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Das belgisclie Konigsdrama

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Nun hat auch Belgien seine Wahlschlacht hinter sich. Wie immer man ihren Ausgang einschätzen mag — eine große, unausgesprochene Frage wird nun über kurz oder lang ihre Beantwortung finden müssen. Denn im Hintergrund des Wahlergebnisses steht der große dramatische Konflikt, in dem entschieden werden soll, ob der rechtmäßige König Leopold III. aus dem Exil auf den Thron Belgiens zurückkehrt. Aber auch die Verfassungsfrage stellt nicht das letzte dar, vielmehr werden fast alle Probleme Belgiens in der Geeenwarr von dem Gegensatz zwischen Flamen und Wallonen beherrscht. Die Regierung, selbst König Leopold III. waren ganz in die von starken Spannungen erfüllte Atmosphäre “getaucht. Das alte Belgien hat icnen Gegensatz wohl gekannt, abei nie mit solcher Macht verspürt wie jenes Belgien, das schwer heimgesucht aus dem ersten Weltkrieg hervorgegangen war. Die flämische Bewegung ist in den letzten drei Jahrzehnten eine politische Macht ersten Ranges geworden. Denn sie. darf sich darauf berufen, die weitaus stärkste Volksgruppe in Belgien erfaßt zu haben.

Nach dem ersten Weltkrieg war die belgische Außenpolitik ganz von den schmerzlichen Erlebnissen beherrscht, die der Krieg, der Überfall Deutschlands auf den neutralen Nachbarn zurückgelassen hatte. Dieser Uberfall hatte die völkerrechtliche Stellung, die Belgien seit 1839 gehabt hatte, durchbrochen und so war es den Anhängern eines engen militärischen Und politischen • Zusammengehens mit Frankreich nicht schwer, jenes französisch-belgische Militär-Geheimabkommen zustande zu bringen, mit dem sich Belgien aufs engste der internationalen Politik Frankteichs verband, eine Veränderung der Stellung, die unter den Flamen mit Mißbehagen und Widerspruch aufgenommen wurde. Der Vorwurf „Vasallenpolitik“ hallte damals stürmisch durch Flandern. Je mehr Europa zu normalen Verhältnissen und Deutschland in seine alte Stellung zurückzukehren schien, desto kräftiger machte sich in Belgien und zumal von flämischer Seite das Verlangen nach Wiederherstellung der Neutralität geltend. Man wollte nicht in einen Konflikt zwischen Deutschland und Frankreich verwickelt werden. Nach schweren parlamentarischen Kämpfen wurde in der Tat das französisch-belgische Geheimabkommen gekündigt. Es blieb aber kein Geheimnis daß in Wirklichkeit die militärische Politik Belgiens unter der Führung des GeneralStabes noch weiterhin von den Grundsätzen dieses Abkommens beherrscht blieb und ein Dualismus entstand, nach dem Belgien offiziell neutral war, sich aber durch eine stille militärische Übereinstimmung zu sichern suchte.

Der junge König wählte in diesem Zwiespalt die ihm verfassungsmäßig zugewiesene korrekte Rolle, die ihm die Stellungnahme des Parlamentes zugunsten der Neutralität vorschrieb, aber er konnte es nicht verhindern, daß daraus tiefgehende Meinungsverschiedenheiten zwischen ihrr und dem Generalstab entstanden. Die folgenden Ereignisse haben dem Generalstab rechtgegeben, inso-ferne sich der mißtrauische Zweifel, ob die Neutralität ein genügender Schutz gegen die Aggressionsneigungen des nationalsozialistischen Deutsehland sei, in der Folge als richtig erwies. Als dann zu Beginn des zweiten Weltkrieges Deutschland und Frankreich zusammenstießen. verschärfte sich die Unsicherheit jn Belgien, ob man denn auf dem richtigen Weg ei. Aber immer stand auf der anderen Seite der König, der die Neutralität des Landes durch seine Gesamthaltung zu verteidigen suchte.

Dann kam der Überfall der Hitler-Armeen auf Holland und Belgien, der an jenem schrecklichen 10. Mai 1940 begann. An der Spitze der Armee, die dem eindringenden Feinde tapfer sich entgegenstellte, stand König Leopold als Oberbefehlshaber. Die Übermacht des Angreifers war ungeheuer und setzte sich um so rascher durch, als in der Zusammenarbeit zwischen der schwer bedrängten belgischen Armee und den französischen und englischen Streitkräften nicht alles klappte. Die starken Festungen von Lüttich und Eben Emael fielen in wenigen Tagen und sogar der mit ungeheurem Material- und Kostenaufwand erbaute Panzerabwehrriegel am Albertkanal wurde rasch zerschlagen.

So überwältigend | wie die militärische Katastrophe war die Panik, die Panik unter der Bevölkerung und in den Ämtern. In zahllosen Städten und Dörfern verließen Bürgermeister und staatliche Verwaltungsorgane Hals über Kopf ihre Posten. Es begann jenes grauenerregende Drama, das mit der Flucht der plötzlich und ohne planmäßige Leitung evakuierten Bevölkerung der östlichen Grenzgebiete einsetzte und dessen Elendskarawanen, je weiter sie zogen, wie eine abwärts .stürzende Lawine anschwollen.

Da die deutschen Armeen die Scheide-Linie erreicht hatten, drängten sich jenseits der Scheide in Ost- und W_e s t f 1 a n d e r n mehr als 2lli Millionen Flüchtlinge auf engem Raum zusammen, ohne Unterkunft, ohne Verpflegung, dauernd angegriffen von Stukas und in den Granatbeschuß von vier Armeen geraten. Von Osten her donnerten die deutschen Batterien, die belgische Armee stand im Nordwesten, die französische im Westen und Südwesten und die englische im 'Süden. Die militärischen Operationen waren durch die Anwesenheit dieser Millionen Flüchtlinge schwer gehemmt und der Angreifer nützte die entstandene Verwirrung erbarmungs'o? aus, indem er sie noch zu vemehren suchte. In dieser Lage war es vorauszusehen, daß die vom französischen Oberbefehlshaber unternommenen Gegenstöße wie an einer Gummiwand abprallen würden.

Bei der Annäherung der Deutschen gegen Brüssel verließ die belgische Regierung mit den meisten staatlichen Behörden die Hauptstadt. Ministerpräsident P l e r 1 o t, der Außenminister Paul Henri Spaak und andere Minister gingen nach Frankreich und forderten den König auf, mit seiner Familie gleich ihnen das Land zu verlassen. Der König aber bestand darauf, als Oberbefehlshaber der Armee inmitten seiner Soldaten zu bleiben und ihr Los zu teilen. Auch einige Mitglieder der Regierung blieben im Hauptquartier, unter anderen der bekannte Sozialist R i k de Man. Als auch di( letzte von General Weygand unternommene Gegenoffensive schon in den Anfängen stecken blieb, hingen die belgischen Armeen im Nordwesten des Landes völlig in der Luft. Sie waren hoffnungslos dem Angreifer preisgegeben. I n diesen Untergang wären die Millionen Flüchtlinge mit hineingezogen worden, die sich im Westen stauten.

In dieser verzweifelten Lage und in Übereinstimmung mit seinem militärischen Ratgeber kapitulierte der König und ging mit seinen Soldaten in deutsche Kriegsgefangenschaft. Ein Teil der Regierung und des Parlamentes hatte sich inzwischen in Limoges gesammelt. Dort in Mittelfrankreich war man anderer Auffassung als der König. Nein, er hätte nicht bleiben dürfen, er hätte die Pflicht gehabt, als verfassungsmäßiger Monarch der Aufforderung der Regierung nachzukommen und mit ihr ins Ausland zu geheri. Der König und die bei ihm verbliebenen Minister und Politiker hielten dem entgegen, es sei darüber kein offizieller Regierungsbeschluß gefaßt worden und nur ein Teil der Regierung sei nach Frankreich gegangen, sodaß mangels eines einheitlichen Standpunktes der König in letzter Instanz selbst zu entscheiden gehabt habe. Er sei es seinen Soldaten schuldig gewesen, bei seinem. Volke zu verbleiben, komme, was da komme

Während König Leopold in deutscher Gefangenschaft / saß, nicht imstande, in seiner Unfreiheit an der Debatte über seine Person teilzunehmen, wurde er in Limoges ab des Thrones für verlustig erklärt. (Es fehlte auch nicht an Beschimpfungen. Bei einem feierlichen Akt vor dem Monument König Alberts in Paris zeigte sich das Standbild den Versammelten mit einer Binde über den Augen, damit König Albert „die Schande seines Sohnes nicht sehen könne“. Und dieser bösen Symbolik hatte Ministerpräsident Pierlot assistiert. Nach dem ersten leidenschaftlichen Aufwallen der Kritik an dem Verhalten des Königs mäßigte sich die Gegnerschaft einigermaßen, ohne den schwerwiegenden Akt der Thronentsetzung ungültig zu machen. Pierlot, Spaak und andere politische Führer hatten sich inzwischen nach London durchgeschlagen, stellten dort die freie belgische Regierung auf und organisierten von England aus den Wid erstand gegen, die Überwältiger.

Die Bevölkerung war geteilter Meinung über die Geschehnisse auf der politischen Bühne. Unzweifelhaft hat die große Mehrheit der Bevölkerung damals die Haltung des Königs gutgeheißen. Aber es gab doch auch beißende Kritik gegen den Träger der Krone, der in seinem Palais in L a e k e n bei Brüssel als Kriegsgefangener saß, von den deutschen Besatzungsbehörden verhindert, die seine Ehre antastenden Angriffe ins rechte Licht zu setzen. Damals war es der Kardinal-Erzbischof von Mecheln, Kardinal van Rocy, der ah Primas von Belgien in einem von allen Kanzeln verlesenen Hirtenschreiben den König verteidigte. Wenn man zu jener Zeit durch die Straßen der belgischen Städte ging, konnte man noch überall, in Brüssel, Lüttich, Antwerpen, Gent, in den Auslagen der Geschäfte und in den öffentlichen Lokalen die Bilder des Königs und der verstorbenen Königin Astrid sehen.

Während seiner Gefangenschaft ging König Leopold, dessen sehr glückliches Eheleben durch den Tod seiner Gemahlin Astrid zerstört worden War, 1941 eine Ehe mit der mütterlichen Erzieherin seiner Kinder, Fräulein B a e 1 d e der hochgebildeten Tochter eines ehemaliger flämischen Ministers, ein. Sein bitteres Los in deutscher Gefangenschaft bef leite den König nicht von der neuen Erfahrung, daß selbst sein Privatleben häßlichsten Kommentaren ausgesetzt wurde. Reden von dem „Verrat“ an dem Gedächtnis der verstorbenen Königin Astrid, von dem Widerspruch dieser Ehe zu der Staatsverfassung, selbst häßliche Verdächtigungen der Ehegattin des Königs kamen in Schwang: im Ausland wurde durch Rundfunk drei Monate nach der Eheschließung verbreitet, daß die Geburt eines vorehelichen Kindes in Aussicht stehe. Wieder erhob sich der greise, in schwersten Zeiten durch seine Mannhaftigkeit und seine Vaterlandsliebe bewährte Kardinal-Erzbischof von Mecheln, um den König und seine Gattin in einer feierlichen Kundgebung in Schutz zu nehmen. Er wies darauf hin, daß nach belgischem Verfassungsrecht Belgien keine Königin, sondern nur eine Frau des Königs kenne, sodaß standesmäßige Ebenbürtigkeit nicht in Betracht komme und die Gemahlin des Herrschers nur als seine Frau und nicht aus anderen Rechten für den Staat in Betracht komme.

Zu Beginn 1944 teilte die deutsche Reichsregierung offiziell mit, der König und seine Familie seien zu ihrer persönlichen Sicherheit von ihrer bisherigen Wohnstätte weggebracht worden. Erst nach dem Waffenstillstand erfuhr das belgische Volk, daß die amerikanischen Truppen die königliche Familie in Strobl aufgefunden haben./ Es dürften noch frisch die Verhandlungen in Erinnerung sein, die seitens der belgischen Regierung mit dem König während seines Salzburg Aufenthaltes geführt wurden Der Sozialminister, Präsident van Acker, vertrat in dieser Auseinandersetzung den Standpunkt der bisherigen Mehrheit des Parlaments; es verhinderten die nicht völlig aufgeklärte Hal-( tung des Königs seine Rückkehr und die von ihm erfolgten Anordnungen als Oberbefehlshaber ein Wiederbesteigen des Thrones. In dieser Beurteilung' bestand innerhalb des Kabinetts keine Einigkeit und König Leopold, der sich weigerte, den verlangten Thronverzicht zu vollziehen, fand dabei Verständnis und Zustimmung in einem großen Teil der Bevölkerung, zumal in Flandern. Doch gegen die Stimmen der Minister der katholischen Staatspartei wurde der von der Regierungsmehrheit dem Parlament unterbreitete Antrag, der Rückkehr des Königs nach Belgien ein gesetzliches Verbot entgegenzustellen, angenommen. Wie man sich erinnern wird, nahmen darauf die Minister der Rechten ihre Entlassung.

Ein endgültiger Entscheid soll jedoch erst erfolgen, bis das neue Parlament in die Lage kommt, die definitive, gesetzliche Ordnung des Konfliktes zu vollziehen. Während König Leopold mit seine: Familie in der Schweiz Aufenthalt genommen hat, führte bisher sein Bruder Karl, der militärische Führer der belgischen Widerstandsbewegung, als Prinzregent provisorisch die Geschäfte.

Die Lage, die sich durch die Neuwahlen ergeben hat, ist ähnlich jener, an der 1'932 der österreichische Nationalfat strandete. So wie damals in Österreich einer parlamentarischen Mehrheit von 81 Stimmen eine fast ebenso starke Opposition von 80 Stimmen gegenüberstand, so werden auf Grund des Ergebnisses der Neuwahlen in der belgischen Kammer den 92 Stimmen der siegreichen Christlichsozialen, die vor allem in Flandern starken Stimmenzuwachs erhielten, 91 Stimmen der Linken (68 Sozialisten und 23 Kommunisten) entgegenstehen, zwischen denen etwa die 18 Liberalen nach ihrer schweren Niederlage den Ausschlag geben können. Im Senat liegen die Dinge ähnlich: 51 Christlichsoziale sehen sich dort 46 Stimmen der sozialistischen Linken (35 Sozialisten, 11 Kommunisten) gegenüber, und zwischen ihnen stehen 4 Liberale.

Das Votum des belgischen Volkes, das sich in dem Gewinn von 19 Mandaten der Christlichsozialen ausspricht, lautet zugunsten der Rückberufung des Königs. Gerade der Wahlausgang in Flandern, dem Sitz der königstreuen Bewegung, betont dies. Aber die parlamentarische Kräfteverteilung ist derart, daß sie' eine klare Entscheidung in dieser Streitfrage, die das ganze Land aufwühlt, schwer macht. Verschwinden wird deshalb diese Verfassungsfrage nicht; die um sie sich gruppierenden Konflikte werden jede kömmende Regierung belasten, bis es zu einem eindeutigen Austrag gekommen sein wird.

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