6616792-1955_36_09.jpg
Digital In Arbeit

Das Abenteuer, Zeitgenosse zu sein

Werbung
Werbung
Werbung

Die Genfer Atomkonferenz, diese eltsame Mischung von Weltkonzil der Wissenschaftler, die unser aller Geschick in der Hand haben, und von Atom-Mustermesse — bereits zeichnet ich die Konkurrenz der Atomkraftwerklieferanten ab und hartgesottene Geschäftsleute träumen von Profitneuland — ist ausgeklungen. Für die nichtbeteiligte Weltöffentlichkeit haben die paar hundert Konferenzberichterstatter aus der Flut der über tausend Vorträge Dinge herausgepickt, die alles andere als dazu angetan waren, das anhebende Atomzeitalter nur im rosigen Licht des Fortschrittes zu sehen.

Seit diesem zweiten Genfer Treffen werden nämlich die Atomgefahren nicht mehr unter dem Blickwinkel eines Krieges mit A- und H-Bomben gesehen, sondern unter jenem der nun unweigerlich fortgesetzten Verwendung der neuen Kräfte zu „friedlichen“ Zwecken, das heißt vorwiegend zum Erzeugen von elektrischer Kraft für Industrie und Verkehr. Schwedische Wissenschaftler verwiesen auch auf die bereits versuchte Möglichkeit, mit Hilfe der Atomstrahlkraft Fruchtsorten in kürzester Zeit heranzuzüchten, welche auch in den bisher unbewohnbaren Regionen — wie den nördlichen — gedeihen können. Der zivilisatorische Gewinn ist also unbestreitbar. Aber ebenso gewiß ist leider, daß der ganze Herstellungsprozeß der Atomkraft Gefahren von noch nicht abzuschätzenden Ausmaßen für die menschliche Existenz birgt. Dabei sind nicht nur die direkt an dieser Arbeit Beteiligten gefährdet (für diese ist von gewerkschaftlicher Seite bereits ein Maximum von Werkschutz verlangt worden), sondern die Möglichkeit von Betriebskatastrophen und vor allem die ständig zunehmende Strahlungsverseuchung der Erde sowie der Luft ist allgemein.

„Unsere Forschungszentren ergießen jeden Tag pfundweise radioaktives Material in die Atmosphäre“, sagte schon vor Genf der englische Nobelpreisträger für Chemie, F. Soddy. Die jährliche Menge der in der gesamten Welt so abgelassenen „Abfälle“ kommt einer Strahlungskraft von 400 Tonnen Radium gleich. Und dabei steht man erst am Anfang. In Genf wurde anerkannt, daß die ungefährliche Abfallagerung eines der schwierigsten Probleme wird. Man sprach vom Abtransport nach der Arktis und vom Versenken in Behältern ins Meer. Allen Ernstes dürfte es sich für die Zukunft empfehlen, sich dieser Abfälle mit Weltraumraketen zu entledigen und den Mond zur Atomablagerungsstätte zu deklarieren.

Dazu kommt noch die Möglichkeit, daß einer der nun allenthalben entstehenden Atommeiler durch Versehen explodiert, genau wie das bei Hochöfen auch vorkommt. Das radioaktive Material in einem solchen Meiler entspricht der Stärke mehrerer Tonnen Radium, was einen Giftgehalt bedeutet, der bis zu einer milliarden-fachen Stärke des Chlorins geht, d. h. des stärksten Giftes, das heute in der Industrie verwendet wird. Dies sagten in Genf die Amerikaner McCullough und M. Mills in ihrem Bericht. Wenn ein solcher Meiler zerbirst, müßte unter Umständen das Gebiet einer Großstadt evakuiert werden. Daß solche Katastrophen durch menschliches Versagen oder auch böse Absicht entstehen können, kann nicht verhindert werden. Man hätte also praktisch das stille Platzen einer Atombombe. Schon ohne an derartige Katastrophen zu denken, rieten in Genf einige prominente Wissenschaftler aus dem englischen Har-wellinstitut davon ab, Atomreaktoren überhaupt in dichtbesiedelten und landwirtschaftlich genutzten Gebieten aufzustellen. Die;, weil mit den Betrieb eine leichte, aber ständige Ablagerung radioaktiver Teilchen auf das Viehfutter gegeben sei, womit durch die Milch vorwiegend die junge Generation unzulässiger Strahlung ausgesetzt werde.

Was hat es nun mit dieser Strahlung auf sich? Sie schädigt das Erbgut des Menschen. Die Fortpflanzung wird auf Generationen hinaus qualitativ, wenn man so sagen darf, beeinträchtigt. Die Wissenschaftler sind sich einig, daß erstens eine über die normale Radioaktivität hinausgehende Strahlung manchenorts bereits erfolgt ist (so in den USA), daß zweitens eine Schädigungsgrenze mit Sicherheit nicht gezogen werden kann. Wer wird all die Gebrechlichen und Lebensuntüchtigen betreuen? Wird die UNESCO, unter deren Jüngern bislang bloß Prediger der Geburtenbeschränkung für Asien waren, noch zur Welteuthanasieanstalt werden müssen? Oder wird der Kraftgewinn aus der Atomenergie gerade hinreichen, seine Menschenopfer gratis in Heilanstalten zu versorgen? Es wäre ein Leben von Menschen, die zwischen Apparaten zum technischen Getier herabsinken. Deren Vergnügen noch darin bestünde, unter den rarer werdenden Durchschnittsexemplaren eine „Miß Normal“ zu küren oder sich von überdimensionierten Technikerschädeln auf pillennutrierten Spitzbäuchen und Zitterbein-chen an Hand von Michelangelo-Bildern zeigen zu lassen, was einmal der Mensch gewesen ist, als er noch von seiner Hände Arbeit, nicht der Atome Gewalt, lebte.

Das alles ist der Reim, den man sich zu ernstgemeinten Genfer Warnungen machen muß. Während der letzten vierzehn Tage wußte man oftmals nicht, ob man die Zeitung, die Apokalypse oder Nietzsche las. Es ist das Gefühl des Ausgeliefertseins an diese Art Fortschritt, an die Planungsgiganten, diese rastlosen Techniker, die uns künftig in der Hand haben. Da gibt es kein Entfliehen in die private Sphäre. Hat jemand die Menschen gefragt, ob sie diese rasante Atomisierung der Technik, der Natur, ja aller Lebensverhältnisse überhaupt wollen?

Wie eine Lawine bemächtigt sich nun allüberall der Staat, die Armee und die Wirtschaft des Atompotentials. Ein ungeheures Anwachsen dieser Mächte ist vorauszusehen. Deren Totali-tarismus wird nun zur Dauereinrichtung. “Noch vor hundert Jahren mochten Gottfried Kellers „Sieben Aufrechte“ mit dem Gewehr vor das Haus treten, „um nachzusehen, was es gebe“, und sich hinter solidem Mauerwerk wie ein König vorkommen. Heute ist die Menschheit insgesamt ohnmächtig den Kräften ausgeliefert, die sie selbst entfesselte. Dieses Abschneiden jeglichen Rückzugs für jeden, der sein Leben selber gestalten will, die physische Verunmög-lichung jedweden Nonkonformismus, dies ist das Traurige und Revoltierende an der neuen Zeit.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung