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Das „Ende” vor 1000 Jahren

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Die Jahrtausendwende war schon einmal eine Zeit, in der man mit dem Ende und dem Anbrechen des Friedensreiches Christi rechnete. (Millenarismus)

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Die Jahrtausendwende war schon einmal eine Zeit, in der man mit dem Ende und dem Anbrechen des Friedensreiches Christi rechnete. (Millenarismus)

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DIKFURCHK: Waren Endzeiterwartungen um die erste Jahrtausendwende weit verbreitet

Herwig Wolfram: Die Endzeiterwartung war schon unter den Jüngern Christi verbreitet, wird doch im Neuen Testament immer wieder die Warnung ausgesprochen: Euch steht es nicht zu, den Tag und die Stunde zu wissen. Aber gleichzeitig Zeit wird stets wiederholt: Wachet! Die Endzeiterwartung ist also in der jungen Kirche sehr intensiv, sodaß man sich damals gar nicht vorstellen kann, wirklich 1.000 Jahre zu erleben. Später beginnt aber die Strukturierung der Zeit. Die Antike und auch die christliche Spätantike waren ja davon überzeugt, daß man die Zeit nur an den Taten der Menschen feststellen kann. Dann versuchte man aber, die Vergangenheit und auch die Zukunft zu strukturieren. Da gab es zunächst die sechs Zeitalter, eingeteilt nach den menschlichen Lebensabschnitten von der Kindheit bis zum Greisenalter. Man schloß vom Mikro- auf den Makrokosmos. Dann gab es die Vorstellung von den vier Reichen ...

DIKFURCHK: Aus der Prophezeiung im Buch Daniel des Alten Testaments? wolfram: Ja. Die vier Reichen, die vier Tiere, die vier Metalle: zuletzt der Koloß mit den tönernen Füßen, der zerschlagen wird von dem Stein, der vom Hügel rollt, Christus. Oder die Vorstellung von drei Bei-chen: Vor dem Gesetz, unter dem Gesetz, nach dem Gesetz beziehungsweise das Beich des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Den Anbruch eines Dritten Beiches erwartete insbesondere der Zisterzienserabt Joachim von Fiore, der an der Wende vom zwölften zum 13. Jahrhundert gelebt hat. Er ist geprägt von den Erfahrungen des zwölften Jahrhunderts, dem erneuten Zusammenstoß von Papst-und Kaisertum unter den Staufern und dem Versagen der Kirche. Er erwartete ein Reich des Geistes, das durch die Mönche verwirklicht werden würde.

DIKFURCHK Hat das Jahr 1000 an sich eine besondere Sorge ausgelöst* Wolfram: Da tauchte zweifellos eine Endzeiterwartung auf. Zumindest einige Zeitgenossen sind im Innersten aufgewühlt. Es besteht vielerorts die i Gewißheit, daß das Ende „bald” und „plötzlich”, wenn auch unberechenbar hereinbricht. Das tägliche Leben geht jedoch weiter und überlagert die Angst. Besorgte Prediger erneuern sie dann. Dabei ist ein Paradoxon zu beobachten: Die Endzeiterwartungen tauchen dort in Europa auf, wo es den Menschen gut geht, wo Bevölkerung und Produktion zunehmen und Frieden herrscht.

DIKFURCHK Wo war dies der Fall? WOLFRAM: In Italien und frühzeitig in Lothringen, im Norden wie im Süden Frankreichs, in Nordspanien, in Mittelengland, ja sogar in Teilen des Ottonischen Reichs, selbst in Sachsen werden Menschen von der Untergangsangst ergriffen. Dort hingegen, wo die Menschen von den Plagen der Alltagsbewältigung heimgesucht sind (etwa im bayrischen Raum) ist lange Zeit nichts von Endzeitstimmung anzutreffen. Erst um 1065 taucht auch hier eine Spekulation auf, die auf der mathematischen Rerechnung des Weltunterganges aufbaut. Wenn Ostern mit dem errechneten Auferstehungstag, dem 27. März, zusammenfällt, dann gehe die Welt unter, wurde behauptet. 1065 zog daher unter der Führung von Gunter von Bamberg eine große Zahl von Bayern ins Heilige Land, um dort das Ende der Welt zu erleben. Berichtet wird dar-über um 1140 in der „Vita Altma-ni”, der Geschichte eines Passauer Bischofs. • Darin wird de Vorgang abgewertet, weil das Ende nicht eingetreten war. Das Volk habe dieses Geschehen ausgelöst. Bleibt ein errechneter Endzeittermin aus, bereitet die Rechtfertigung ja immer Probleme.

DIkFdrche: Aber ist es nicht erstaunlich, daß diese Endzeiterwartungen noch einige Jahrhunderte nach der Jahrtausendwende anzutreffen sind? WOLFRAM: Da ist ein zweites Paradoxon zu beobachten: Man läßt die Welt untergehen, wenn es einem zu gut geht. Ahnliches beobachten wir ja auch heute: in der Esoterik und den End-zeiterwartungen verschiedener Sekten. Offensichtlich bewirkt der Anspruch auf Selbstverwirklichung und Selbsterlösung auch die Vorstellung, man könne das Ende der Welt erfassen. Beides scheint auf demselben Baum zu wachsen. Offensichtlich reicht ein halbes Jahrhundert Frieden dafür ...

DIKFURCHK Gab es nach der Jahrtausendwende so lange Frieden? WOLFRAM: Ja. Ungefähr ein halbes Jahrhundert. Das Längenwachstum nahm in der zweiten Hälfte des zehnten Jahrhunderts enorm zu. Die Leute sind damals riesig geworden, bis zu zwei Metern. Offensichtlich war das Lebensmittelangebot sehr gut.

DIKFURCHK Und das zweite Paradoxon?

WOLFRAM: Gerade dort, wo die Rationalität wiederei it deckt wird, eine erneuerte Vernunf' i iltur ihre erste Entfaltung erfährt, iii Frankreich, in Lothringen, tritt auch die größte Angst vor dem Ende der Welt auf. DIEFURCHK Spielt in diese Weltuntergangsvorstellungen auch eine soziale Komponente hinein? WOLF'ram: Erst später, in der Krise des Spätmittelalters durch die überhandnehmende Armut. Im elften Jahrhundert aber machen die Menschen die Erfahrung: Der erwartete Untergang findet nicht statt. Außerdem ist diese Periode von einer ausgeprägten Freiheitsbewegung gekennzeichnet: Freiheit der Kirche, der Städte, die Mini-sterialenbewegung (ökonomische Freizügigkeit ehemaliger Unterschichten), die verbesserte Lage der Bauern ...

DIKFURCHK Was hat das mit Endzeiterwartungen zu tun? WoifRAM: Wenn die vom Freiheitsdrang bedingten ' rwartungen nicht erfüllten, „Gren, des Wachstums” sichtbar werden (Walther von der Vogelweide zeigt diese im 13. Jahrhundert ganz deutlich), dann sucht man nach anderen Antworten. Und eine dieser Antworten ist der Dualismus, das Nebeneinander von zwei gleichwertigen göttlichen Prinzipien: Gut und Böse.

DIKFURCHK Warum rechnet der Dualismus mit dem Ende? WOLF'ram: Im Dualismus gibt es die Reinen. Und sie siegen, sind vollkommen geistig druchdrungen, bereit für das Ende. Und sie wollen dieses Ende herbeiführen, weil sie die Vollendung erreicht haben. In seinem Ruch „Pur-suit of Millennium” weist Norman Cohn auf dieses soziale Element hin. Seit 1917 wiederholt sich ein sozialpsychologischer Prozeß, der schon im Mittelalter und an der Wende vom Mittelalter zur n izeit die desorientierten und verzv, elten Ärmsten der Armen erfaßte.

Diese Verbindung beruht auf der Vorstellung von einem endgültigen Vernichtungskampf gegen „die da oben” sowie von einer vollkommenen Welt, aus der der Egoismus für immer verbannt sein wird. Die alten religiösen Ausdrucksformen wurden durch weltliche ersetzt und ihrer ursprünglichen übernatürlichen Legitimation entkjeidet. Sie leben im revolu-, tionären Millenarismus und mystischen Anarchismus bis heute fort.

Das Gespräch mit dem Vorstand des Instituts für Geschichtsforschung der Universität Wien führte ChristofGaspari.

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