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Chruschtschow und der General

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Zu den Inventarstücken der europäischen Außenpolitik gehört die Angst vor einem Aus-der-Reihe-Tanzen eines von de Gaulle geführten Frankreich. Der Besuch Chruschtschows bei dem General hat ihr neuen Auftrieb gegeben. Sind aber diese Befürchtungen heute noch berechtigt? Man täte der großartigen Starre von de Gaulle unrecht, wenn man annähme, daß dieser Mann sich wesentlich geändert hat. Aber die außenpolitische Konstellation hat sich in den verflossenen zwei, drei Jahren von Grund auf geändert, und de Gaulle besitzt bei aller Starre genügend taktische Geschmeidigkeit, um das sich gleichbleibende Ziel — die Größe Frankreichs — unter den veränderten Umständen eben auf andere Art und Weise anzuvisieren. Auf jeden Fall ist er unter den führenden Männern der westlichen Welt derjenige, der die neue Lage zuerst erkannt und zuerst formuliert hat. Das gilt es anzuerkennen — auch wenn man mit den konkreten politischen Aktionen de Gaulles (oder ihrem Fehlea) nichtieHi¥C5Standen.lseißljnägi.Ji snaisjqdsl

Die neue außenpolitische Lage läßt sich keineswegs als ein Ausfallen des Ost-West-Gegensatzes definieren — dieser besteht nach v/ie vor. Wesentlich ist jedoch, daß er nicht mehr der alles andere dominierende Gegensatz *st. Er mag noch immer der heftigste unter allen vorhandenen Gegenstäzen sein, aber er wird doch immer mehr zu einem Gegensatz unter anderen. Diese Relativierung des Ost-West-Gegensatzes aber hat Folgen, die sich mit den ideologischen Verwandtschaften und Feindschaften keineswegs decken. Am eindrücklichsten hat die Welt das vordemonstriert bekommen bei den chinesisch-indischen Grenzkonflikten des letzten Jahres. Das seltsame Manövrieren Sowjetrußlands in dieser Affäre ließ erkennen, daß auch für Moskau Probleme immer wichtiger werden, die mit Kommunismus und Antikommunismus gar nichts zu tun haben. An de Gaulles berühmter Prinzipienerklärung vom 16. September 1959 war viel wesentlicher als die (inzwischen längst verwässerte) Proklamation der „Autodetermina-tion“ Algeriens jener vielzitierte Satz von den gelben, ihrer Ausbreitung über die sibirischen Flächen harrenden Massen, die Rußland seinen europäischen Ursprung in Erinnerung rufen. Damit hatte ein verantwortlicher Staatsmann als Tatsache festgestellt, was bis dahin bloß die Theoretiker prophezeit hatten: daß die Welt aus dem Zustand des Blöcke -Dualismus in den eines Blöcke - Pluralismus übergeht.

Zu fragen ist allerdings, ob de Gaulle alle Konsequenzen aus dieser neuen Lage ziehen wird. Daß es statt zwei nun drei oder mehr Blöcke gibt, eine Vielzahl von Blöcken also, hat nämlich für mittlere und kleinere Mächte Folgen, die sich bereits deutlich feststellen lassen: sie werden zugleich unwichtiger und - freier (wobei das eine das andere bedingt). Solange sich bloß zwei Blöcke gegenüberstehen, ist eine Verständigung von Spitze zu Spitze ausgeschlossen; jeder Block muß vielmehr versuchen, schwache Stellen im anderen Block auszukundschaften und einzelne Steine aus dem gegnerischen Bau herauszulösen. Gibt es jedoch drei (oder mehr) Blöcke, so verschiebt sich automatisch das hohe diplomatische Spiel in die Gipfelzone: es gilt ja nun nicht, den einzigen anderen Block zu schwächen, sondern vielmehr, Block II gegen Block III auszuspielen. Oder um es an dem sich aufdrängenden praktischen Beispiel zu zeigen: In einem Zustand des starren Blöcke-Dualismus wäre ein Besuch Chruschtschows bei de Gaulle ein diplomatischer Akt von allerhöchster Bedeutung; nun, seit die Weltpolitik auf einen Blöcke-Pluralismus zutreibt, ist ein Besuch des russischen Boßes in Paris (oder London oder Bonn) ein Ereignis zweiten Ranges hinter seinen Besuchen in Washington oder Peking.

Wieso aber werden mittlere und kleinere Mächte in der neuen Konstellation nicht nur unwichtiger, sondern zugleich freier? Gibt es nur zwei Blöcke, dann gibt es auch nur eine einzige Bahn, in die sich die politischen Kraftströme ergießen können (also die Bahn Moskau—Washington und zurück). Der Druck ist dann sehr groß, und das Ausscheren aus der Strömung, in der man steht, wird zu einem schwierigen und mit Explosionsgefahr verbundenen.. .Unternehmen. Muß ein Hock jedoch nicht mit einem, sondern mit zwei (oder mehr), anderen Blöcken rechnen, so muß er auch sein politisches Potential in zwei (oder mehr) Richtungen verteilen. Der Druck verteilt sich also und wird damit schwächer; die Bewegungsfreiheit des Kleinen wird damit größer. Er bringt ja auch den Großblock, dem er bis dahin angehörte, durch selbständige Bewegungen nicht mehr in die gleiche Gefahr wie früher, denn dieser Block hat ja inzwischen, in der neuen Konstellation, die Gewichte etwas gleichmäßiger nach den verschiedenen Seiten verteilen müssen.

Insbesondere auf der rechten Seite des Rheins ist es ein weitverbreiteter Reflex geworden, in de Gaulles Bekenntnis zum Zusammengehen mit der Bundesrepublik eine bloße taktische Finte zu sehen und zu argwöhnen, daß man bei der erstbesten Gelegenheit — etwa beim Besuch Chruschtschows in Frankreich — naheliegenderen französischen Interessen geopfert werde. Wir stehen kaum im Geruch einer unkritischen Haltung gegenüber der Fünften Republik und können darum mit gutem Gewissen diesen Argwohn, im großen gesehen, als unberechtigt bezeichnen. Von seiner Einsicht in die neue außenpolitische Situation aus hält nämlich de Gaulle offensichtlich den Zeitpunkt für gekommen, um den französisch-deutschen Kern herum eine Einheit mittlerer Größe aufzubauen, die Moskau und allerdings auch Washington gegenüber die Distanz zu wahren weiß. Darum ist ihm das Bündnis mit Bonn ein „echtes Anliegen“ (um einen zeitgemäßen Modeausdruck zu verwenden) und nicht bloß eine taktische Finte.

Eine andere Frage ist natürlich, wie de Gaulle Frankreichs Stellung innerhalb dieser zu schaffenden neuen Einheit sieht. Es ist klar, daß er für sich die Führungsrolle vorgesehen hat — schon deshalb, weil in Bonn die Widerstände gegen einen von Washington relativ unabhängigen Kurs weit größer sind als in Paris. Interessant ist in diesem Zusammenhang, was Claude B o u r d e t, der zur Zeit wohl gescheiteste Kopf der linken Opposition in Frankreich, in seinem Wochenblatt „France - Observateur“ angesichts des Chruschtschow-Besuches zum Bündnis zwischen Paris und Bonn zu sagen hat: „Es kann gewiß einen wesentlichen Gegensatz zwischen de Gaulle und Adenauer geben, aber es handelt sich da um zwei Thesen, angesichts derer man zweifeln kann, ob die eine für Herrn K. verführerischer ist als die andere.“ *

„Der algerische Hemmschuh“, meint Bourdet, „zwingt de Gaulle, sich vorübergehend dem Willen Amerikas und Adenauers anzupassen. So hat er ja auch (gegen den Wunsch des unlogischen Debre) den .Gemeinsamen Markt' mit all seinen Konsequenzen akzeptiert. Damit aber hat er sioh, folgenreicher als in einer bloßen Allianz, auf eine Verflechtung eingelassen, in der auf weite Sicht der .Eisenkessel' der deutschen Wirtschaft das letzte Wort haben muß. Er hat zwar in dieser ungleichen Verbindung sein Prestige gerettet und sich sogar eine wirkliche Rolle zugeschanzt, indem er die diplomatische Führung in dem neuen Zweibund übernahm. Der alte Fuchs in Bonn jedoch hat sich (notgedrungenerweise) mit dem Wesentlichen begnügt: der ersten Rolle im Wirtschaftlichen und, später, im Militärischen.“ Das ist, wie gesagt, die Meinung eines oppositionellen französischen Journalisten, keines Vertreters des offiziellen Frankreich. Möglicherweise hat er aber aus dieser exzentrischen Position einiges von dem richtig erkannt, was die eingangs erwähnten Befürchtungen angesichts des Treffens von de Gaulle und Chruschtschow als größtenteils unbegründet erscheinen läßt.

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