6637567-1957_25_01.jpg
Digital In Arbeit

Das Atom. Der Mensch, Der Staat

Werbung
Werbung
Werbung

Im amerikanischen „Atomklima” beginnen sich einschneidende Veränderungen abzuzeichnen. Was nach der Explosion der H-Bombe im März 1954 nur eine Handvoll von Wissenschaftern zu sagen wagte, ist heute nahezu die Allgemeinüberzeugung der amerikanischen Wissenschaft geworden. Auch die Staatsführung trägt, in die Defensive gedrängt, diesem Umschwung Rechnung, indem sie seit geraumer Zeit verspricht, mit ihren Atombombenexperimenten nichts anderes mehr bewirken zu wollen, als die „schmutzige” Bombe von seinerzeit durch eine Serie „reiner” Bomben ersetzen zu wollen, die angeblich keine radioaktiven Ausschüttungen mehr eigen. Auf diesen Ton war auch eine der litXteB Pressekonferenzen Eisenhowers gestimmt, in der vier Publizisten der wachsenden Beunruhigung des Landes Ausdruck verliehen und dementsprechende drängende Fragen stellten, auf die’ der Präsident auf der angedeuteten Rückzugslinie ausweichend antwortete („New York Times”, 6. Juni).

Der eigentliche Auftakt zu dem Aufstand des amerikanischen Geistes gegen die wissenschaftliche Grundhaltung der amerikanischen Regierung in der Atompolitik, vor dem wir heute stehen, kam mit der mutigen Haltung des demokratischen Präsidentschaftskandidaten Adlai E. Stevenson, der in der vorjährigen Wahlkampagne die Frage der Gefährdung der Welt durch das radioaktive Strontium 90 aufwarf. Radiostrontium ist das Isotop mit dem Halblebenswert von 28 Jahren, das dem Kalzium in den Knochen nachgeht und Blutkrebs (Leukämie) erzeugt. Wohl gewann Eisenhower nicht zuletzt deshalb die Wahl, weil er in autoritativer Form die Befürchtungen seines Gegners für völlig grundlos erklärte und die Mehrheit der amerikanischen Wähler dem General, der Politiker wurde, mehr Glauben schenkte als dem Politiker, der ein Intellektueller blieb. Seither . freilich hat es sich immer deutlicher ergeben, daß auf diesem Gebiete jedenfalls der besiegte Kandidat moralisch und intellektuell gesiegt hat. Denn sein Standpunkt ist seither von der freien Wissenschaft Amerikas übernommen worden (gleichsam als hätte sie seines politischen Mutes dazu bedurft), wogegen sich der Präsident in dieser Frage allein auf einige wenige Regierungswissenschafter in hochoffiziellen Positionen stützte, die politisch, nicht wissenschaftlich argumentieren. So hat Eisenhower auch in der erwähnten Pressekonferenz („N. Y. T.”, 6. Juni), schon durch die erste Anfrage offenkundig gereizt, sich auf falsche Voraussetzungen verlassen, wenn er von den wissenschaftlichen Gegnern des Regierungsstandpunktes behauptete, „daß es Vielfach Wissenschafter außerhalb ihres Kompetenzbereichs sind,’ die dieses ganze Argument angefangen haben, und daß die Sache fast wie eine organisiert Angelegenheit aussieht? ’. Diese Haltung des Generals mußte sich freilich auf nachdrängende Anfragen hin auf die Position zurückziehen, er wisse nicht und habe nicht die geringste Idee, wer so etwas organisiere;’ es scheine nur so, weil diese Argumentation „auf so vielen Seiten und in so vielen Reden auf- tritt, und so viele Wissenschafter, die keine Genetiker und Physiker sind, darüber reden”.

Auch noch in dieser Rückzugsposition anerkannte der Präsident, daß es sich in der ganzen Angelegenheit, die gegen die bisherige Atomtaktik der Regierung und der Atomic Energy Commission (AEC) gerichtet ist, um eine bereits weit gediehene geistige Bewegung handelt.

Nachdem im Mai die Kundgebung von Albert Schweitzer, dem daraufhin Dr. Willard E. Libby, der Wissenschafter der AEC, in einem offenen Brief antwortete, die Linien abgesteckt hatte, beherrschen nunmehr im Juni während der letzten Wochen, in denen der 85. Kongreß in erster Session tagt, die öffentlichen Einvernahmen eines parlamentarischen Ausschusses das allgemeine Interesse der amerikanischen Oeffent- lichkeit, wodurch auch Eisenhower zu seinen Aeußerungen veranlaßt wurde. Es handelt sich um ein Subkomitee des Joint Committee on Atomic Energy (JCAE), eines Dauerausschusses beider Häuser, das die Wirkungen und Gefahren der radioaktiven Ausschüttungen in der Form der hier üblichen öffentlichen Aussagen aller interessierten Fachleute untersucht.

Die Auffassungen der Wissenschafter sind im Grunde nur in der außerwissenschaftlichen Wertung, nicht aber in der wissenschaftlichen Erfassung des empirischen Tatbestandes geteilt-, es ist das psychologisch-politische Moment, das sie trennt. So drückte Dr. Warren Weaver die Alternative folgendermaßen aus („Journal of the Franklin Instiute”, Juni 1957): „Es hängt alles davon ab, welche Art von Ueberlegung auf uns mehr Eindruck macht. Sind wir hauptsächlich beeindruckt von einer relativen oder absoluten Zahl. Was macht mehr Eindruck, daß 6000 Babies (die in den kommenden Generationen unter 30 Millionen erbdefekten Kindern es auf Grund von Atomstrahlungsmutationen sein werden) immerhin eine große Anzahl von Babies sind, die ein Leben lang unter ernsten Erbdefekten leiden werden, oder daß ein Fünftausendstel ein winziger Bruchteil von jenen 30 Millionen ist, die auch ohne radioaktive Ausschüttung ernste Erbdefekte haben werden?”

Derselben Ueberlegung folgt Prof. Harrison Brown (California Institute of Technology), der in der „Saturday Review” (25. Mai) die Untersuchungen seines Kollegen Prof. E. B. Lewis (vom gleichen Institut) über Radiostrontium und Leukämie heranzieht („Science”, 17. Mai). Lewis, der den Blutkrebs von den verschiedensten statistischen Gesichtspunkten her ins Auge faßt (sein spontanes Vorkommen, darunter auf Grund der natürlichen Radioaktivität, sein Auftreten auf Grund der künstlichen Radioaktivität in Hiroshima und Nagasaki, in Patienten unter Röntgenbestrahlung, in Radiologen), kommt zu Ergebnissen, die Brown wie folgt zusammenfaßt: Leukämie steigt im Falle der Nichtfortsetzung der Atomexperimente aus Gründen der natürlichen radioaktiven Strahlung um 0,1 Prozent, im Falle der Fortsetzung der Atomexperimente im bisherigen Ausmaß um 0,5 Prozent und im Falle ihrer Fortsetzung in einem Ausmaß, wodurch ein Zehntel der für die Gesamtbevölkerung geltenden Radiostrontiumtoleranz erreicht - würde, um fünf bis zehn Prozent. Brown meint, man kann diesen Tatbestand in zweifacher Weise umschreiben. Man kann optimistischerweise sagen: „Diese Wirkung ist so klein, daß sie nicht mit Sicherheit in den Todesstatistiken festgestellt werden kann. Das Risiko ist offenkundig ein viel geringeres als viele andere, die wir als Entgelt für unsere Vergnügungen, unsere Annehmlichkeiten, unseren materiellen Fortschritt auf uns nehmen” (wie Libby es in seinem Brief an Schweitzer formulierte). Man kann aber auch pessimistischerweise sagen: „Die Fortsetzung der Atomexperimente im gegebenen Ąusmafie kann jedes Jahr den Tod von nahezu 10.000 Menschen an Leukämie herbeiführen, die sonst nicht gestorben wären.” Aehnlich wie Weaver fügt Brown bei: „Wenn wir sagen, daß die Leukämie nur um 0,5 Prozent zunimmt, so erscheint die Zahl klein. Wenn wir jedoch sagen, daß jedes Jahr 10.0 Menschen getötet werden, so wird die Zahl plötzlich sehr groß. Wir würden nicht im Traum daran denken, Tausende von Menschen an die Wand zu stellen, um ein neues Maschinengewehr auszuprobieren. Gerade das aber tun die US, die UdSSR und England, wenn sie die phantastischen neuen Waffen ausprobieren.”

Wenn Brown von 10.000 Leukämiefällen im Jahre im Falle der Fortsetzung der Atomexperimente spricht, so sagt Prof. Linaus Paulding (California Institute of Technology), Nobelpreisträger für Chemie, voraus, daß die radioaktiven Ausschüttungen infolge dieser Experimente in den nächsten Generationen 200.0 defekte Kinder ergeben werden („N. Y. T.”, 3. Juni). Paulding ist der (von Eisenhower bezeichnete, dann aber doch nicht namhaft gemachte) Organisator einer von 2000 amerikanischen Wissenschaftern verschiedener Disziplinen Unterzeichneten Petition, welche die Einstellung der Atomexperimente verlangt (ib. 4. Juni).

In dem parlamentarischen Ausschuß des JCAE sprachen sich vier führende amerikanische Biologen einstimmig im gleichen Sinn über die genetischen Gefahren der Atomexperimente aus („N. Y. T.”, 5. Juni): James F. Crow (University of Wisconsin), A. H. Sturt- evant (California Institute of Technology), Hermann J. Muller (University of Indiana), der Nobelpreisträger für Biologie, ein geborener Rheinländer, und H. Bentley Glass (John Hopkins University). Uebereinstimmend hielten alle vier daran fest, daß es für die genetische Wirkung der Radioaktivität keine „sichere Dosis” gebe, so daß gewissermaßen erst nach einer ‘ gefahrlosen „Vorstufe” die negative genetische Wirkung eintreten würde. Crow betonte, es würden mit Sicherheit viele Hunderttausende, vielleicht Millionen von Menschen krank, verkrüppelt oder sonst irgendwie behindert zur Welt kommen infolge der radioaktiven Ausschüttungen, falls man die bisherigen Experimente weiterführe. Nach ihm wird es in den kommenden Generationen zusätzlich 80.000 Fälle von schweren genetischen Abnormalitäten, 300.0 Totgeburten und 700.000 Frühgeburten geben. Diese Zahlen verkörpern zwar, wie Crow sagte, einen winzigen Bruchteil d totalen menschlichen Todes-. Krankheits- und Un- glücksfäJle jener Generationen, doch für ihn (und viele andere Amerikaner) „ist selbst eine einzige unnötige individuelle Tragödie noch zu viel”. Sturtevant meinte, daß die offenen Darstellungen der Genetiker nun auch die AEC veranlassen sollten, eindeutiger ihren Standpunkt darzulegen. Muller beschuldigte die AEC, daß sie die Oeffentlichkeit über die Schadenswirkungen der Radioaktivität getäuscht habe. Glass war der Meinung, daß die Genetiker selbst bisher die Wirkungen der Radioaktivität unterschätzt hätten, weshalb man die bisherigen Toleranzen nach unten hin revidieren müsse.

Gewiß kann man gegen diese Thesen der Biologen und ihre Zahlen einwenden, daß alle ihre Ergebnisse bisher ausschließlich aus Experimenten mit tierischen Generationen stammen, etwa der Fliege Drosophila, an der Muller zuerst seine Thesen von der erbsubstanzschädigenden Natur aller Strahlungen erarbeitet hat. Es mögen alle diese Ergebnisse in ihren Zahlenwerten vor den historischen Erfahrungen, die man nach uns machen wird, nicht standhalten. Vielleicht wird auch in den kommenden Generationen, in denen sich diese genetischen Schädigungen auswirken sollen, eine ganz neue Entdeckung gemacht werden, die wieder aufbeben wird, was heute die herrschende Biologie behauptet. Trotzdem wird man die Communis, opinio der modernen Biologen, daß die künstliche Radioaktivität der Atomexperimente eine gewisse unbekannte Anzahl von Erbdefekten in den kommenden Generationen erzeugen wird, als eine durchaus ernste wissenschaftliche Erkenntnis annehmen müssen, auf der moralische und politische Folgerungen wohl aufgebaut werden können. Durchaus wertvoll ist auch die ethische Haltung jener amerikanischen Wissenschafter, die der Ueberzeugung sind, daß es der Wissenschaft und dem Staate verboten ist, auch nur e i n unschuldiges Menschenleben der Zukunft aus experimentellen Gründen „an die Wand zu stellen”, selbst wenn die Vollstrecker dieses Experiments bona fide der Ueberzeugung sind, daß sie um ihrer eigenen Selhsterhaltung willen ein solches Opfer von noch Ungeborenen verlangen dürfen.

Wenn Libby vor dem JCAE den Standpunkt vertritt („N. Y. T.”, 6. Juni), den er auch in seinem Brief an Schweitzer dargelegt hat, daß die Atomexperimente ein „winziges Risiko” einschließen, „verglichen mit dem Risiko der völligen Vernichtung, die sich ergeben würde, wenn wir die Waffen preisgeben, die für unsere Freiheit und unser tatsächliches Weiterleben so wesentlich sind”, so fällt er bereits (ganz wie Eisenhower) das nicht-wissenschaftliche, sondern soziologisch-politische Urteil, das er selbst den Staatsmännern überlassen möchte, das aber in der Verkleidung eines wissenschaftlichen Urteils die Staatsmänner von ihm als dem Regierungswissenschafter übernehmen. (Wenn überdies Libby im wissenschaftlichen Bereich die künstliche Radioaktivität deT Atomexperimente wieder als einen winzigen Bruchteil der natürlichen Radioaktivität unserer Umwelt bezeichnet, dann vergleicht er eine exakt berechenbare Größe, die künstliche Radioaktivität, mit einer in vielen Dimensionen noch ganz unbekannten Größe, der natürlichen Radioaktivität, ganz abgesehen davon, daß es eine abstrakte Vergleichsbasis für die beiden Kategorien vermutlich ebensowenig gibt wie für parallele naturwissenschaftliche Phänomene wie natürliche und synthetische Vitamine oder organischen und chemischen Stickstoff.)

Daß ein politisches Urteil sich als ein wissenschaftliches ausgibt, um dann von der staatlichen Autorität übernommen zu werden, würde Unehrlichkeit anzeigen, wenn es eine bewußte Eskamotage wäre. Weitaus ungeheuerlicher ist, daß in dem politischen Urteil sich eine kollektivistische Moral verbirgt, die jeder Einzelmensch von irgendwelchen personalen moralischen Begriffen ablehnen würde, falls er sie durchschauen könnte. Denn diese neue Moral des Staates, ob kommunistisch oder kapitalistisch, würde in letzter Konsequenz nichts anderes sagen als: Du darfst die Unschuldigen und Ungeborenen töten, wenn es dein Interesse erfordert, das heißt deine Freiheit, dein Wohlleben, dein Gewinnstreben, deine materielle Existenz, sei es im Krieg (Hiroshima und Nagasaki), sei es in einer historischen Situation, in der ein Teil die (zweifellos nicht unfehlbare) Ueberzeugung hat, daß der andere Teil ihn vernichten will. Um der Erhaltung nüchternster Vorteile willen in einer vielleicht bloß eingebildeten oder überdramatisierten Lage würde der Staat die Unschuldigen und Ungeborenen, die keinen machtvollen Anwalt haben, töten dürfen. Die er tötet, wären eben Opfer, die er für seine Existenz bringen müsse. Damit aber würde der moderne Staat die Moral der alten Heiden aufgreifen, die durch Menschenopfer ihre Götter zu versöhnen hofften. Und keiner der drei Atomstaaten könnte dann anderen allein diese Ideologie vorwerfen. Sie würden, mit winzigen Nuancen der bewußten Erkenntnis, gleich schuldig sein.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung