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Das Faszinierende an Jesus

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Bereits am Weihnachtsabend 1994 hat die Londoner Times seine Forschungsergebnisse auf Seite eins als Sensation gemeldet, seit Wochen und Monaten berichten Magazine wie Spiegel, Focus, News oder das Time Magazine über ihn, Fernsehanstalten stellen sich bei ihm an: Carsten Peter Thiede, Papyrologe und Leiter des Instituts für wissenschaftstheoretische Grundlagenforschung in Paderborn, meint, einen „Jesus-Papyrus" entdeckt zu haben. Seine These ist zweifellos faszinierend: Auf einem Papyrus, bestehend aus drei Fragmenten (keines größer als eine Briefmarke), sind Texte aus dem Matthäusevangelium zu lesen -das war in Fachkreisen längst bekannt; sensationell aber ist Thiedes Datierung der Stücke: kamen bisher mehrere Papyrologen unabhängig voneinander zu dem Ergebnis, der Papyrus sei um 200 n. Chr. geschrieben worden, so datiert ihn Thiede in die Zeit um 66 n. Chr. Der Papyrus, der heute im Magdalen College in Oxford aufbewahrt wird, stammt aus Ägypten. Falls Thiede recht hat, müßte man fortan annehmen, das Matthäusevangelium sei be-reits um die Mitte des ersten Jahrhunderts in Ägypten bekannt gewesen, die Entstehung dieser neute-stamentlichen Schrift müßte man somit bedeutend früher ansetzen, als dies kritische Exe-geten gemeinhin tun.

Thiede behauptet, aufgrund seiner Forschungen nachweisen zu können, daß das Matthäusevangelium - wie auch Markus- und Lukasevangelium - von einem echten Augenzeugen Jesu stamme. Der griechisch geschriebene Papyrus könnte bereits „von Männern und Frauen gelesen worden sein, die mit Jesus durch Galiläa gewandert waren", schreibt Thiede an einer Stelle seines Buches, das den Titel „Der Jesus-Papyrus" trägt und das er gemeinsam mit Matthew d'Ancona verfaßt hat. Und: „Er hätte gut von einem Augenzeugen der Kreuzigung in Händen gehalten und gelesen werden können."

Zunächst einmal ist anzuerkennen: Thiede hat offensichtlich ein Gespür für aufsehenerregende Themen, er hat aber auch die Gabe, seine Themen so zu präsentieren, daß sie von einer breiten Öffentlichkeit wahrgenommen und gelesen werden. Das sind Fähigkeiten, die einem großen Teil der Wissenschafter fehlen.

Weiters ist festzuhalten: Thiedes „Jesus-Papyrus" ist in eine Welle von Büchern einzuordnen, die sich mit der Person Jesus von Nazareth beschäftigen und die sich überraschend gut verkaufen. Ausgelöst wurde dieser Boom vor einigen Jahren durch die „Verschlußsache Jesus" der beiden amerikanischen Journalisten Mi-cheael Baigent und Bichard Leigh, die in einigen Schriftrollen aus Qumran authentisch Christliches zu entdecken glaubten und zudem dem Vatikan vorwarfen, solche Erkenntnisse bewußt der (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit vorzuenthalten.

Ohne Zweifel: mit entsprechendem Geschick läßt sich Jesus durchaus gewinnbringend vermarkten. Woran liegt es, daß ausgerechnet in einer Zeit, in der die Kirchenaustritte eklatant zunehmen und innere Kritik von verbleibenden Mitgliedern immer lauter wird, die Gestalt Jesu eine derartige Faszination ausübt? Woran liegt es, daß er den Herausgebern der auflagenstarksten Wochenmagazine eine ausführliche Titelstory wert ist und das Thema von Fernsehmagazinen und Talk-Shows bestimmt, sodaß sogar in den Warteräumen praktischer und anderer Ärzte darüber diskutiert wird, wie wohl wirklich alles angefangen habe mit dem Christentum?

Die Suche nach dem Ursprünglichen ist faszinierend, die Frage danach, wie es wirklich war, ebenso wie der Argwohn: Vielleicht war doch alles ganz anders. Die Schriften des Neuen Testaments sind nach wie vor die direkteste Möglichkeit, an dieses Ursprüngliche des Christentums heranzukommen.

Bei seiner Untersuchung des Oxforder Papyrus konnte sich Carsten Peter Thiede technischer Mittel bedienen, von denen viele Wissenschafter in Zeiten diverser Sparpakete nur träumen. Der Einsatz eines Laserscanningmi-kroskops, dessen Daten auf einem Hochleistungscomputer mit spezieller Software ausgewertet werden, läßt an sich schon aufhorchen. Solch ein Aufwand für ein paar Buchstaben auf Papyrus klingt ohne Zweifel faszinierend. Wie allgemein, gilt aber auch hier: Jede Software kann nur dann die richtigen Ergebnisse liefern, wenn sämtliche Vorgaben durch den Programmierer stimmen. Im Zusammenhang mit Thiedes „Jesus-Papyrus" fällt auf, daß andere Papyrologen und Textkritiker aufgrund ihrer Fachkenntnisse und durch den Einsatz technischer Mittel zu ganz anderen Ergebnissen als Thiede kommen und seine Ansichten als unhaltbar bezeichnen. Thiede selbst gibt sich unbeeindruckt. Dazu Klaus Wachtel vom Institut für neutestamentliche Textforschung in Münster: „Mir scheint, daß Thiede gegen rationale Argumente immun ist. Und wenn es so ist, dann ist er wissenschaftlich nicht kritisierbar."

Schrift und alte Schriften haben Anziehungskraft, oft haftet ihnen Geheimnisvolles, Fremdes an. Ihre Entzifferung und Deutung bleibt gewöhnlich dem Kundigen verbehalten. Ihre Fiktion bildet den Stoff, aus dem Erfolgsromane geschrieben werden, Umberto Ecos „Name der Bose" ebenso wie Erich Möchels „Baubzü-ge". Über alte Schriftstücke wird die Vergangenheit zugänglich. In Salzburg ist gerade eine Ausstellung über Papyri der Österreichischen Nationalbibliothek zu Ende gegangen. Unter dem Titel „Die Wüste spricht" wurden Originaldokumente gezeigt, die antikes Leben von der Geburt bis zum Tod beleuchten. Darunter waren auch Stücke, die in die Zeit der Abfassung der neutestamentlichen Schriften zurückführen. Wenn man in damaligen Geburtsanzeigen feststellen kann, daß die gemeldeten Kinder bereits drei oder fünf Jahre alt waren, geht einem die Tatsache der hohen Kindersterblichkeit näher, als wenn man nur die sachliche Information darüber zur Kenntnis nimmt. Damaliger Alltag läßt sich sozusagen' nachlesen: in tau-senden privaten Briefen ebenso wie in amtlichen Dokumenten. Das Faszinierendste dabei: solche Schriftstücke sind authentisch und im wahrsten Sinn des Wortes einzigartig.

Anders die Textzeugnisse antiker Literatur und der Bibel: hier besitzen wir bis heute kein einziges Autograph, sondern (nur) Kopien. Wir besitzen kein authentisches Schriftstück einer griechischen Tragödie, keine Bede auf einem Papyrus, den Cicero selbst beschrieben hat, und auch keinen authentischen Text des Paulus oder des Verfassers des Matthäusevangeliums - und einen Text Jesu schon gar nicht. Wenn Thiede nun mehrfach von einem „Jesus-Papyrus" spricht, so weckt er die Erwartung, er habe ein authentisches Schriftstück Jesu identifiziert. Spätestens hier verläßt er den Pfad der wissenschaftlichen Bedlich-keit und sachlichen Information.

Was bleibt, ist die Sehnsucht, wenigstens einen Beleg dafür zu finden, wie ein Paulus oder ein „Matthäus" wirklich geschrieben haben.

Wie es wirklich angefangen hat mit dem Christentum, liegt im dunkeln. Aber in dieses Dunkel vielleicht doch etwas mehr Licht zu bringen, bleibt eine Herausforderung. Selbst wenn die endgültige Abfassung der Evangelien des Neuen Testaments -wie Thiede meint - durch Augenzeugen Jesu geschehen wäre, bliebe die letzte Wahrheit über Jesus eine vermittelte und somit verborgene. Auch Augenzeugen können irren, wir erleben das täglich. Freilich entbindet diese Einsicht den Wissenschafter nicht von der Aufgabe, weiterhin in wissenschaftlich verantworteter Weise nach den Ursprüngen zu suchen. Ohne Zweifel: Die Person Jesu fasziniert nach wie vor. Aber Faszination allein ist noch keine adäquate Beaktion auf das, was die neu-testamentlichen Texte von ihm und über ihn berichten.

Der Autor ist

Assistent am Institut für Neutestamentliche Bibelwissenschaft der Universität Salzburg und leitet dort gemeinsam mit Michael Ernst das Forschungsprojekt „Analyse der Paulusbriefe auf dem Hintergrund dokumentarischer Papyri".

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