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Das aktuelle Parlament

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Illusionen in der Politik sind gefährlich. Die ideale Vorstellung von einem Parlament, das die Gesetze immer auch selbst ausarbeitet, ist so eine Illusion. Man muß den Mut haben, dies zu erkennen, will man nicht an einer Position festhalten, die die neue Zeit längst zu einer Fiktion werden ließ. Der Gesetzgeber hat sich heute mit fast allen Lebensgebieten zu befassen. Dabei aber sind die menschlichen Erkenntnisse so gewaltig, daß es keine Universalgenies mehr gibt. Es gibt daher bei uns auch keine 165 Menschen — die Zahl der Nationalratsabgeordneten —, die auf allen diesen Gebieten Fachleute wären. Gesetze müssen aber heute Fachleute ausarbeiten, manchmal werden auch sie nicht mehr genügen, dann müssen es Wissenschaftler sein.

Die verfassungsmäßige Stellung des Nationalrats erfährt dadurch absolut keine Aenderung. Er ist nach wie vor jene Institution, der die Beschlußfassung obliegt. Das — und das ist dabei das Wesentliche — bedeutet freilich nicht eine kritiklose Annahme der Vorlagen. Hiebei muß der Nationalrat sehr genau abwägen, ob der Gesetzesbefehl mit dem Regierungsprogramm in Einklang steht, ob er dem Gemeinwohl dient, ob durch eine neue generelle Norm nicht etwa eine Gesetzeskollision entsteht, ob durch den Gesetzeszwang nicht unabdingbare Grund- und Freiheitsrechte eingeschränkt werden und überhaupt die Verfassung in allen Punkten respektiert wird usw. Kurzum: In dem Fertigungsprozeß ist der Gesetzgeber nicht mehr Handwerker alten Stils, der jeden Arbeitsvorgang in jeder Phase selbst ausführt, sondern Produzent mit modernen Hilfsmitteln, der aber naturgemäß für jedes Stück, das das Haus verläßt, die volle Verantwortung trägt.

Aber — und das wird meist übersehen — das Parlament ist nicht nur Gesetzgeber, es ist als Volksvertretung berufen, die Interessen des Volkes, das es ja repräsentiert, auf weitem Gebiet zu wahren. Der Wirkungsbereich der Volksvertretung ist außerordentlich weit gesteckt. Sie hat umfassende Kontrollbefugnisse über die gesamte Exekutive. Ihr steht ein finanzielles, ein rechtliches und ein politisches Kontrollrecht zu, das sich auf die Regierung ebenso erstreckt wie auf den letzten Träger staatlicher Verwaltung. Es ist der Schlüssel zu jeder Amtsstube. Schöpft die Volksvertretung ihr Kontrollrecht aus, ist in einem großen Bereich das Axiom erfüllt, das da lautet: Le pouvoir arrete le pouvoir (Die Macht kontrolliert die Macht). Dadurch ist dem Nationalrat geradezu ein Universalinstrument in die Hand gegeben. Macht er davon zweckmäßigen Gebrauch, dann liegt die Staatsgewalt wirklich in der Hand des Staatsvolkes.

Soll aber das Parlament seinen Platz im Zentrum des politischen Lebens zurückgewinnen, dann muß die Volksvertretung zu den aktuellen Problemen Stellung beziehen. Zu der vom Nationalratspräsidenten initiierten Popularisierung muß als Ergänzung die Aktualisierung treten.

Heute ist es meist so, daß die Abgeordneten dann zu Problemen in mündlicher Aussprache Stellung nehmen, wenn gerade ein Gesetzentwurf vorliegt oder das Budget behandelt wird. Dabei fällt die zeitlich gebundene Budgetdebatte oder die Einbringung eines Gesetzentwurfes, die mancherlei Imponderabilien unterworfen ist, durchaus nicht immer mit einem aktuellen Geschehen zusammen. Das hat zur Folge, daß, während sich die Bevölkerung mit brennenden Fragen befaßt, die Abgeordneten sich an Themen entzünden, an denen das öffentliche Interesse schon wieder erloschen ist. Auch parlamentarische Anfragen werden nicht selten zu einem Zeitpunkt beantwortet, zu dem das Problem nicht mehr diese Aktualität besitzt. Hiebei bietet die Geschäftsordnung die Möglichkeit einer „dringlichen Anfrage“. Wenn der Tag die Bevölkerung zutiefst bewegende Probleme aufwirft, wenn es um Schicksalsfragen des Volkes geht, dann genügt es nicht, wenn Politiker von ihren Burgen, den Parteiversammlungen, ihre Ansichten dem Volk zurufen, dann muß die Volksvertretung sie in sachlicher Wechselrede behandeln und, wo notwendig, klare Entscheidungen treffen. Darum das Postulat: Zurück ins Parlamentr

Und schließlich müßte der Nationalrat das Gespräch mit der Regierung pflegen. Auch hie-zu bietet die Geschäftsordnung die Möglichkeit. Der geeignete Ort hiezu sind die Ausschüsse. Hier sind die Politiker kaum von Prestige- und Propagandarücksichten belastet. Hier ist die Opposition maßvoll und der Minister auch den Argumenten der Opposition zugänglich In dieser meist ruhigen Atmosphäre könnte manch fruchtbares Gespräch Zustandekommen, manch gute Idee entwickelt werden. Hier könnte das Parlament eine neue Initiative entfalten.

In einer unglücklichen Zeit hat Oesterreichs Parlament sich ausgeschaltet Es hat heute jede Möglichkeit, sich in alle aktuellen Phasen des staatlichen Lebens einzuschalten, es muß sich ihrer nur bedienen.

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