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Chruschtschows Vollmacht und Fessel

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Die Genfer Konferenz der Außenminister wirft die Frage über die Außenpolitik der Sowjetunion und ihre Ziele auf.

Selbstredend wird die Außenpolitik der Sowjetunion, was ihr Programm und ihre Ziele betrifft, nicht allein vom Chef der Partei und Regierung festgelegt. Zweifellos aber besitzt Nikita Chruschtschow ungemein weitgehende persönliche Vollmachten. So drückt seine Persönlichkeit dieser Außenpolitik weitgehend ihren Stil und Charakter auf. Es ist ein weitverbreiteter Irrtum, daß sich Partei und Bevölkerung in der Sowjetunion besonders rege für außenpolitische Belange interessieren. Das gerade Gegenteil ist der Fall. Der Sowjetbürger einschließlich hoher Parteifunktionäre ist so in seinen Alltag mit seinen vielen Aufgaben eingesponnen, das Ausland erscheint ihm so ferne, daß sich nur eine dünne Schicht wirklich um die Weltpolitik kümmert. So gibt es in der Sowjetunion nur eine sehr beschränkte Gruppe von Intellektuellen, welche die wirkliche öffentliche Meinung in außenpolitischer Hinsicht bildet, während sonst alles die Außenpolitik den „zuständigen" Personen überläßt und nur dann ein Interesse zeigt, wenn diese Außenpolitik beginnt, das persönliche Leben zu berühren. Das erklärt die großen Vollmachten an Chruschtschow, aber auch gewisse Grenzen, wenn auch weitgezogene, seiner Möglichkeiten.

Um sich daher über die sowjetische Außenpolitik klarzuwerden, muß man sich nicht nur die persönliche Stellung des Chefs der Sowjetunion, sondern auch die Verbundenheit von Innen- und Außenpolitik in der Sowjetunion vor Augen halten. Wenn nämlich nicht unmittelbar Kriegsgefahr droht, war und ist die sowjetische Außenpolitik immer bloß eine Funktion der Innenpolitik und ihrer innenwirtschaftlichen Ziele, auch dann, wenn aus taktischen Gründen die Propaganda etwas anderes vortäuschen will.

Ein Teil der Weltpresse hat zumindest voreilig Chruschtschow zum persönlichen Diktator ernannt und behauptet, er nehme heute dieselbe Stellung ein wie efinst Stalin. Doch die Bezeichnung „Diktator" ist ein dehnbarer Begriff. Zweifelsohne kann Chruschtschow heute schon persönlich weit unabhängiger über einzelne politische und wirtschaftliche Fragen entscheiden und hat auch einen größeren persönlichen Einfluß bei der Aufstellung politischer Pläne als jeder andere Ministerpräsident der Welt. Aber schon in Persönlichkeitsfragen ist seine Machtvollkommenheit weit geringer. Wenn der Parteichef auch bei Neubesetzungen von Stellen oder bei Absetzungen seinen Einfluß geltend machen kann, so muß er zweifelsohne sehr viel vorsichtiger operieren, als man im Westen meint. Eine Reihe hoher Ernennungen in der letzten Zeit beweist das einwandfrei. Darunter waren nämlich eine Reihe von Personen, von denen man authentisch weiß, daß sie keinerlei Beziehungen zu Chruschtschow hatten. Hier zeigte sich deutlich der von Chruschtschow unabhängige Einfluß der Kaderabteilung des Zentralkomitees. Was jedoch die Machtvollkommenheit Stalins über Leben, Freiheit und Tod des Sowjetbürgers betrifft, so besitzt sie Chruschtschow überhaupt nicht. Die kategorische Forderung nach Rechtssicherheit gerade der führenden Schicht der sowjetischen Bevölkerung ist sehr stark.

Würde Chruschtschow persönlich in den Justiz- oder Polizeiapparat eingreifen und Repressalien gegen jemanden anbefehlen, so könnte man bei der heutigen Stimmung in der Partei und in der hohen Bürokratie sicher sein, daß er nicht lange an der Macht bliebe.

Man kann die Geschichte des Sowjetstaates bis zum heutigen Tag auf verschiedene Weisen unterteilen. Es mag ein historischer Zufall sein, doch es bleibt aufschlußreich, daß jede der Personen, die an der Spitze des Sowjetstaates standen, nach der kommunistischen Doktrin eine in sich geschlossene historische Aufgabe zu erfüllen hatte. Lenin, der Begründer des Sowjetstaates, eroberte die Macht, beendigte den Bürgerkrieg, schuf den Frieden um die Sowjetunion und erfüllte damit die Aufgabe der Eroberung der Macht und ihre Sicherung durch die Kommunistische Partei in Rußland. Einige Jahre nach seinem Tod stellte sich heraus, daß die Revolution gar nicht beendet war, sondern daß man vor der Wahl stand, entweder zurückzugehen oder einen neuen revolutionären Ansturm zu unternehmen. Stalin hatte die Aufgabe übernommen,

die letzten Reste des freien Unternehmertums, die freie Bauernschaft und alles, was noch nicht in das Sowjetsystem eingegliedert war, zu vernichten, um, wie sich die sowjetische Ideologie ausdrückt, den „Sozialismus“ zu verwirklichen und die sogenannten ausbeuterischen Klassen endgültig zu liquidieren. Das hat er auch mit der ihm eigenen Brutalität durchgeführt. Eine andere neue Aufgabe hatte er nicht übernommen. Doch schon zu Lebzeiten Stalins ist offiziell in zahlreichen theoretischen Arbeiten diese langwierige neue historische Epoche mit ihren Aufgaben formuliert worden. Kurz gefaßt, umfaßt diese zwei Seiten: Der Uebergang vom „Sozialismus“ zum „Kommunismus“ auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet und die Umformung des Sowjetstaates entsprechen seinem neuen sozialen Inhalt, nämlich der Tatsache, daß es eigentlich keine Bürgerlichen, keine Kapitalisten und somit kein Objekt der Diktatur des Proletariates mehr gibt. Das ist die Aufgabe Chruschtschows, die sich wieder in doppelter Hinsicht manifestiert: in dem neuen wirtschaftlichen Siebenjahrplan und im folgerichtigen langsamen Umbau des Sowjetstaates nach der Richtung einer stärkeren Föderalisierung, Dezentralisierung und dem Ausbau des Rechtssystems und endlich durch die Uebergabe gewisser Staatsfunktionen an vereinsähnliche Organisationen.

Es handelt sich also um eine gewaltige Aufgabe, die an und für sich natürlich Frieden und eine sichere außenpolitische Position benötigt.

Hier aber sind gerade die Grenzen der Möglichkeiten Chruschtschows. Als Folge eines gewissen wirtschaftlichen Fortschrittes, vor allen Dingen jedoch der starken psychologischen Wirkung wissenschaftlicher und technischer Erfolge, ist das nationale Selbstbewußtsein der Russen gewaltig gestiegen. Hatte noch vor zehn Jahren die Sowjetregierung vielleicht die Möglichkeit gehabt, sich durch weitgehende Konzessionen an den Westen Frieden und Beendigung des kalten Krieges zu erkaufen, so sind Chruschtschow jetzt die Hände weitgehend gebunden. Ein Prestigeverlust könnte nämlich sehr leicht zu einem stär keren Interesse der Massen an der Außenpolitik führen, und wie die Erfahrung nicht nur in Rußland, sondern auch andernorts zeigt, äußert sich .’in solches Interesse durch Unzufriedenheit. Kompliziert wirkt die Lage Chruschtschows auch durch die Existenz sozialistischer Satellitenstaaten und des roten Chinas mitsamt seinen asiatischen Satelliten. Noch vor einigen Jahren konnte Bulganin den österreichischen Staatsvertrag unterschreiben und seine Truppen aus Oesterreich zurückziehen, ohne daß in den politischen Kreisen der Satelliten und erst recht nicht in der Sowjetunion Diskussionen darüber entstanden. Heute ist die Lage eine andere. Stalin dachte in den Satelliten Faustpfänder zu haben, mit denen er nach Belieben manövrieren könnte. Die Entwicklung eines Jahrzehntes führte jedoch zu einer gewissen Konsolidierung der russischen

Positionen in den Satellitenländern. So steht Chruschtschow beständig vor einem Dilemma: Er spricht vom Frieden, Koexistenz, von Nichteinmischung. Für seine Taktik wäre es klüger, bei diesen Aeußerungen sein Bewenden zu lassen. Immer wieder aber muß Chruschtschow diese seine Reden durch Glaubensbekenntnisse zum Weltkommunismus, durch die Darlegung seiner Lieberzeugung ergänzen, daß schließlich und endlich der Kommunismus in der ganzen Welt siegen werde. Täte er das nicht, wäre schon in kurzer Zeit innerhalb der kommunistischen Partei die Meinung verbreitet, Chruschtschow sei drauf und dran, das kommunistische Revolutionsideal überhaupt zu verraten. In den Satellitenstaaten würde seine uneingeschränkte Koexistenzpropaganda höchstes Mißtrauen erwecken, und im roten Peking würde das an und für sich nicht sehr hohe persönliche Prestige des sowjetischen Parteichefs eine weitere Einbuße erleiden. Das Resultat wäre die Auflockerung der sowjetischen Verteidigungspositionen, noch bevor der Westen auch nur die leiseste Gegenleistung getätigt hat.

Das Fernziel der sowjetischen Außenpolitik ist das Verschwinden amerikanischer Stützpunkte rings um die Sowjetunion, nach Möglichkeit auch der Rückzug aller fremden Truppen aus allen fremden Gebieten. Vor ein paar Jahren hätte die Sowjetunion für die Erreichung dieses Zieles wesentliche Konzessionen gemacht, etwa die Preisgabe Ostdeutschlands oder Ungarns. Heute ist der einzige Preis, den man im Kreml zu zahlen bereit ist, der Rückzug der eigenen Truppen hinter die Sowjetgrenzen, was in Anbetracht der strategischen Lage kein besonderes Risiko darstellt. Da es Chruschtschow und seinen Experten klargeworden ist, daß dieses Ziel in absehbarer Zeit nicht zu erreichen ist, lautet die heute geltende These auf die Konsolidierung der gegenwärtigen sowjetischen Machtsphäre, eine Bestätigung des Status quo durch die Westmächte. Eine solche Konsolidierung könnte nach Meinung der Kremlleute zu einer Entspannung und zu einer Koexistenzpolitik für das nächste Jahrzehnt führen, also für jene Zeitperiode, die in Moskau überblickbar ist und die genügt, die innersowjetische Entwicklung vorwärtszutreiben und die wirtschaftliche und politische Eingliederung der Satelliten in die Sowjetunion in der einen oder anderen Form herbeizuführen.

Das erklärt nun alle sowjetischen außenpolitischen Manöver. Das Aufwerfen der Berliner Frage dient der Konsolidierung der westlichen Grenze der sowjetischen Machtsphäre. Was auch immer über die Berliner Frage beschlossen werden wird, für die Sowjets handelt es sich immer darum, ganz Berlin, wenn auch nicht sofort, in die Deutsche Demokratische Republik einzubeziehen. In der deutschen Frage ist demgemäß eine Verhärtung der Sowjethaltung eingetreten, wobei Moskau gar keinen Zweifel darüber läßt, daß ihm an einer Wiedervereinigung Deutschlands nichts gelegen ist. Der Vorschlag mit den „beiden“ Deutschland einen Friedensvertrag abzuschließen, dient nur dem Zweck, die Lage der Deutschen Demokratischen Republik zu sichern und möglichst zu stärken. Dabei wird der Nebenzweck verfolgt, die Deutsche Bundesrepublik militärisch für die NATO möglichst uninteressant zu machen. Allerdings darf man nicht ohne weiteres glauben, Moskau gehe auch auf eine Sowjetisierung Westdeutschlands aus. Für das nächste Jahrzehnt plant man in Moskau bestimmt keine Ausweitung des kommunistischen Machtbereiches, schon gar nicht in Deutschland. Die Schwierigkeiten würden nämlich immens wachsen und die russische Entwicklung selbst in Frage gestellt werden.

Es ist kaum anzunehmen, daß trotz allen elastischen Manövern Chruschtschow weder in Genf noch bei einer späteren ’Gipfelkonferenz weitgehende Konzessionen anbieten wird. Die Taktik geht darauf aus, durch ständige Verhandlungen, durch ständig neue Vorschläge die weltpolitische Situation für ein Status-quo- Abkommen reif zu machen.

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