6637529-1957_24_10.jpg
Digital In Arbeit

Damals, 1907…

Werbung
Werbung
Werbung

Die in Ungarn eröffnete Bewegung für das allgemeine Wahlrecht bedeutete für Oesterreich keine Initiative, ihr Reformgedanke stammte vielmehr aus Oesterreich, wo seine Verwirklichung 1897 schon ängesetzt hatte. Aber der ungarische Plan trug nach Oesterreich neue Antriebe.

In Oesterreich rangen starke Kräfte um den gleichberechtigten Zutritt zum Parlament: Die Sozialdemokratie hatte das allgemeine Wahlrecht von frühauf in ihrem Programm; sie erhob die Forderung im Namen des Proletariates, das von den politischen Mächten ausgeschlossen sei. Auch die Christlichsozialen hatten als Volkspartei Grund, das allgemeine Wahlrecht zu verlangen, denn auch sie vertraten breite Volksschichten, die bisher das Wahlrecht nicht besessen hatten. Aber für die Christlichsozialen fiel noch ein anderes Argument ins Gewicht; Warum mußte im Parlament um die nationale Zugehörigkeit des Nachtwächters von Leitomischl oder um die Ein- und Zweisprachigkeit der Straßentafeln in Saaz oder Jičin oder darum gerauft werden, ob in einem von Deutschen und Slowenen bevölkerten Land die Slowenen dieselben Ansprüche auf Mittelschuleinrichtungen hätten wie ihre deutschen Landsleute? Die jahrelange Lahmlegung der Gesetzgebung durch die Obstruktion, in den nationalen Parteikämpfen war nach der Meinung des Volkes nur dadurch möglich gewesen, daß die das Parlament beherrschenden Klassen sich die Kosten des nationalen Kampfes leisten konnten, diese Advokaten und Zeitungsschreiber, die sich nicht zu kümmern brauchten um die wirklichen Sorgen des Volkes. Den Christlichsozialen galt die Wahlreform, der Appell an das Volk, als der Aufruf der größten verfügbaren Kraft zur Sicherheit des Staates.

Die Entschiedenheit, mit der sich die Christlichsozialen für die Wahlreform einsetzten — die „Reichspost” tat alles, um die Entschiedenheit zu unterstreichen —, rief eine merkwürdige Veränderung im Parlament hervor; die kleine Partei wuchs plötzlich zur Führerstellung empor, als einzige nichtmarxistische deutsche Partei, die wußte, was zu tun war. Es konnte gescfa hettr-daß au ,threr Mitte im Wahlreform-, ausschuß Dr. Geßmann zum Referenten bestellt wurde. Deutlich begannen sich die Parteien der Zukunft von den veralteten politischen Gliederungen zu unterscheiden. Auf deutscher Seite schienen nur noch die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten zu zählen.

Doch die Widerstände gegen die Wahlreform waren außerordentlich stark. Aus dem Lager der alten gesellschaftlichen Mächte meldete sich eine sehr nachdrückliche, zähe Gegnerschaft. Adel und liberales Bürgertum besaßen in dem wesentlich wirtschaftlich bestimmten Kuriensystem starke Interessenvertretungen. Dabei waren sie mehr als bloße politische Formen gleichgebundener egoistischer Interessen. Dieser Adel war mit der Geschichte des Landes eng verwachsen. Aus seiner Gliederung in einen böhmischen, steirischen, Tiroler, ungarischen usw. Adel sprach noch sein Wachsen mit dem alten Länderföderalismus und mit der Geschichte der Dynastie. Heerwesen, Diplomatie, öffentliche Verwaltung, Kunst, Wissenschaft, Forschung und Mäzenatentum, es gab kein Feld menschlicher Tätigkeit, der Ehre und des Ruhms, auf dem nicht Leistungen von nie verblassendem Glanz aus diesem Adel vollbracht worden wären. Und was der Mann nicht vermochte, das ergänzte die adelige Frau in der karitativen Fürsorge und praktischen sozialen Arbeit. Träger einer Lebensform, traditionsgesättigter Bindungen, hatte dieser Adel die österreichische Kultur mitgeprägt. Er trug aber auch allzu willfährig an dem Schicksal aller menschlichen, dem Altern überantworteten Einrichtungen, vor dem nicht Gesetze, sondern nur die sittliche Kraft eines Standes zu bewahren vermag. Wo diese Kraft fortlebt, wird solcher wahrer Adel auch in Zukunft, und nicht auf ostentative Titel angewiesen, Bestand haben. Vielen erschien die Zurückdrängung des Adels und auch die Minderung des politischen Einflusses des bürgerlichen Patriziertums als eine Kapitulation vor den umstürzlerischen Elementen und als eine Verpöbelung des öffentlichen Lebens. Als der Tiroler Dr. Grabmayer, ein Liberaler von bestem altem Schlag, die für den Staat an oberster Stelle Verantwortlichen beschwor, nicht den Mächten des Unterganges die Tür zu öffnen, fand er ein starkes Echo weit über seinen Gesinnungskreis hinaus.

Die Wahlreform, die Ministerpräsident Baron Gautsch ankündigte, wirkte in weiten Sphären wie eine Bedrohung. Anfang Februar 1906 hatte er seinen Wahlreformplan vorgelegt, und ein Vierteljahr reichte, um seine Niederlage zu entscheiden. Sein Rücktritt Ende April war der Sieg der Wahlreformgegner. Doch sein Nachfolger, Prinz Conrad Hohenlohe, trat das Erbe ohne Vorbehalt an; auch er räumte nach wenigen Wochen den Platz.

War mit den raschen Stürzen zweier Regierungen die Schlacht schon entschieden? In den Wiener Straßen marschierten zu Kundgebungen für die Wahlreform Christlichsoziale und Sozialdemokraten,..zu Kundgebungen, deren Ernst die ganze Oeffentlichkeit verspürte. Doch hatte man sich nicht schon oft und in so manch anderen Dingen mit dem stürmischen Verlangen dieser ungebärdigen politischen Menge abgefunden, hatte nichts getan, und es war deswegen kein Turm umgefallen?

Die sich so trösteten, wollten die unerhörte Tatsache nicht recht zur Kenntnis nehmen, daß über dieser Reformbewegung diesmal niemand geringerer als Kaiser Franz Joseph stand, dieser Habsburger, der seinem Wesen nach bisher immer ein Konservativer, ein Bewahrer der alten Formen und Berechtigungen gewesen war. Aber es war so; der greise Monarch, den so manche für einen dynastischen Bürokraten angesehen, hatte unter dem Eindruck der ungarischen Erlebnisse der letzten Jahre, des neuerlichen Aufbäumens des Kossuthismus und des Abfalles führender ungarischer Politiker, die zur Vertretung der Reichsinteressen berufen gewesen wären, und wohl auch gedrängt durch die in Rußland zum Verfassungsstaat drängenden Ereignisse, sich zu dem Appell an das Volk entschlossen.

An Stelle Conrad Hohenlohes trat Max Wladimir Freiherr von Beck in die Bresche. Die Art, wie er das Reformprojekt seiner Vorgänger aufnahm, ließ keinen Zweifel an der Festigkeit seines Vorhabens. Als er am 7. Juli 1906 mit seiner Programmrede vor das Abgeordnetenhaus trat, lagen hörbar stärkere Akzente auf seinen Erklärungen, als seine Vorgänger gebraucht hatten. Er sprach von einer heiligen Aufgabe. Ihre Erfüllung solle Ausfluß der großen Gemeinsamkeit des Wollens aller Völker Oesterreichs werden.

Wir Journalisten, die auf der Tribüne dem neuen Premier bei lautloser Stille des ganzen Hauses lauschten, verspürten, daß es nun ganz ernst werde. Und diese Ueberzeugung schien plötzlich das ganze Haus erfaßt zu haben. Mit einer fast atemberaubenden Eile stürzte sich der Wahlreformausschuß auf die Beratung der Regierungsvorlage, deren Mandatsverteilungsplan die eifersüchtigen Ansprüche der verschiedenen Nationen klug auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen trachtete. Sie erhöhte dafür die Mandatszahl des künftigen Abgeordnetenhauses auf 416, während Gautsch bei 45 5, Hohenlohe bei 495 Sitzen stehengeblieben war. Bei Gautsch hatte die Spannung zwischen dem deutsch-italienisch-rumänischen Block und dem slawischen noch 225:230 betragen; unter Hohenlohe war sie auf eine Differenz von drei Mandaten vermindert worden; mit der Verteilungsformel Becks betrug die Spannung nur noch 257:259. Trotz vieler Einwände fanden sich die Deutschnationalen und Liberalen damit ab.

Wie die Regie des Ministerpräsidiums mit dem in führender Aktivität stehenden Dr. Geßmann das Kompromiß in der Mandatsverteilung und dessen Details vorbereitete, war ein Schauspiel hinter durchsichtigem Vorhang. Damals bekam man alles Menschliche des Parlamentarismus zu sehen. Viel hat sich erreichen lassen, wenn man nur dem oder jenem Häuptling sein Mandat sicherte. Eines der heitersten Zwischenspiele betraf das Mandat des Unterrichtsministers Mar- chet in dem Wahlkreis Mödling-Baden-Vöslau, der für den Minister einen eigenen Zuschnitt erhielt. Der Kreis Schwechat, der mit dem Bäderbezirk der Südbahn so gar keine Interessengemeinschaft hatte, wurde diesem Wahlkreis zugeschlagen, weil die persönlichen Beziehungen des Ministers zu dem Hause Dreher, dem mächtigen Bierindustriemagnaten von Schwechat, eine besondere Sicherung des Mandates versprachen. Damit in dem Lustspiel das tragische Moment nicht fehle, wollte es dann der unfaßbare Zufall, daß trotz Schwechat und Dreher-Bier das Mandat nicht Unterrichts- minister Marchetf SCmderm mit ein paar Dutzend Stimmen Mehrheit, ein bisher in der Politik unbekannter Gymnasialdirektor, Dr. Zeiner, als christlichsozialer Kandidat erhielt, zur Verlegenheit Geßmanns, der an den taktischen Kunststücken um die Wahlreform und auch an dem für das Mandat Marchets höchsten persönlichen Anteil hatte. Und nicht auf andere Weise wurden die Ueberzeugungen für die Notwendigkeit der Wahlreform bei dem deutschnationalen Führer Dr. Derschatta geweckt, die dem kleinen, behäbigen Steirer, der jüngst noch mächtig oppositionell und germanisch-teutonisch getan hatte und dann mit seinem steirischen Fähnlein und schließlich mit seiner ganzen Partei zu den Anhängern der Wahlreform einschwenkte, als ihm der erste Wahlbezirk in der Stadt Graz, das todsicherste Mandat mit der kleinsten Wählerzahl ganz Oesterreichs, garantiert worden war. Noch gab es kritische Episoden durch Vorstöße für das Pluralwahlrecht. Doch Ende Dezember war das große Werk glücklich vollendet. Diese sieben Monate, da Beck auf zuweilen stark bewegter See das Fahrzeug geführt hatte, gestalteten den Abschluß des Kurienparlamentes ehrenvoll, eines Systems, das noch in seinem Verschwinden alle Künste des parlamentarischen Gefechts gezeigt hatte. Das imposante, denkwürdige Werk, zu dem sich die Krone, die große konservative Macht des Staates, mit den Volksparteien für den Sieg der demokratischen Idee verbunden hatte, war vollendet. Die „Reichspost” war, innerhalb der nichtsozialistischen Presse Wiens, in der vordersten Reihe der publizistischen Kämpfer für die Reform gestanden.

Nun ging es in die Wahlen. Dr. Albert Geßmann, der während der Reformberatungen sieh als der konstruktivste Geist der an den Ausschußarbeiten beteiligten Abgeordneten erwiesen hatte und zu beispiellosem Einfluß emporgewachsen war, begann nach der Verabschiedung des Parlamentes sofort die christlichsoziale Wahlarbeit. Wenige Monate standen bis zum Maitermin den Wahlen zur Verfügung. Er sah für die kleine Partei eine Riesenaufgabe. Ein Jahrzehnt hatte die einstige Wiener Partei dank einer bisher in Oesterreich beispiellosen Leistung schöpferischer Verwaltungskraft und lebendigster, an das österreichische Selbstbewußtsein appellierender politischer Initiative im ganzen Staate Anhänger gewonnen. Von überall her kamen jetzt an die Wiener Leitung Aufforderungen zur Kandidatenaufstellung.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung