6648240-1958_37_06.jpg
Digital In Arbeit

Das „Bleigewicht“ der Metropole

Werbung
Werbung
Werbung

Als de Gaulle in Paris vor dem „Verfassungs-Konsultativkomitee“ zum ersten Male ausrief, die überseeischen Territorien hätten die Wahl zwischen dem geplanten Bundesstaat oder dem Abfall, so hielt man das für eine bloße „bou-tade“. Daß es sich aber um mehr als einen Temperamentsausbruch handelte, stellte sich anläßlich der afrikanischen Propagandatournee des Generals recht bald heraus. Auf ihr hat er das Angebot, die überseeischen Territorien in die völlige Unabhängigkeit zu entlassen, ausdrücklich wiederholt, und zwar nicht nur einmal, sondern mehrere Male.

Um die verfassungsmäßige Seite der Angelegenheit wollen wir uns nicht kümmern. Es ist Sache der französischen Verfassungsjuristen, darüber zu urteilen, ob ein einzelner Mann — sei er auch Ministerpräsident — einem „integrierenden Bestandteil der Republik“ (das sind die überseeischen Territorien wie Senegal oder die Elfenbeinküste dem Buchstaben nach nun einmal) die Unabhängigkeit in Aussicht stellen kann.

WENN ZWEI DASSELBE TUN...

Nein, uns interessiert vielmehr die psychologische Seite der Angelegenheit. Wir erinnern uns nämlich, daß ein Mendes-France oder ein Mitterand schon ein Indianergeheul über die „verräterischen Linksintellektuellen“ entfachten, wenn sie nur das Wort „Föderalismus“ oder, noch schlimmer, „innere Autonomie“ in den Mund nahmen. Ein Wort wie „Unabhängigkeit“ vollends, auf die afrikanischen Territorien angewendet, hätten sie nicht einmal im Flüsterton aussprechen dürfen — sie hätten damit sofort die „nationale Einheit“ in der Entrüstung, und zwar von den Sozialisten bis zu den Poujadisten, gegen sich auf die Beine gebracht. De Gaulle hingegen äußerte fast in jeder afrikanischen Stadt, in die er einzog, daß die Unabhängigkeit gleich am Schalter zu haben sei. Und, o Wunder — niemand in Frankreich scheint sich darüber aufzuregen, selbst die professionellen Hüter des „patrimoine national“ sind damit einverstanden. Was soll das heißen?

Hat de Gaulle so sprechen können, weil sich in den vergangenen eineinhalb Jahren ein entscheidender Klimawechsel vollzogen hat?

„DAS GELD VERRÄT DAS EMPIRE!“ Wir haben schon des öfteren angedeutet, daß das starre Festhalten an den überseeischen Positionen im wesentlichen ein Anliegen des kleinbürgerlichen Nationalismus ist, wie er von Politikern in der Art von Guy Molle t, Lacoste oder Soustelle verkörpert wird. Die vielen Symptome sind nicht zu übersehen, daß der überwiegende Teil der Unternehmerschaft gegenüber den Kolonialpositionen — nun sagen wir: „skeptisch geworden ist“. Natürlich hat das noch kein Repräsentant des Patronats offen zugestanden, denn niemand will als Zielscheibe jenes kleinbürgerlichen Nationalismus dienen.

So ist es denn auch, als nach einem Jahr Regierung Mollet das führende Wochenblatt des Pa-tronats einging, gleich behauptet worden, daß das kaum an einem finanziellen Mißerfolg des Unternehmens liegen könne. Ursache für die Selbstversenkung des Blattes sei vielmehr, daß die hinter dem Blatt stehenden Gruppen es für politisch unsinnig hielten, weiter in Kolonialismus zu machen, die Verfechtung der gegenteiligen Linie jedoch bequemerweise den „politischen Selbstmördern“ um Mendes-France und Mitterand überlassen wollten.

Als dann Raymond A r o n, Leitartikler des großbürgerlichen „Figaro“, doch so unvorsichtig war, in seinem Buch „La T r a g i d i e algerienne“ (Plön, Paris 1957) die Katze ein wenig aus dem Sack zu lassen, brach sofort ein Gebrüll los: „Das Geld verrät Algerien!“ So blieb es denn auch weiterhin bei vorsichtigem Gemurmel hinter den Kulissen. Doch wenn eineinhalb Jahre lang gemurmelt wird, so ist zuletzt das Geheimnis eben doch jedermann bekannt. Und so pfeifen es denn also längst alle Pariser Spatzen von ihren Dächern, daß der gewohnte, humanitär argumentierende Antikolo-nialismus der Linken längst eine Konkurrenz erhalten hat, die über schlagendere Argumente verfügt.

DER „METROPOLISMUS“

Man hat für diesen neuen Antikolonialismus bisher drei verschiedene Namen vorgeschlagen. Den eines „Antikolonialismus der Rechten“ möchten wir lieber nicht verwenden, weil darin die Vereinfachung steckt, als ob das Patronat eindeutig politisch rechts lokalisiert wäre. Auf den zweiten Namen, den eines „Cartierismu s“, möchten wir aus Bescheidenheit verzichten, weil er vom Namen eines (allerdings berühmten) Kollegen von uns abgeleitet ist: von dem des Starjournalisten Raymond Ca r t i e r vom „Paris-Match“, der schon im August 1956 (also noch vor Raymond Aron) in einer aufregenden Artikelserie über das französische „Schwarze Afrika“ die gleiche Katze wie Aron aus dem Sacke ließ, bloß vorsichtigerweise dabei nicht von Algerien sprach. Greifen wir also zum dritten der vorgeschlagenen Namen: dem „M e tr o p o 1 i sm u s“.

Die „Metropole“ — das ist bekanntlich das Frankreich im eigentlichen Sinne, das „Sechseck“ zwischen Rhein, Atlantik und Mittelmeer. Und die Verfechter des „Metropolismus“ meinen, daß diese Metropole durch die Kolonialgebiete an ihrem wirtschaftlichen und technischen Aufschwung gehindert werde. Die überseeischen Besitzungen Frankreichs seien ein Bleigewicht, das Marianne am Gehen hindere; sie seien ein Verlustgeschäft, und die Kapitalien und das Maß an technischer Kraft, die man in sie stecke, würde man gescheiter in den „unterentwickelten Departements“ des Mutterlandes investieren.

Die Argumentation ist nicht durchweg die der Rentabilitätsrechnung. Manche Vertreter dieses neuen „Antikolonialismus“ wären durchaus bereit, weiter in Afrika moderne Spitäler zu bauen, die im Mutterland bitter fehlen, wenn man dafür wenigstens Dank ernten würde. Aufschlußreich war in diesen Tagen ein im „Monde“ veröffentlichter Leserbrief des französischen Direktors des größten Wochenblattes des „Schwarzen Afrikas“ mit mehrheitlich schwarzen Lesern: „Ich habe gegen die kolonialistische Verwaltung gekämpft, als sie noch allmächtig war... Ich war drei Monate lang eingesperrt, weil ich einen europäischen Polizeikommissär in Dakar kritisiert hatte, der in seinem Kommissariat einen Afrikaner brutalisierte... Aber die Ereignisse eilen schnell in Afrika. Diese Afrikaner, die ich einst so verteidigt hatte, daß ich es mit der Mehrheit der europäischen Bevölkerung verdarb, suchen nun seit der Promulgation des Rahmengesetzes eine Revanche, die ungerecht ist gegen jene .Koloniale', die Afrika leidenschaftlich lieben. Man muß in Dakar leben, um das zu begreifen. Es braucht viel Geduld, um das Treiben jener jungen Leute zu ertragen, für die der Weiße ein verachtenswertes Wesen geworden ist... Frankreich ist das Objekt einer permanenten Erpressung. Man droht uns in den Versammlungen offen mit dem gleichen Schicksal wie dem unserer weißen Brüder in Marokko, Tunesien und Algerien... Vor unserer Nase bereitet man den Abfall vor. Nun, wenn Afrika die Unabhängigkeit wählt, so soll es auch die Verantwortung übernehmen. Wir sollten auf jeden Fall unser Geld behalten . .. Ich sehe nicht ein, weshalb wir Milliarden in diese Territorien pumpen sollten, wenn wir dafür doch nur Haß ernten...“

EINIGE ZAHLEN

Diese Reaktion „Macht euren Dreck alleine!“ ist natürlich für die in Frankreich sitzenden Anhänger dieses neuen Antikolonialismus nicht das Entscheidende. Sie halten sich einfach an die Zahlen. Und was man da vor die Augen bekommt, stimmt recht nachdenklich. Aus einer Studie, die der Afrikaredakteur des „Monde“, Andre Blanchet, vor einigen Tagen in seinem Blatt veröffentlicht hat, möchten wir eine kleine Kostprobe geben. Blanchet schreibt:

„Wenn man mit kritischem Blick die Bilanz des Wirtschaftsaustausches zwischen Frankreich und seinen afrikanischen Territorien zieht, so ist leicht zu zeigen, daß die Absatzmärkte, die diese Territorien für unsere nationale Produktion bilden, nur dank der direkten oder indirekten Subventionen des Steuerzahlers oder Konsumenten der Metropole bestehen. Wie bescheiden die Proportionen dieses Marktes sind, läßt sich beispielsweise an den Verkaufsziffern der Automobilindustrie pro 1957 zeigen: 167.000 Wagen gingen ins Ausland und nur 51.000 in die Franc-Zone. Ein Territorium, wie das des Niger, importierte im Jahre 1956 für seine zweieinhalb Millionen Einwohner nur 90 Personenwagen und 176 Lastwagen oder Camionettes, während das ganze Französisch-Aequatorialafrika nicht einmal eine ganze Tagesproduktion unserer Automobilindustrie absorbierte. Im Jahre 1957 machten übrigens die Ankäufe des gleichen Aequato-rialafrikas ganze 0,80 Prozent des französischen Exportes aus.“

Wie wenig ein Riesengebiet wie Französisch-Westafrika für die französische Schwerindustrie einen seriösen Kunden abgibt, macht Blanchet mit folgendem Zitat aus einem Rechenschaftsbericht dieser Industrie deutlich: „Westafrika hat 1957 für 940 Millionen Franken Tomatenkonserven eingeführt — das ist dreimal soviel wie für Werkzeugmaschinen (320 Millionen).“ Und er fährt fort, daß beispielsweise Brasilien ein weit interessanterer Kunde ist, der seine Maschinenkäufe in Frankreich noch steigern würde, wenn dieses mehr Kaffee abnähme. Aber Frankreich muß seinen afrikanischen Territorien einen Kaffee abkaufen, dessen Qualität oft unter dem Preis, aber immer über dem des brasilianischen Kaffees liegt...

Von hier aus begreift man, weshalb es einem Teil der Negerpolitiker bei de Gaulies Angebot der Unabhängigkeit doch etwas ungemütlich wurde. Der General hatte ja auch keinen Zweifel daran gelassen, daß die Subventionierung von seiten Frankreichs bei der „Entlassung in die Freiheit“ natürlich aufhören würde. Die volksrepublikanische Senatorin Thome - Paternotre scheint einer rapide in der französischen Politik sich verbreitenden Stimmung Ausdruck gegeben zu haben, als sie kürzlich ausrief: „Ich schäume vor Wut bei dem Gedanken, daß das französische Budget für die Wasserzuführung in unseren Landgegenden nur 15 Milliarden französische Franken zur Verfügung stellen kann, während wir generös andere Milliarden an Territorien verteilen, aus denen man recht bald unseren Abzug verlangen wird, wenn man einmal das Maximum aus uns herausgepreßt hat!“

Ob es politisch klug ist, sich solchen leidenschaftlichen Ueherlegungen hinzugeben? Gibt es nicht auch noch strategische Ueberlegungen? Und könnte nicht vielleicht eine andere Macht — oder ein gewandeltes Frankreich — aus jenen afrikanischen Territorien mehr herausholen? Nun, auf kurze Frist hat der neue französische Antikolonialismus auf jeden Fall die französische Position gegenüber den Emanzipationswünschen der Neger gestärkt. Die Aussicht auf den Abzug der Franzosen ist eben unter anderem auch eine Drohung — auch wenn die Ersatzmacht oder -mächte vielleicht schon bereitstehen ...

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung