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Daheim - im Kinderdorf

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In den Dezembertagen des vergangenen Jahres wurde eine burgeniändische Familie von einem tragischen Geschick getroffen: Der Vater starb an einer alten Kriegsverletzung, innerhalb kurzer Zeit folgte ihm die Mutter. Fünf unversorgte Kinder blieben zurück. War es möglich, die Kinder zusammen zu belassen? Der Pfarrer des Dorfes schrieb an das Kinderdorf in Imst in Tirol, wo eine Frau der Nachbarschaft als „Mutter“ tätig war. Glückliche Umstände erlaubten es gerade damals, alle fünf Waisen aufzunehmen. So konnten die Kinder schon Weihnachten in ihrer neuen Heimat verbringen.

Das Kinderdorf Imst ist rasch eine Sehenswürdigkeit geworden und wird zum Wochenende von zahlreichen Menschen besucht. So kam im Vorjahr auch ein wohlhabendes Ehepaar, dem eigene Kinder verwehrt geblieben waren, nach Imst. Aus der Schar der spielenden Kinder löste sich eines, sprang auf die Eheleute zu; das Kind faßte Zutrauen, und diese wieder wollten nichts lieber, als den kleinen Waisenknaben adoptieren. Das aber stellte sich als unerfüllbarer Wunsch heraus: die Dorfleitung bestand darauf, die begonnene Erziehung selbst fortzusetzen und den Knaben zu behalten;, alle Interventionen erwiesen sidi als erfolglos.

Diese beiden Episoden beleuchten die Eigenart und die Grenzen, die Vor- und Nachteile des Kinderdorfes in Imst, das eben in diesen Tagen wieder im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses steht: es hat in diesem November das selbstgesteckte Ziel, etwa 10 bis 15 Häuser in einer Siedlung in der Tiroler Bergwelt zu errichten, früher, als anfänglich erhofft, erreicht;. 11, Häuser sind bereits bezogen, zwei weitere bis zur Dachgleiche gediehen. So ist es möglich, sich ein Urteil über das nunmehr in seinen Grundzügen fertige Werk zu bilden.

Das Projekt des Kinderdorfes Imst stammt von dem Innsbrucker Medizin- und Philosophiestudenten Hermann Gmeincr, der sein Leben in der Kriegsgefangenschaft einem russischen Knaben verdankt, was bereits zu falscher Legendenbildung Anlaß gegeben hat. Gmeiner, der au? der Katholischen Jugend kommt, konnte 1949 die Stadtgemeinde Imst für das Projekt interessieren. Ein Baugrund auf einer waldigen Anhöhe, zwanzig Minuten von Imst entfernt, wurde zu günstigen Bedingungen erworben. Die Mittel zum Bau der Häuser wurden — und werden — durch einen von Gmeiner auf Grund einer Gewerbeberechtigung betriebenen Kunstkarten- und Jugendschriftenverlag und durch freiwillige Spenden von privater Seite aufgebracht. Ein Haus stellt sich auf 140.000 Schilling. Die Mittel zum Unterhalt des Dorfes fließen aus den gesetzlichen Fürsorgegeldern der Jugendämter {durchschnittlich 250 Schilling inklusive Kinderbeihilfe), die für die Kinder des Dorfes entrichtet werden, aus dem „Schillingring“, das ist eine Organisation der Freunde und Gönner des Kinderdorfes, die. monatlich einen Schilling bezahlen (gegenwärtig über 40.000 Mitglieder), und schließlich aus einer alljährlichen SOS-Kinderdorf-Lotterie. 1950 Wurden die ersten fünf Häuser fertiggestellt und eingerichtet, 1951 die ersten 40 Kinder aufgenommen. Heute beherbergt das Kinderdorf an die 100 Kinder.

Die Organisation des Kinderdorfes ist einfach. Die Societas Socialis, ein auf vereinsrechtlicher Grundlage beruhendes überparteiliches Sozialwerk, hat einen Vorstand und getrennt davon eine Dorfkommission als geschäftsführende Organe für das SOS-Kinderdorf Imst berufen. Mit anderen Kinderdörfern, insbesondere Ferienheimen und dem Oesterreichischen Kinderdorfverband in Salzburg, wie auch mit der SOS-Gemeinschaft für Soforthilfe in, Wien, besteht keinerlei Verbindung...

Sämtliche Kinder, die das Kinderdorf aufnimmt, werden von den Jugendämtern vermittelt. Es werden nicht nur Kinder österreichischer Staatsbürger, sondern auch Staatenlose und Kinder ungeklärter Staatsbürgerschaft aufgenommen, für deren Unterhalt die Fürsorge nichts bezahlt. Gegenwärtig ist auch ein Negerkind, dessen Mutter gestorben, dessen Vater in Korea gefallen ist, im Dorf, sowie ein kleiner Marokkaner. Ueber die Vollwaisen übernimmt der „Dorfdirektor“ Gmeiner die Vormundschaft; lebt ein Elternteil noch, so behält meist dieser die Vormundschaft; dieser Fall wird aber nicht gerne gesehen, da dann das Kind vorzeitig aus dem Dorfverband, in dem es bis zum 14. Lebensjahr verbleiben soll, gelöst wird. Grundsätzlich werden nur milieugeschädigte Kinder aufgenommen, für welche Adoptiveltern nur schwer zu finden sind.

Die pädagogischen Voraussetzungen, auf denen das Kinderdorf Imst aufbaut, sind die „Familie“ und das „Dorf“. Jedes Haus bildet eine. Familie,, mit einer „Mutter“ an der Spitze und etwa acht bis neun Kindern. Die Kinder sollen, wie natürliche Geschwister, einander selbst erziehen, und immer das Gefühl eines Zuhause, wie es sonst nur der eigene Herd im Haus schaffen kann, haben. Sie sollen sich nicht als Zöglinge fühlen, sondern bei der

„Mutter“ das Gefühl der Geborgenheit haben. Diese „Mütter“ wurden durchweg über das Katholische Laienwerk aufgenommen. Die übergeordnete Erziehungsstätte _ist das Dorf. Die Familien werden in das Dorfganze eingereiht. Die Dorfleitung muß auch den fehlenden Vater ersetzen. Eine eigene Dorfschule besteht nicht, die Kinder besuchen vielmehr die verschiedenen Schulen in Imst.

Das Kinderdorf Imst, aus der Not geboren, hat sich zu einer erfreulichen Institution entwickelt. Weitere Kinderdörfer sollen folgen.Dabei muß man sich aber bewußt bleiben, daß auch der beste Ersatz nicht das sein kann, was die christliche Familie ist. Ihr zu helfen, sie gegen alle Gefährdungen zu schützen, muß die vordringliche Aufgabe unser aller und des Staates bleiben. Erst wo es dafür zu spät ist, wo nicht mehr zu helfen ist, muß das Kind aus der gefährlichen Umgebung gelöst und in eine neue Umwelt verpflanzt werden — sie soll ihm dann die Erziehung vermitteln, die es in seiner Familie hätte haben sollen.

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