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Dampfstadtbahn mit Geburtsfehlern

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Glücklich sind jene Großstädte, die seit einem halben Jahrhundert über ein dichtes U-Bahn-Netz verfügen (Paris, London, New York, Berlin). Aber auch Wien steht nicht so ungünstig da, wie es derzeit den Anschein hat. Bis an den Rand der inneren Bezirke führen die Schienenstränge der sieben Bahnlinien radial heran und werden durch zwei Gleisringe verbunden, doch sind sie gegenwärtig nur unzulänglich für den Stadtverkehr genützt.

Heute ist es üblich, alle Leistungen unserer Großeltern herabzusetzen und zu belächeln. Bei vorurteilsfreier Betrachtung muß man jedoch beispielsweise dem Bau der Wiener Stadtbahn höchste Anerkennung zollen, nicht nur in architektonischer (Otto Wagner), sondern auch in bautechnischer und organisatorischer Hinsicht*. Im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts wurden nicht weniger als drei Dutzend privater Entwürfe für ein Wiener Stadtbahnnetz geprüft, aber doch immer wieder verworfen, weil das Anstreben baldiger Erträge die Solidität ihrer Planung drückte. Inzwischen hatte aber das gemeinwirtschaftliche Denken in der Kommunalpolitik immer mehr Boden gewonnen und schließlich (1892) verwirklichte eine Kommission für Verkehrsanlagen, in der der Staat, das Land Niederösterreich und die Gemeinde Wien vertreten waren, die Stadtbahn. Der Staat übernahm 87,5 Prozent der Baukosten! Nicht einmal vier Monate nach Konstituierung der Kommission (25. Juli 1892) begann am 7. November 1892 der Bau der Stadtbahn. Der Wiener unserer Tage engt diesen Begriff auf die derzeit elektrisch betriebenen Stadtbahnstrecken (Wiental-, Donaukanal-und Gürtellinie) ein. Der Bau erstreckte sich aber über diese Linien (27 Kilometer) hinaus (Vorortelinie) auf eine Streckenlänge von 40 Kilometern (mit den adaptierten, bereits für Güterverkehr verwendeten Linien 90 Kilometer), die viele schwierige Kunstbauten (Viadukte, Brücken, Tunnels, Einschnitte, Galerien), reichlich dimensionierte Bahnhofsgebäude (die Aborte in einem Stadtbahnbahnhof sind geräumiger als der Warteraum eines „modernen“ Autobusbahnhofs!) und eine Absenkung des gesamten Geländes in der Station Hauptzollamt, das früher rund vier Meter über dem Straßenniveau lag, um etwa sieben Meter mit gigantischen Erdbewegungen einschloß. Das alles war in neun Jahren (1892 bis 1901) fertiggestellt, obwohl man sich hauptsächlich mit Krampen, Schaufeln und Cabwagen behelfen mußte. Heute, im Zeitalter von Bulldozer und Caterpillar, dauert bloß die .Adaptierung einer zwölf Kilometer langen Strecke für den Schnellbahnverkehr acht Jahre! Selbst damit ist jetzt bloß die erste Ausbaustufe erreicht; ein Termin für den Vollausbau (mit den Stationen Matz-leinsdorfer Platz, Rennweg, Radetz-kyplatz und anderen) läßt sich noch gar nicht absehen. Wir haben also keine Ursache, auf unsere Leistungen allzu stolz zu sein.

Unbestritten hatte die Stadtbahnplanung Mängel. Am schwersten wiegt, daß sie trotz der guten ErVergleiche „Die Furche“ 20/1963. Seite 9: „Die Stadtbahn wird unterschätzt“, von Hermann Czech.fahrungen andernorts mit betriebssicheren elektrischen Stadtbahnen für Dampfbetrieb eingerichtet wurde. Hier wirkten wieder einmal die militärischen Belange fortschrittshemmend. Der elektrische Betrieb auf Hauptbahnen erschien aus strategischen Gründen zu leicht verwundbar und wurde daher abgelehnt. Noch im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts plante und versuchte die Kommission für Verkehrsanlagen der Wiener Stadtbahn dennoch elektrischen Betrieb, kam aber wegen finanzpolitischer Differenzen zu keinem Entschluß.

Der zweite Vorwurf gegen die Stadtbahn, sie sei nur eine Um-die-Stadt-Bahn, geht auch zu Lasten der Militärbehörden, die vor allem zur raschen Überstellung von Truppentransporten die einzelnen Fernbahnen verbinden wollten. Die Planung sah allerdings ursprünglich zwei ergänzende Radiallinien unter der Inneren Stadt mit elektrischem Betrieb vor. Daß die Stadtbahn nicht bis ins Stadtzentrum vordringt, wiegt heute allerdings nicht mehr so schwer. Erstens hat sich das Häusermeer selbst über die äußersten Ringe der Stadtbahn hinausentwickelt und zweitens schätzt die moderne Verkehrplanung -ausdrücklich tangentiale Verkehrsadern als sehr zweckmäßig, weil sie den Umsteig- vom Ziel- und Quellverkehr trennen, Hauptknotenpunkte in mehrere Knoten auflösen und zahlreiche Umsteigmöglichkeiten schaffen. Dennoch gehört das Wiener Schienennetz zweifellos durch unterirdische Strecken im Gebiet der Inneren Stadt ergänzt, wenn auch ihre Verwirklichung Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird.

Trotz ihrer Mängel hatte sich die Dampf-Stadtbahn mit ihrem dichten Zugsverkehr gut in das Wiener Verkehrsgeschehen eingefügt und ihre Stillegung nach dem ersten Weltkrieg brachte vielen Wienern Fahrzeitverluste und den parallellaufenden Straßenbahnlinien arge Überfüllung. Es war naheliegend, sie wieder dem Stadtverkehr dienstbar zu machen. Dafür kam jetzt natürlich nur elektrischer Betrieb in Betracht. Die Staatsbahn war aber nicht mehr bereit, den stark defizitären Betrieb weiterzuführen. Trotz der damals schwierigen politischen Situation (..rote“ Gemeinde gegen „schwarzes“ Ministerium) kam es erstaunlich rasch zu einem Pachtvertrag (1923). Die Gemeinde übernahm nur die bis heute von ihr betriebenen Linien. Ihr Entschluß, sie mit Straßenbahnfahrzeugen zu betreiben, stieß unter der Fachwelt auf starke Opposition: es sei unverantwortlich, eine als Vollbahn ausgebaute Strecke (Fahrzeugbreite 3,04 Meter) auf kleinbahnmäßigen Stadtbahnbetrieb (Fahrzeugbreite 2,20 Meter) zu degradieren. Außerdem verurteilte sie die Schaffung von Bruchstellen, die in Heiligenstadt und Hütteldorf ein Umsteigen notwendig machen. Gab es doch im Dampfbetrieb die sehr beliebten durchgehenden Züge bis Tulln, beziehungsweise Neulengbach.

Die harte Opposition hat immerhin einige arge Fehler der ersten Planung verhüten können. Die Gemeinde wollte zuerst die Stadtbahnstrecken ohne Signalanlagen, „auf Sicht“, mit gewöhnlichen Straßenbahnzügen befahren. Damit wäre die Reisegeschwindigkeit geringer gewesen als auf der Dampf-Stadtbahn! Fachliche Bedenken erreichten doch, daß sich die Gemeinde zu elektrischen Signalanlagen, zu mehrteiligen Zügen mit Vielfachsteuerung und Druckluftbremsen und zu einem eigenen, aber notfalls auch im Straßenbahnnetz verwendbaren Wagenpark entschloß. Nachdem die elektrische Stadtbahn am 3. Juni 1925 ihren Betrieb aufgenommen hatte. wurden die schmucken und sehr geschmackvoll gestalteten rot-weißen Züge (erst in den dreißiger Jahren ganz rot gestrichen) lebhaft begrüßt. Die Frequenz blieb allerdings zunächst gering, weil für die Stadtbahn ein eigener Tarif gewählt worden war. Die meisten Fahrgäste nahmen daher die längere Fahrzeit auf den parallellaufenden Straßenbahnlinien in Kauf. Erst nachdem die Stadtbahn am 21. Oktober 1925 in das Tarifgebiet der Straßenbahn einbezogen worden war, wurde sie zu dem Massenverkehrsmittel und Rückgrat des gesamten öffentlichen Verkehrs in Wien, das sie bis heute geblieben ist. Trotz der zweiachsigen Wagen liegt ihre Reisegeschwindigkeit nicht unter der vergleichbarer vierachsiger U-Bahnen, dank der — für damals — modernen Zugsicherungseinrichtungen. Beachtlich ist, daß man sich 1923 doch zu dieser Investition aufgeschwungen hat, heute dagegen eine „moderne“ Unterpflasterstraßenbahr „auf Sicht“ befahren will. Bei Straßenampeln („Irrlichter der Großstadt“ nach US-Stadtplaner und Ex-Wiener Victor Gruen) spart man aber nicht!

Weniger verstehen kann man dagegen, daß nach 1945, als der Fahrpark und die Anlagen der Stadtbahn weitgehender Reparatur bedurften, das Provisorium des straßenbahnmäßigen Betriebs beibehalten und nicht eine moderne Dauerlösung gefunden wurde. Das hätte doch jetzt leichterfallen müssen, da im Bund und in Wien die Koalition herrschte. Der Wagenpark war total erneuerungsbedürftig. Hier hat die Praxis die Bedenken der Opposition von 1923 bestätigt: die straßenbahnmäßigen Zweiachser (Type N/n/nl) waren dem noch strapaziöseren Stadtbahnbetrieb nicht gewachsen, während ihre „echten“ Straßenbahnschwestern (Type M/m2/m3) sich bestens bewährt haben, noch heute das Rückgrat für den Verkehr auf den frequentiertesten Ringlinien bilden und bei Fahrgästen und Personal — wie Stadtrat Schwaiger einmal schrieb — am beliebtesten sind.

Statt einer definitiven Stadtbahnlösung (entweder Vollbahnbetrieb durch die Bundesbahn oder richtige vierachsige Stadtbahnzüge) ließ die Gemeinde Wien ab 1954 die ramponierten, alten Wagen „umbauen“. Praktisch waren es aber Neubauten mit all den Mängeln der alten. Nicht einmal eine Totmanneinrichtung, die einmänniges Führen der Züge ermöglicht hätte, ließ sie einbauen und muß es heute mit höheren Kosten nachholen.

Weiter unterblieben auch die leicht durchführbaren Korrekturen und Ergänzungen. Der Umbau der Station Mariahilfer Straße—Westbahnhof hätte Gelegenheit geboten, sie näher an die Mariahilfer Straße heranzurücken und einen zweiten Zugang direkt zu ihr zu führen. Dadurch hätte man viele zusätzliche Fahrgäste von der Straßenbahn auf die Stadtbahn gelenkt. •

Die Verlängerung der Station Gumpendorfer Straße über den für diesen Zweck freigehaltenen Gürtelstreifen nach Meidling—Südbahnhof ist leider auch unterblieben. Sie hätte überdies einen geschlossenen Stadtbahnring geschaffen, sei es durch Einschieifen bei der Station Margaretengürtel (Projekt Skroba-nek), sei es durch Umsteigen (Projekt Brunner). Ebenso unterblieb die nördliche Verlängerung der Gürtellinie (zur Engerthstraße) und dei Wientallinie (von Heiligenstadt über Jedlesee nach Stammersdorf). Die derzeit gebauten Straßenzüge in dei nördlichen Brigittenau sind kein Ersatz, denn selbst mit Autobuslinier kommen sie nicht im entferntester an die Kapazität und Geschwindigkeit einer Schnellbahn heran. Heute nach den (positiven) Erfahrunger mit der Schnellbahn und den (negativen) mit dem Autobus-13er, fordert die breite Öffentlichkeit Straßenbahnverbindungen über die neue Donaubrücke. Besser wäre es natürlich gewesen, die Nordwestbahnbrücke für eine Stadtbahnverlängerung (Projekt Petroni unc Nathschläger) zu verwenden. Außerdem ist der Autobus gerade aul Brücken durch Glatteis sehr gefährdet. Daher ist ja auch das Projekt mittels einer provisorischen Autobuslinie den Bedarf für eine Wiederaufnahme des Personenverkehr; auf der Vorortelinie zu erkunden nicht ernst zu nehmen. Hätte mar mit einer Autobuslinie „erkundet“ ob Bedarf für die Schnellbahr Meidling—-Floridsdorf besteht, sc wäre das Ergebnis garantiert negativ ausgefallen. Nun, da die Schnell, bahn ohne Probeautobus gebaul wurde, hat sie sich als so vorzüglich erwiesen, daß ihre Fahrgastfrequens die optimistischesten Prognoser übertrifft.

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