6625874-1956_08_03.jpg
Digital In Arbeit

Das andere Sudtirol

Werbung
Werbung
Werbung

Am 18. März, dem Passionssonntag, eröffnet der Apostolische Administrator des Burgenlandes, Prälat DDr. Stefan Läszlö, die Passionsspiele 1956 in der burgenländischen Gemeinde St. Margarethen, fünf Kilometer vom Eisernen Vorhang entfernt. Einem alten Gelübde zufolge, das im Jahre 1946 von einem Heimkehrer erneuert wurde, führt St. Margarethen in jedem zehnten Jahr mit einem Laienspielerkreis aus allen Schichten der Bevölkerung das Spiel vom Leiden und Tod unseres Herrn auf.

Vom Burgenland aus sieht man weit über den Stacheldraht hinweg. Ein paar Kilometer südlich von St. Margarethen liegt Oedenburg. Es liegt sogar an einer österreichischen Bahnstrecke. Die Züge der Linie Wien—Wr. Neustadt—Matters-burg—Deutschkreutz—Rattersdorf-Liebing fahren täglich über — nein, nicht über Oedenburg, sondern über Sopron. So zeigt es die Stationsbezeichnung im Oedenburger Bahnhof, wo zahlreiche wohlbewaffnete Polizisten, die schon von der Grenze an mitfahren, scharf darüber wachen, daß niemand die plombierten Waggons des österreichischen Zuges verläßt. So sinnvoll wurde im Jahre 1921 hier die Grenze gezogen. Zwanzig Kilometer von Deutschkreutz aus gerechnet, 50 Kilometer vom Seewinkel aus schneidet hier ein ungarischer Gebietsvorsprung in österreichisches Gebiet ein und schnürt das Burgenland auf einen Schwanenhals von vier Kilometer zu-samen. Vor dem Jahre 1926 führte nicht einmal eine Straße vom Norden nach dem Süden des Burgenlandes, man mußte, wollte man von Eisenstadt nach Oberpullendorf, Oberwart oder Güssing fahren, den Weg über Wiener Neustadt nehmen. Oder über Oedenburg und somit über ungarisches Gebiet.

Die Art und Weise, wie in den Friedensverträgen nach 1918 die Grenze des Burgenlandes gezogen wurde, war an sich schon äußerst merkwürdig. Die Tschechoslowakei, die zuerst Korridorpläne gehabt hatte, wünschte, daß die Eisenbahnlinie Preßburg—Csorna in ungarischer Hand bliebe. Demgemäß wurde der ostburgen-ländische Heideboden mit den Städten Wieselburg und Ungarisch Altenburg mit 30.000 deutschen Bewohnern bei Ungarn belassen. Aber wenigstens Oedenburg war zur Hauptstadt des Burgenlandes bestimmt. Die großartige Briefmarkenausstellung, die vor einigen Wochen in Eisenstadt zu sehen war, zeigte auch die bereits vorbereiteten österreichischen Poststempel mit der Aufschrift Oedenburg 1 und Oedenburg 2. Dann kam der bewaffnete Handstreich, durch den reguläre und irreguläre ungarische Truppen unter dem Anstrich eines Aufstandes die Heimkehr des Burgenlandes zu Oesterreich verhindern wollten. Ungarn fand einen Rückhalt an Italien.

Um den Preis einer Volksabstimmung in Oedenburg räumte Ungarn schließlich das Bur-genland. Die Abstimmung in Oedenburg wurde unter der Regie des italienischen Generals Ferrario zu einem ungarischen Sieg. Die Freischärler aus der Theißebene, die aus Siebenbürgen geflüchteten Szekler und alle möglichen Leute,* die gar nicht stimmberechtigt gewesen wären, hatten drei- und fünfmal abgestimmt, den Oedenburger Wirtschaftsbürgern, den „Bohnenzüchtern“, wurde die Ausübung des Stimmrechtes unmöglich gemacht. Oedenburg blieb bei Ungarn, und Ungarn marschierte von nun ab unter den Fittichen Italiens. Es gehörte zu den „Askari“ Mussolinis — so nannte' man damals das, was wir heute Satelliten nennen.

In Deutschland begannen alsbald die braunen Bataillone zu marschieren. Deutschland, Deutsch-über alles! Mit zwei Ausnahmen. Am italienischen Siegesdenkmal in Bozen und am ungarischen Trianon-Denkmal in Budapest legten Abordnungen der nationalsozialistischen Verbände und Formationen ehrfurchtsvoll ihre Kränze nieder. Die Unterjochung Südtirols durch Italien, das ungarische Verlangen nach der Rückgabe der „geraubten“ Länder des alten Stefansreiches, zu denen auch das Burgenland gehörte, wurde von Adolf Hitler und den Seinen sanktioniert. Wo es galt, aus dem Leib des österreichischen Volkes Streifen herauszuschneiden, warf Hitler sein Pangermanentum in den Papierkorb.

Hitler hat Südtirol niemals einverleibt, auch | nicht, als Mussolini nur noch eine Schattenfigur war. Und er hat niemals Oedenburg und das Ostburgenland von Ungarn verlangt, obwohl er diesem mit der Südslowakei, dem Karpatenvorland, Nordsiebenbürgen und der Batschka genügend Geschenke gemacht hatte, um auch seinerseits eine Gegenleistung beanspruchen zu können. Er gab wohl auch das Burgenland nicht zurück — er hätte es nicht tun können, ohne seine großdeutsche Phraseologie als bloßen Vorwand für berechnenden Imperialismus zu ent-laiven. Aber er ließ das Burgenland wenigstens von der Landkarte verschwinden, indem er es schleunigst auf „Niederdonau“ und die Steiermark aufteilte.

Die deutschsprachigen Menschen unmittelbar jenseits der burgenländischen Grenze, die Oedenburger, Wieselburger, die Günser, Pinka-taler und Raabtaler, sie alle hatten im Jahre 1938 die Hoffnung, wenigstens im Rahmen des Großdeutschen Reiches mit Oesterreich vereinigt zu werden. Es wurde nichts daraus. Hitler machte sein Geschäft mit der ungarischen Regierung, nicht mit den Volksdeutschen, ■ deren es in ganz Ungarn — zum größten Teil in den Sprachinseln — an die 650.000 bis 750.000 gab, ungerechnet die Hunderttausende der fast oder ganz Madjarisierten. Die Ungarndeutschen waten ihm nie sympathisch, weder die Bajuwaren in den Sprachinseln bis gegen Budapest hin noch die verösterreicherten Schwaben und Rheinfranken in der Schwäbischen Türkei. Es gab in Ungarn nie eine NSDAP, und der „Volksgruppenführer“ Dr. Bäsch versuchte immer wieder, gemäß den Interessen seiner Volksgruppe und nicht nach den Befehlen Berlins zu handeln. Ueber seinen Kopf hinweg schloß Hitler mit Horthy einen Vertrag, wonach die ungarländischen „Volksdeutschen“ von den ungarischen Behörden den SS-Musterungskommissionen vorgeführt wurden. Wer einrückte, verlor die ungarische Staatsbürgerschaft. Aber die deutsche erhielt er nicht! Es gab keine Volksgruppe in ganz Europa, mit der so Schindluder getrieben wurde wie mit den ungarländischen Deutschen.

Als 1945 das Ende kam, hatte Ungarn schon den Sündenbock bei der Hand: Die ungarländischen „Volksdeutschen“! Sie waren seit tausend Jahren — so verkündete man — an allem Unglück Ungarns schuld. In Potsdam warf man die

Ungarndeutschen achtlos mit in den großen Topf. LIngarn wurde ermächtigt, sie auszusiedeln.

In der Bergkirche zu Eisenstadt, wo Haydns Gebeine ruhen, werden seit Jahrzehnten am Karfreitag „Die sieben Worte Christi“ aufgeführt. Und seit Jahrzehnten waren es die Oedenburger, die als Musiker und Sänger diese Aufführung veranstalteten. Auch noch im Jahre 1946, als in St. Margarethen zum erstenmal nach dem Kriege wieder Passionsspiele stattfanden. Als die Oedenburger heimkehrten, stand schon die Polizei bereit zur Absperrung der Stadt. Und dann wurden die Bewohner der Stadt, die 1921 zur Glorifizierung des Abstimmungsschwindels den Namen „civitas fidelis-sima — die allergetreueste Stadt“ erhalten hatte, in Viehwaggons verladen und abtransportiert. Mit ihnen 300.000 Ungarndeutsche.

Ein Teil konnte vorübergehend in Oesterreich Fuß fassen. Aber die Alliierten bestanden auf ihrem Abtransport. Die österreichischen Behörden mußten sich fügen, und so entstand stellenweise der Eindruck, als hätte Oesterreich diese Menschen auch aus seinen Grenzen vertrieben. Heute gibt es keine Volksgruppe, die zerrissener und verwaister wäre als die Ungarndeutschen. Die Hälfte lebt noch in Ungarn, als Fremde und Entrechtete auf der eigenen Heimaterde, die andere Hälfte ist zerstreut über die beiden Deutschland, Oesterreich und Uebersee. In Deutschland fühlen sie sich in ihrer schlichten und schwerfälligen Art nicht minder fremd. Und was sollen sie von der Zukunft hoffen? Einige alte Leute glauben an eine Wiederherstellung des alten Ungarn * und lassen sich einreden, wenn sie recht brav wären, dürften sie wieder nach Ungarn zurück. Der Großteil lebt dahin, kämpft den Kampf um das tägliche Brot und wagt nicht, an das zu denken, was die Seele wund macht. Nur ein Teil von ihnen hat sich noch eine Hoffnung bewahrt. Das sind die,deren Heimat an das Burgenland angrenzt, mit dem sie tausend Jahre lang eine natürliche Einheit bildeten. Im Jahre 1918 hatte die provisorische österreichische Nationalversammlung das geschlossene deutsche Siedlungsgebiet der Ko-mitatc Oedenburg, Wieselburg und Eisenburg für Oesterreich reklamiert. Sind die Bande des Blutes und der Geschichte, die damals galten, heute nichtig? 280.000 Menschen dieses Landes sind heimgekehrt zu Oesterreich, sie sind als Burgenländer Bürger eines nunmehr freien Staates. Sieben Vertreter dieses Landes sitzen im österreichischen Nationalrat. An diese ist nun ein Ruf ergangen, der Ruf ihrer heimatlosen Landsleute aus dem Ostburgenland: „Ver-geßt uns nicht, nehmt euch unserer Heimatfrage an!“

Noch ist kein Widerhall dieses Rufes an die große Oeffentlichkeit gedrungen. Zu groß und zu schwer, sind die Probleme, die hier angeschnitten werden. Aber früher oder später muß es offenbar werden, daß auch das Burgenland sein Südtirol hat. Die Freiheit für Oesterreich durch den Staats vertrag hat weit über die Grenzen unseres Landes hinaus Hoffnungen wach werden lassen in den Herzen einer Gruppe von Heimatvertriebenen. Und mag hier bei uns einem kühlen Betrachter die Hoffnung sinnlos erscheinen, so gibt es draußen in Deutschland Menschen, denen sogar diese fast sinnlos scheinende Hoffnung Anlaß gibt, sie im geheimsten Herzen zu beneiden. „ ... auch ich mußte weggehen aus Oesterreich, obwohl ich mehr an diesem Lande hing als mancher Oesterreicher. Für mich schlug das Herz des Reiches immer in dieser Landschaft... Ich glaube, ich leide mehr an Oesterreich, als ich es sagen kann...“

Der dieses schrieb, ist kein „Ostburgenländer“, er ist ein Vertriebener aus dem Sprachinseldeutschtum Ungarns. Wo gehört er hin? Von Oesterreich gerufen wurden seine Ahnen, von Ungarn drangsaliert die Generationen seit 1867, von Hitler zum Kanonenfutter gemacht die Jugend. So viele Ideale sind zerbrochen — und doch, irgendein Ideal möchte man haben, irgendeine geistige Heimat. Eine Heimat, die Europa heißt, ist viel zu weit, als daß sie für sich allein mütterlichen Halt und Wärme geben könnte. * '

Wenn in St. Margarethen die Passionsspiele beginnen, wird auf der Anhöhe über dem Ort ein Kreuz stehen, das weit über den Stacheldraht hinwegblickt in den Osten. Es wird ein Sinnbild sein für die vielen hunderttausend Menschen, deren Wiege viel zu weit im Osten stand, als daß sie das hätten sein und bleiben dürfen, was sie im Grund ihres Herzens sind: Oesterreicher. Und die deswegen, weil sie Oesterreicher waren, als Volksdeutsche aus Ungarn und dem Banat weit weg nach Westen vertrieben wurden. Hoch über das Kreuz von St. Margarethen hinweg, über tausend Kilometer, spannt sich der Bogen, Schicksal und Sehnsucht, ostösterreichische Passion.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung