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Computer-Schlaraffenland

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Das Paradies ist auf dem Marsch. Darüber kann kaum noch ein Zweifel bestehen: „Eine ganz neue Gesellschaft ist im Entstehen begriffen. Noch bevor die Männer, die heute 30 Jahre alt sind, sich zur

Ruhe gesetzt haben, wird sie verwirklicht sein. Diese Gesellschaft wird nicht nur sehr viel reicher sein als die unsere. Wenn man eine bestimmte Schwelle überschritten hat, zeigt sich Reichtum nicht mehr in einem gehobenen Lebensstandard, sondern in einer anderen Lebensform: fast völliges Verschwinden der manuellen Arbeit, mehr Freizeit als Arbeitsstunden, Überwindung der Entfernungen, bestehende Entwicklung der kulturellen und informativen Möglichkeiten, gesteigerte Macht über Natur und Leben.“

Dieser Eintritt in das Schlaraffenland mit seinen Chancen, das Glück auf Erden zu verwirklichen — ob es wirklich zu finden sein wird, darüber sind sich selbst die Bannerträger dieser neuen Entwicklung nicht im klaren — bewegt auch die Gemüter sehr stark.

Die Ideen über die Zukunft haben sich im allgemeinen unter dem Stichwort „Industriepolitik“ etabliert und bekunden damit entschiedenen Sinn für Neuerungen. Tatsächlich war nämlich trotz der Bedeutung der Industrieentwicklung für die Geschicke der Menschheit in den letzten 150 Jahren wohl von einer Agrarpolitik, von einer Sozialpolitik und manchen anderen „Politiken“ die Rede, jedoch nie von einer Industriepolitik. Es bürgert sich jetzt die Schließung dieser Lücke mit einem brauchbaren Vergleich ein: Der Hinweis auf die sehr zielbewußte Wirtschaftspolitik der Landwirtschaft, die Dynamisierung, Rationalisierung, Einkommenssteigerung usw. einschließt, dient dazu, ähnliches für die Industrie zu fordern. Woher plötzlich ein derartiges Wunschprogramm, oder besser Entwicklungsprogramm, für die Industrie?

Überwindung der Tradition

Man fordert eine zweite Industrialisierungswelle. Bisher hat man unter der sogenannten zweiten industriellen Revolution das Vordringen der Denkmaschinen verstanden, die den Menschen einen Teil der geistigen Arbeit abnehmen, während die erste Industrialisierungswelle ihm die Handarbeit abnahm. Schematisierungen sind sehr schön, aber oft auch verwirrend und das ist auch hier der Fall. Man scheint sich man- cherorten, so zum Beispiel in Österreich, unter den Aufgaben der kommenden Industriepolitik oder der zweiten Industrialisierungswelle etwas ganz anderes vorzustellen als den Einmarsch der Computer, nämlich die Beschaffung von industriellen Arbeitsplätzen. Eine solche allgemeine Auffassung wäre die sehr allgemeine Folgerung aus dem Umstand, daß die Industrieerfolge der sich ausbreitenden Rationalisierung immer weniger Arbeitskräfte für industrielle Prozesse benötigt, und auch aus der Tatsache, daß sich die Rohstoffe, auf denen sich speziell unsere österreichischen Industrien gründen, ziemlich rasch erschöpfen.

Wesentlich präziser ist man im Westen an dieses Thema herange gangen. Man sucht dort nach besseren Definitionen und klaren Analysen der kommenden Entwicklung. Bannerträger dieser Richtung ist der französische Publizist Jean-Jacques Serv an-Schreib er mit seinem Buch

„Die amerikanische Herausforderung“ geworden, von dem seit seinem Erscheinen im Spätherbst des vorigen Jahres weit über eine halbe Million Exemplare abgesetzt werden konnten. Der Franzose setzt die Entwicklungstendenzen in sehr einfache Beziehungen. Amerika hat es ver standen, durch eine universelle Nutzbarmachung aller erreichbaren technischen, industriellen und wissenschaftlichen Ideen und Entdek- kungen, die geistigen Möglichkeiten der technischen Entwicklung in überragender Weise auszuschöpfen und damit die anderen Nationen zu überflügeln. Amerika hat auf diesem Gebiet die Hemmungen der Tradition überwunden. Technische Prinzipien wurden in die Verwaltung, Erfahrungen von einem Industriezweig in einen anderen, technische Erfindungen von einer Branche in eine andere übertragen, man summierte die Erfahrungen von Konkur- renzuntemehmungen, man testet den Katalog der technischen Möglichkeiten usw. Man hat damit vor allem die Computerrevolution durchgeführt.

Ausbildungsrevolution vordringlich

Kehren wir in diesem Zusammenhang aus der weltweiten Schau nach Österreich zurück, so müssen Wir ganz einfach feststellen, daß es uns immer mehr an Lehrlingen gebricht, nämlich an jenen Kräften, die für die Geschicklichkeitsberufe der Fertigungsindustrien — das werden die künftigen Industrien, gleich welcher Art, auf jeden Fall sein — ausgebildet werden: Die Industriepolitiker haben begreiflicherweise im Hinblick auf die steigenden geistigen Ansprüche der industriellen Produktion die Verstärkung der Schulbildung zur Mobilisierung der Begabtenreserven auf ihre Fahnen geschrieben. Ser- van-Schreiber sieht hier das größte

Manko von Europa. Vom österreichischen Gesichtspunkt aus wird man sagen müssen, daß die Förderung der Fachbildung unzweifelhaft ein wirklich nicht umstrittenes Kapitel jeder Zukunftsentwicklung ist, daß aber nicht nur die schulische, sondern auch die handwerkliche Bildung dazu gehört. Ob aber die Senkung des Lehrlingsstandes von 150.296 im Jahre 1965 durch die Einführung des Polytechnischen Jahres auf 114.962 im Jahre 1966 und auf 108.562 im Jahre 1967 das Richtige ist, muß füglich bezweifelt werden. Der durch die Lehre zum Facharbeiter ausgebildete Experte, ist der Unteroffizier der industriellen Produktion. Nur er kann die industrielle Produktion fachlich und sicher in Gang halten. Auf ihn zu verzichten, würde bedeuten, unsere Industrie- und ebenso unsere gewerbliche Arbeiterschaft zu angelernten Hilfsarbeitern zu machen und damit ihr jede Entwicklungsmöglichkeit zu nehmen.

Seien wir uns in der Diskussion über die zweite Industrialisierungswelle, über die Schaffung einer Industriepolitik im klaren, daß wir uns ganz und gar nicht im klaren sind, welche Industrien für die Zukunft förderungswürdig sind, aber seien wir uns darüber im klaren, daß nur eine gründlich ausgebildete Facharbeiterschaft imstande ist, die kommenden Umwälzungen mit eigenem Können, mit eigener handwerklicher und geistiger Mitarbeit zu bewältigen. Diskutieren wir ruhig weiter, ob wir noch einen Zipfel der Plastikindustrie erwischen können, der Elektronikindustrie oder eines anderen modernen Zweiges, aber bilden wir inzwischen die Jugend an den vorhandenen Möglichkeiten gründlich aus, damit sie den Umwandlungsprozeß auf zwei Füßen feststehend meistern kann.

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