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Das Experiment des englischen Sozialismus

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Das Experiment der umwälzenden Sozialreform, da's als englischer Sozialismus bezeichnet wird, scheint wirtschaftlich endgültig über dem Berg zu sein. Noch vor einem halben Jahr wurde in der ernsten englischen Presse, auch soweit si dem Experiment selbst freundlich gegenüberstand, die Möglichkeit des Staatsbankerotts in der Form einer weitreichenden Abwertung des Pfundes erörtert. Diese hätte England wahrscheinlich den noch verbliebenen Teil seiner früheren Stellung als Finanzzentrum des Welthandels gekostet und damit seine Wirtschaft ungeheuer geschwächt. Die Gefahr ging von dem Inflationsdruck der Kaufkraftexpansion aus, die mit der bedeutenden allgemeinen Lohnerhöhung verbunden war. In Verbindung damit stand die expansionistische Geld- und Kreditpolitik des damaligen Finanzministers, begründet auf eine, wie heute allgemein zu- gegeben ist, verfehlte Auslegung der Theorie von Lord Keynes. Der gegenwärtige Finanzminister warf das Ruder herum und versuchte durch eine Dividenden- und Lohnstillhaltepolitik dem Inflationsdruck zu steuern. Praktisch bedeutet der Infla- tionsdruck, daß das englisrbe Volk dauernd über seine Verhältnisse lebt: es kann durch seine Ausfuhr nicht bezahlen, was es zur Aufrechterhaltung des gewohnten Lebensstandards einführen muß. Das darin begründete hohe Defizit seiner Handelsbilanz beschwor eben das Gespenst des Staatsbank erotts herauf. Was den englischen Sozialismus gerettet hat, ist der Marshall- Plan, also das von den Sozialisten als Hochburg des Kapitalismus gebrandmarkte Nordamerika.

Die Form des Kapitalismus und die Rückständigkeit der Sozialgesetzgebung hatten in gleicher Weise die Notwendigkeit einer kraftvollen, ja umstürzenden Sozialreform in England längst offensichtlich gemacht. Daß eine solche Reform ohne jegliche Erschütterung der demokratischen Einrichtungen des Landes vor sich gehen konnte, ist eines der bedeutendsten Zeugnisse für ihre Leistungsfähigkeit. Daß andererseits die sozialistisch Labour Party, ganz anders als nach dem Weltkrieg 1914 bis 1918, mit Zielsicherheit und Entschlossenheit trotz den wirtschaftlichen Schwierigkeiten und Risken die Reform durchführte und zum Gelingen bringen konnte, wird ihr geschichtliches Verdienst bleiben. Noch sind nicht alle Gefahren gebannt, ja, das Experiment scheint erst in sein entscheidendes Stadium zu treten.

Für den an Volkswirtschaft und Sozialreform Interessierten ab es seit Kriegsende kaum etwas Spannenderes als dieses Experiment des englischen Sozialismus. Und gerade auch wer überzeugt ist, daß der Sozialismus weder wirtschaftlich noch sozial die Lösung des ihm zugrunde liegenden Problems der modernen Gesellschaft ist, konnte nur mit innerer Anteilnahme die Entwicklung des Experiments verfolgen. Die Schwierigkeiten, unter denen das Experiment unternommen wurde, waren gan enorme: man denke nur an die Zerrüttung der englischen Wirtschaft durch den Krieg, an den Verlust eines ganz großen Teiles der ausländischen Vermögenswerte, an di Rückwirkungen der weltwirtschaftlichen Desorganisation, auf die ganz vom Welthandel abhängige englische Wirtschaft, an die Auslandsverschuldung infolge des Krieges (an Indien allein schuldet England ein Milliarde Pfund) und dazu an die Rückständigkeit des Landes in einem großen Teil der neuen Produktionsmethoden. Die Opfer, die die Regierung dem Volke zumuten mußte (austerity — Entbehrungsprogramme), waren sehr schwere, zumal während des Krieges eine rasch eintretende Zeit der Güterfülle versprochen worden war. Nicht au vergessen ist die oft sehr billige und unkonstruktive, oft geradezu kindische Kritik der Führung der konservativen Opposition, die nicht nur mit ihrer industriellen Wähler- chaft aus den erwähnten Gründen teilweise an den gegenwärtigen Schwierigkeiten und Rückständigkeiten der englischen Volkswirtschaft schuld ist, sondern die aiuch, falls sie ihre sozialreformerischen Versprechungen während des Krieges ernst nahm, in der Übergangszeit von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft im wesentlichen gar nichts anderes hätte tun können, als die Labourregierung mit ihrer Wirtschaftspolitik und ihren Wirtschaftskontrollen getan hat.

Was sind die wesentlichen Erfolg des Sozialismus in England? Ein volkswirtschaftlich ganz weittragender Erfolg besteht in der Herbeiführung der Möglichkeit eines politisch und sozial fast störungsfreien Wiederaufbaues der englischen Wirtschaft. Wenn England sich in seiner wirtschaftlichen Erholung nicht immer wieder, wie etwa Frankreich, durch ausgedehnte und dauernde Streiks und politische Quertreibereien in der Arbeiterschaft zurückgeworfen sieht, so ist das ganz wesentlich ein Erfolg des Sozialismus: da die Labour Party an der Regierung war, sah sich die Arbeiterschaft zur positiven Mitarbeit an „ihrem“ sozialistischen Experiment genötigt. Dazu kommt außenpolitisch, daß die Umorientierung Englands angesichts der neuen politischen Dynamik in Europa nach Kriegsschluß der sozialistischen Regierung ungleich leichter möglich war als etwa einer konservativen. Der für die Arbeiterschaft unmittelbarste und wichtigste Erfolg des englischen Sozialismus ist aber eine weitgehende Umschichtung der Einkommensverteilung. Das durchschnittliche Geldeinkommen des Arbeiters hat sich mindestens verdoppelt, während die höheren Einkommen außerordentlich stark durch eine progressive Einkommensteuer belastet sind. Trotz dem Rückgang der Kaufkraft des englischen Pfundes bedeutet die Lohnerhöhung doch ein wesentliche Reallohnsteigerung, zumal die Preise der wichtigsten Nahrungsmittel durch ungeheure Subsidien (im Gesamtbetrag von 500 Millionen Pfund im Jahr) niedrig gehalten werden; außerdem hat England eine der fortgeschrittensten Sozialversicherungen geschaffen, die sich gleichfalls als Einkommenssteigerung für den Arbeiter auswirkt.

Was somit der englische Sozialismus in Wirklichkeit geschaffen hat, ist der — soziale Wohlfahrtsstaat. Der soziale Wohlfahrtsstaat ist es tatsächlich auch, der der sozialistischen Bewegung in England im allgemeinen vorgeschwebt hat und noch vorschwebt. Gewiß gibt es auch eine Gruppe in der Labour Party und in den Gewerkschaften, die an einen Vollsozialismus im Sinne der marxistischen Doktrin denkt. Im ganzen ist der praktische Sozialismus in England, was ja genug bekannt ist, etwas anderes als der marxistische Sozialismus. Diesen Unterschied hat jedoch das gegenwärtige Experiment der Sozialreform in England unter Beweis gestellt. Es ist bekannt, daß den englischen Arbeitern in allen ihren Schichten das Bewußtsein, „Proletarier“ zu sein, fehlt; außer in engen, intellektuellen Kreisen tritt die Idee des Proletarismus kaum hervor. Der englische Arbeiter ist überhaupt nicht ideologisch eingestellt, sondern empirisch; er will eine gesicherte und auskömmliche Existenz und kümmert sich wenig um ideologische Begriffsschemen. Daher fühlt sich die Arbeiterschaft auch bei Wahlen nicht ideologisch gebunden. Ganz große Massen sehen vor allem auf die von einem Regierungswechsel wahrscheinlich zu erwartenden, unmittelbar greifbaren Folgen im Sinne einer gesicherten progressiven Einkommensgestaltung und lassen sich nicht von „Par teidogmen" leiten, die eben nicht vorhanden sind; daher die Hoffnungen und Befürchtungen angesichts der nicht sehr fernen Wahlen.

Di ganze Art des englischen Sozialismus ist aber vor allem dadurch gekennzeichnet, daß er .bisher nach keiner Richtung wesentlich über das hinausgegangen ist, was zum Beispiel in Österreich schon in der Zeit vor dem letzten Kriege praktisch und prinzipiell auf Grund der christlichen Sozialideen erreicht und noch weiter angestrebt wurde. Das gilt vor allem von der österreichischen Sozialpolitik. England hat erst nach diesem Kriege aufgeholt, was in Österreich und Deutschland in der Sozialgesetzgebung schon ein und zwei Generationen früher geschaffen wurde. Gewiß ist dabei auch Neues geschaffen worden, wie die Kinderzulagen, freier Ärztedienst, Alterspension, Begräbniskostenbeitrag. Man darf dabei aber nicht übersehen, wie weit das durch die besonderen englischen Verhältnisse bedingt ist, zum Beispiel die mangelhafte Entwicklung des englischen Gesundheitsdienstes bis in die jüngste Zeit, was eben heute eine weitergehende staatliche Initiative zu überwinden sucht.

und Ungarn. „Die österreichische Unabhängigkeit war ein Zentralpunkt der italienischen Interessen.“ Als Hitler Italien 1936 in Spanien die Vorhand gab, hoffte er, dafür freie Hand im Donauraum zu bekommen. Italien aber wollte sich nicht so schnell vor den deutschen Karren spannen lassen. Noch als Eden im Februar 1938 zurücktrat, ließ Ciano durch den italienischen Botschafter in London, Grandi, Chamberlain unterstützen. Ciano drängte im letzten Monat der österreichischen Unabhängigkeit ständig in London auf eine enger Verbindung England-Italien und forderte dringend Verhandlungen, um eine Annäherung der beiden Mächte herbeizuführen, wobei er wiederholt warnte: „Wenn die Nazis in Österreich einmarschieren und uns vor vollzogene Tatsachen stellen, dann bleibt uns nichts anders übrig, als mit ihnen zu gehen.“ Dieses Drängen Cianos wunde von Eden und Lord Cranborne völlig mißverstanden: diese glaubten an ein Täuschungsmanöver Cianos, da sie eine eng Zusammenarbeit Hitler-Mussolini bereits für ausgemacht hielten. Beim Anschluß notiert dann Ciano: „Hannibal vor den Toren — die gesamten deutsch-italienischen Beziehungen müßten nun überprüft werden ...“ — Mehr als einmal hält Ciano in seinen Aufzeichnungen

Schließlich ist der englische Sozialismus auch bei der „Nationalisierung“ nicht wesentlich über den Umfang hinausgegangen, in dem sich zum Beispiel auch in Österreich Wirtschaftsunternehmungen in der öffentlichen Hand (Staat oder Gemeinde) befinden. Sozialisiert sind die Kohlengruben, die Eisenbahnen, ein Teil des Straßentransports, die Elektrizitätsversorgung. Wenn man jetzt an die Verstaatlichung der Stahlindustrie denkt (wogegen sich übrigens gewichtige Stimmen auch in der Arbeiterschaft wenden), so kann man darauf hinweisen, daß in Österreich schon lange das staatliche Tabak- und Salzmonopol besteht. Daß in schwierigen Übergangszeiten, wie in der Nachkriegszeit, nur durch eine weitgehende staatliche Einflußnahme auf die Wirtschaft die notwendigen Umstellungen und Anpassungen erreicht werden können, hat an sich nichts mit Sozialismus zu tun, so sehr man heute gerne als „sozialistische Planwirtschaft“ bezeichnet, was man sonst „staatliche Wirtschaftspolitik“ nannte. Übrigens sieht die Planwirtschaft des englischen Sozialismus sich schon zu einer fortschreitenden Lockerung der bestehenden staatlichen Kontrol len genötigt. Denn mit dem ständigen Inflationsdruck, der wadisenden Konkurrenz auf den Weltmärkten und dem Fehlbetrag in seiner Handelsbilanz, sieht sich heute der englische Sozialismus mehr und mehr vor dem Problem, das für jeden Sozialismus und für jede Planwirtschaft entscheidend ist: vor dem Problem der ProdukJ t i v i t ä t. Damit tritt allerdings das englische Experiment auch in das Stadium der Enscheidung hinsichtlich seines endgültigen Charakters: ob es eine weit vorgetriebene Sozialreform bleibt oder zu einem wirklichen Experiment eines doktrinären Sozialismus wird. Von der weiteren Entwicklung, die es im Sinne einer Anspannung oder Lockerung der zentralistischen Kontrollen nehmen wird, hängt freilich weit mehr ab als das wirtschaftliche und soziale Schicksal Englands, nämlich das Ausmaß seiner konstruktiven Mitarbeit am wirtschaftlichen und politischen Wiederaufbau Europas. Wenn sich England heute nicht so frei in dieser Richtung fühlt, als man auf dem Kontinent wünschen möchte, so ist das nicht zuletzt in den mit dem „sozialistischen“ Expęriment gegebenen und sich ankündigenden Schwierigkeiten begründet.

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