapitulierten weniger vor dem Feind als vor einer unzureichenden inneren und äußeren Politik.

Als sich de Gaulle am 18. Juni 1940 um 18 Uhr im englischen Rundfunk der Welt als das Freie Frankreich vorstellte, war er buchstäblich allein, „allein, von allem verlassen, wie ein Mensch am Ufer des Meeres, das er durchschwimmen will...“ An anderer Stelle heißt es: ..Der Chef ist im Unglück immer allein.'“ Ohne Landgebiete, ohne Regierung, ohne Streitkräfte und ohne Geld beschritt der General seinen neuen Weg Nicht das Militärische, nicht das * Staatsmännische bezaubern an de Gaulle, sondern seine schlichte, selbstlose und unbeugsame Hingabe an „La France“, an ein Wort, das beim Franzosen Begriffe wie Vaterland, Heimat oder Volk absolut überschattet. Aus den Befehlen, Deklarationen. Noten und Briefen hebt sich überall dieses restlose Aufgehen im Dienste Frankreichs hervor: „In diesem furchtbarsten Augenblick der Geschichte Frankreichs fällt es mit zu, für Frankreich einzustehen . '.. ich bin Frankreichs Sohn, ich rufe es, ich nähre das Licht zum Sehen und weise den Weg des Heils . . . Mutter Frankreich, wir sind geboren, um dir zu dienen. . . wir dienen keiner Person, sondern Frankreich . . uns leiten nur sein Interesse und seine Freiheit. . wir kämpfen diesen 30jährigen Krieg, der 1914 ausbrach, für ein unverletztes Frankreich und seine Sicherheit. . ., um es zu erlösen aus den Fesseln einer illegitimen Gewalt. . wir haben zu wählen zwischen Unab-häneiekeit oder Sklaverei...“ Diese hochideale EinStellung anerzogen in der Militärakademie zu Saint-Cyr, übertrug sich auf die ganze Welt, die de Gaulle als demokratische Ordnung von Dauer und. Einigkeit und als gegenseitige Hilfsbereitschaft aller Völker erhofft und in welcher Frankreich jener Platz zuerkannt werden-möge, auf den es nach seiner Geisteskraft und seinem inneren Wert Anspruch hat.

Churchill — 1940 ebenso verlassen — war der erste Helfer des einsamen, an Englands Gestaden gelandeten Franzosen. Sahen manche englische Militärs in de Gaulle noch eine Art Rebellen, erfaßte Churchill sogleich den Kern der Dinge. Noch auf französischem Boden hatte er am 13. Juni erklärt, England bleibe auf jeden Fall im Kampfe, „wir werden uns schlagen bis zum Ende, gleichgültig wie und wo, selbst dann, wenn uns die Franzosen allein lassen.“ Mit ganz ähnlichen Worten hatte seinerzeit Kaiser Franz II. (I.) beschlossen, das Ringen mit Napoleon nicht .aufzugeben. 1941 kam die Lease-Lend-Bill der USA, die allen Alliierten Hilfe gewährte und nach Roosevelts Willen Amerika zum „Arsenal der Demokratien“ zu machen hatte. Auch de Gaulle hatte fortab wirksamere Unterstützung als bisher. Bei der am 18. Juni 1942 gezogenen Bilanz konnte der Schöpfer des Freien Frankreich, das unterdessen auch France combattante geworden war, stolz sein. Aus ursprünglich 7000 Mann ohne alles waren geworden: weite de Gaulle unterstehende französische Gebiete in aller Welt, eine von den Kriegführenden anerkannte Regierung, eine Streitmacht von 70.000 Mann zu Land, zu Wasser und in der Luft mit organisiertem Kommandoapparat und nicht zuletzt die im Inneren Frankreichs entflammte Resistance. De Gaulle gab seinen Enuntiationen die Marke: „Im Namen des französischen Volkes und Reiches — Wir, General de Gaulle — Chef der Freien Franzosen“, gleichzeitig war er der Präsident des „Conseil de Defense de l'Empire francais“ und des „Comite National“. Sejn Ansehen war gefestigt bei Freund und Feind, und als die Deutschen nach dem Gefechte bei Bir-Hakeim französische Gefangene töten wollten, trat de Gaulle vor den BBC-Sender und verkündete in allen Sprachen, er werde an deutschen Gefangenen Vergeltung üben müssen. Innerhalb weniger Stunden erklärte Berlin, Deutschland werde selbstverständlich die Freien Franzosen als Soldaten behandeln.

Das Hauptproblem der lahre 1940 bis 1945 blieb für Frankreich die Frage nach der rechtmäßigen Gewalt, ob nämlich die Vichy-Regierung unter Petain oder aber die neue Regierung de Gaulle als Frankreich zu gelten habe. Hier kreuzten sich völkerrechtliche und verfassungsrechtliche Erwägungen und Zweifel, besonders wem nun der Beamte und der Offizier zu gehorchen habe, wer der Legitime und wer der Rebell sei. Die Frage wurde wesentlich erschwert durch die Person Petains, denn der Marschall erfreute sich als der schon legendäre Held von Verdun uneingeschränkter Achtung und Bewunderung, und ihm brachten die Franzosen größtes Vertrauen entgegen, das so weit ging, daß manche Kreise, in seiner Regierungsbildung nichts anderes als ein Manöver zur Hintergehung Hitlers zu erblicken geneigt waren. Dem vermochte nicht einmal das gegen de Gaulle gefällte Todesurteil entgegenzuwirken. Weygand, einer der einflußreichsten Generale von großem Ansehen, stellte sich offen gegen die Freien Franzosen und meinte, de Gaulle müsse erschossen werden. Für de Gaulle lagen aber die Dinge anders, für ihn stand das Regime Petain unter feindlichem Druck und Einfluß, es konnte daher nicht frei handeln, daher auch keine unbestrittene Regierungsgewalt ausüben. Im Waffenstillstand sah de Gaulle überhaupt nur verbrecherischen Hochverrat an Frankreich, und außerdem galt für ihn noch unverändert das englisch-französische Abkommen vom 28. März 1940, das nur gemeinsamen Waffenstillstand und nur gemeinsamen Friedensschluß vorsah. De Gaulle konnte mit vielen gewichtigen Argumenten auf die Berechtigung seiner Aktion hinweisen, und die Fortentwicklung bewies zunehmend die Richtigkeit seiner Entschlüsse.

Mit den Verbündeten hatte auch de Gaulle seine Sorgen, es gelang ihm aber, die nationale Würde zu wahren, indem er sich wohl der englischen Kriegsleitung unterstellte, seine Soldaten jedoch vor einem fremden Kommando bewahrte: „Ich behielt mir auf jeden Fall den Oberbefehl über die französischen Streitkräfte vor und anerkannte bloß die allgemeinen Richtlinien der englischen Kriegsleitung.“

So rundet sich das Bild eines wahrhaft bedeutenden Mannes auf der Geschichtsbühne unserer Tage, eines Mannes, der nur der Sache diente und für den der kompromißlose Patriotismus die stärkste Quelle der Tatkraft ist. Conrad sagte von Napoleon, dieser habe „alles nur aus sich selbst geschaffen“, das gilt auch für den Conrad sehr wesensverwandten französischen General. Das Lesen seiner Memoiren, deren Fortsetzung mit dem allergrößten Interesse erwartet werden darf, ist ein hoher Genuß, wir lernen einen edlen Charakter, namhaften Soldaten, erfolgreichen Staatsmann und gewandten Stilisten näher kennen.

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