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Das Anhängsel

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An diesem Mittwoch haben der, deutsche Außenminister Walter Scheel und sein polnischer Kollege Stefan Jedrychowski den deutsch-polnischen Vertrag paraphiert. Zur Unterschrift selbst wird der deutsche Bundeskanzler Brandt voraussichtlich Mitte Dezember persönlich nach Warschau reisen, um sich, wie schon seinerzeit beim deutsch-sowjetischen Vertrag in Moskau, von der deutschen Presse als großen Staatsmann feiern zu lassen. Nun muß man die bisherige Vorstellung von staatsmännischer Größe ins Gegenteil kehren, um das publizistische Lob über Brandts und Scheels staatsmännische Größe verstehen zu können. Bisher galt der Staatsmann als groß, der für sein Land Vorteile, sei es Gebietsgewinn, militärische Bündnisse oder wirtschaftliche Gewinne, aus Verhandlungen holen konnte. Brandts und Scheels Größe aber liegt in ihrem Mut, zu verzichten, wobei die eventuell zu erwartenden Vorteile in einer unbestimmten Zukunft liegen.

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An diesem Mittwoch haben der, deutsche Außenminister Walter Scheel und sein polnischer Kollege Stefan Jedrychowski den deutsch-polnischen Vertrag paraphiert. Zur Unterschrift selbst wird der deutsche Bundeskanzler Brandt voraussichtlich Mitte Dezember persönlich nach Warschau reisen, um sich, wie schon seinerzeit beim deutsch-sowjetischen Vertrag in Moskau, von der deutschen Presse als großen Staatsmann feiern zu lassen. Nun muß man die bisherige Vorstellung von staatsmännischer Größe ins Gegenteil kehren, um das publizistische Lob über Brandts und Scheels staatsmännische Größe verstehen zu können. Bisher galt der Staatsmann als groß, der für sein Land Vorteile, sei es Gebietsgewinn, militärische Bündnisse oder wirtschaftliche Gewinne, aus Verhandlungen holen konnte. Brandts und Scheels Größe aber liegt in ihrem Mut, zu verzichten, wobei die eventuell zu erwartenden Vorteile in einer unbestimmten Zukunft liegen.

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Es besteht kein Zweifel, daß durch die Ostpolitik Brandts und Scheels die gesamte europäische Politik in Bewegung geraten ist und erstarrte Fronten aufgelockert.wurden. Brandt ■und Scheel anerkannten die Realitäten nicht nur de facto, sondern auch de jure, das heißt, sie bestätigten den Sowjets samt deren Satellitenstaaten, daß die deutsche Bundesregierung den Status quo in Europa, der ohne Zweifel auf Unrecht beruht, als Recht anerkennt. Das kann als Realpolitik bewertet werden, hat aber den einen Schönheitsfehler, daß sich die Sowjetunion nicht dazu aufraffen kann, auch von sich aus den Status quo dort anzuerkennen, wo er nicht zu ihrem Vorteil gereicfit, etwa in Berlin. Nun wären alle Einwände hinfällig, wenn die drei Parteien im Bundestag die Außenpolitik der Regierung unterstützten. Dies ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil. Die Opposition, die fast ebenso viele Mandate im Bundestag besitzt wie die beiden Regierungsparteien zusammen, ist bis heute noch immer nicht über die tatsächlichen Verhandlungen, die zum Zustandekommen des deutschsowjetischen Vertrages geführt haben; informiert. Was liegt näher, als daß sie Mißtrauen hegt, weil Verhandlungen, die selbst nach Abschluß eines Vertrages noch so geheim sind, daß sie der Öffentlichkeit vorenthalten werden müssen, den Verdacht nähren, daß etwas nicht in Ordnung ist. Auch der sowjetischdeutsche Nichtangriffspakt zwischen Molotow und Ribbentrop im August 1939 trug den Sprengstoff in den geheimen Zusatzprotokollen, in denen den Sowjets ein Teil Polens sowie ihr Anrecht aus Bessarabien und die baltischen Staaten zugesichert wurden.

Auch vom deutsch-polnischen Vertrag ist noch nicht die genaue Textierung bekannt,, weshalb der Opposition eine präzise Stellungnahme nicht möglich ist, doch Brandt und Scheel lassen den Vertrag durch die deutsche Presse als großes historisches Ereignis feiern in der Hoffnung, das Denken der deutschen Bevölkerung werde so umnebelt, daß die nach Bekanntwerden des genauen Textes etwa einsetzende Kritik wirkungslos bleibt. Eine solche Haltung mag vielleicht bei den Landtagswahlen in Bayern mehrere tausend Stimmen einbringen, dient aber bestimmt nicht dem Interesse des deutschen Volkes, weil ein Vertrag, der Dauer haben soll, doch von der übergroßen Mehrheit der Nation gebilligt werden muß.

Der Vertrag selbst umfaßt drei Teile: den eigentlichen Vertrag, bestehend aus fünf Artikeln und einer Präambel, die Bestimmung, daß von der deutschen Bundesregierung erst auszuarbeitende Noten an die drei Westmächte gerichtet werden, des Inhalts, daß deren Rechte durch den Vertrag nicht berührt sind, und schließlich eine einseitige Erklärung Polens über Fragen der familiären Zusammenführung. Um diese und um die Grenzfrage ging es in erster Linie bei den zweiwöchigen Verhandlungen Scheels in Warschau, die mit einer sechsstündigen Nachtsitzung endeten.

Die Grenzfrage war am heikelsten. Sie wurde im Sinne der Polen gelöst. Die Bundesrepublik anerkennt die Oder-Neiße-Linie, wie sie im Potsdamer Abkommen festgelegt wurde, als polnische Westgrenze. Der Vorbehalt, daß die Bundesrepublik nur als solche und nicht stellvertretend für eine eventuelle Ge-samtregierung sprechen könne, wird in einem Brief und nicht im Vertrag festgehalten. Hier Ist die Parallele zum Moskau-Vertrag gegeben, bei dem gleichfalls in einem Brief auf eine eventuelle deutsche Wiedervereinigung hingewiesen wird. Beide Briefe bedeuten eine innenpolitische Absicherung der deutschen Regierung. Für die Vertragspartner aber sind sie nicht mehr wert als ein Stück Papier. Im Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 wurde das Gebiet östlioh der Neiße bis zu einem künftigen Friedensvertrag unter polnische Verwaltung gestellt als Entschädigung für die verlorenen Ostprovinzen, auf die die polnische Regierung im polnisch-sowjetischen Staatsvertrag vom 16. August 1945 verzichtete. Die Polen begannen schon am 20. Juni 1945 mit der gewaltsamen Vertreibung der Deutschen aus deren Gebieten östlich der Görlitzer Neiße. Am 12. Jänner 1949 erklärte Polen einseitig die Oder-Neiße-Linie als Staatsgrenze. Die DDR sanktionierte dieses Vorgehen am 6. Juni 1950 durch Vertrag. Der Vorteil, den Westdeutschland errang, ist die Zusicherung der Polen, daß sie diplomatische Beziehungen mit der BRD aufnehmen werden, damit es auf allen Gebieten zur Normalisierung und Zusammenarbeit kommen könne. Femer gab die polnische Regierung in der Frage der Familienzusamimenführung nach. Scheel hatte eine strenge Kabinettsweisung, ohne Lösung des Problems der Familienzusammenführung den Vertrag nicht abzuschließen. Allerdings gehen hier die Zahlen weit auseinander. Das deutsche Rote Kreuz, das sich auf eine Liste von 1960 stützt, spricht von 270.000 Ausreisewilligen, die Polen dagegen sprechen nur von 3000. Der deutsch-polnische Vertrag ist im Grunde ein Anhängsel des Moskau-Vertrages. Er stellt eine Kundgebung des guten Willens von Seiten der deutschen Bundesrepublik dar, die Vergangenheit ebenso wie die Blöcke zu überwinden. Ein Erfolg kann deshalb der deutschen Ostpolitik beschieden sein, wenn der gute Wille und die Überwindung des Blockdenkens auch im europäischen Ostblock vorhanden sind. Wenn dies nicht der Fall ist, dann könnte es bei der deutschen Bevölkerung leicht zu einem politischen Katzenjammer kommen.

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