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Das Gericht hat entschieden

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Mit dem Urteil im sogenannten „Südtiroler Sprengstoffprozeß“ hat der Mailänder Gerichtshof versucht, einen echten Beitrag zur Verständigung in Südtirol zu liefern. 46 Südtiroler Häftlinge sind bereits am 18. Juli in ihre Heimatdörfer, die sie über drei Jahre lang nicht gesehen haben, zurückgekehrt. Die Bevölkerung hat ihnen einen warmen Empfang bereitet. Zwei weitere Häftlinge, die nur noch eine kleine Reststrafe zu verbüßen haben, werden in den nächsten Tagen erwartet.

Als sich der Gerichtshof nach über 35 Beratungsstunden — das Gericht tagte auch während der ganzen Nacht vom 15. auf den 16. Juli — in den Saal begab, wurde es mäuschenstill. Zum letztenmal erscholl der Ruf „La Corte“, bei dem sich alle erheben müssen. Präsident Dr. Simonetti sah erschreckend bleich und abgezehrt aus. Aber auch den Geschworenen konnte man die ungeheuren Strapazen dieses Prozesses an ihren Gesichtern ablesen. Dr. Simonetti, nobel wie immer, er- -’ Mäubfg .entgegen sonstiger Gewöhn-; heiten allen, sich zu setzen. „Das Urteil wird sehr lang werden“, erklärte er.

Ein Raunen der Erleichterung

Schon nach den ersten Urteilsverkündigungen ging ein Raunen der .Erleichterung, ein Aufatmen durch die Menge. Kerschbaumer, wohl die profilierteste Figur unter den Angeklagten, „Rebell von Eppan“ genannt und wegen seiner Offenheit und seines Bekennermutes von Freund und Gegner geachtet, erhielt zwar eine doch unerwartet harte Strafe (15 Jahre und elf Monate), aber schon bei den nächsten Angeklagten zeigte sich das Gericht verhältnismäßig großzügig. Häftlinge, für die der Staatsanwalt Strafen zwischen neun und fünfzehn Jahren Kerkers gefordert hatte (so beispielsweise die vom Südtiroler Anwalt Dr. Riz verteidigten Häftlinge Pichler und Obermair) wurden mangels an Beweisen freigesprochen. Auch der politische Hauptangeklagte dieses Prozesses, der Generalsekretär der SVP, Dr. Hans Staneic, wurde — wie erwartet — freigesprochen. Die Anträge des Staatsanwaltes wurden fast durchweg um zwei Drittel verringert.

Neben Tränen der Freude und Erleichterung gab es aber auch Tränen der Enttäuschung und des Schmerzes. Viele Angehörige der Häftlinge, die eigens zum Urteilsspruch nach Mailand gefahren waren, mußten ohne ihre Lieben in ihre Heimat zurückkehren. Zwanzig Südtiroler bleiben weiterhin hinter italienischen Gefängnismauern. Ein Teil wurde inzwischen schon nach Verona, ein Teil nach Trient übergeführt. Sepp Kerschbaumer, der den Auftrag bekam, eine „Wunschliste“ der restlichen Häftlinge zusammenzustellen, hat sich für Verona entschieden, obgleich Trient als das „bessere“ Gefängnis gilt...

Nicht stichhältige Indizien

Das Urteil des Mailänder Gerichtshofes weist freilich einige nicht unbedeutende Schönheitsfehler auf. Einige Angeklagte, so beispielsweise der Pustertaler Jagdaufseher Andreas Schwingshackl, der Arbeiter Alois Egger aus dem Ultental, der Bauer Johann Clementi aus Neumarkt und der von den Karabinieri chwerstens mißhandelte Schmied

Franz Gamper ausVahrnbeiBrixen, wurden zu überraschend hohen Strafen verurteilt. Dies muß um so mehr überraschen, als gegen sie (mit Ausnahme von Egger, der einen Mast zu sprengen versuchte) wenig Belastungsmaterial vorliegt. Vor allem Schwingshackl, der aus Erbitterung über das harte Urteil weinte, scheint auf Grund von noch dazu nicht sehr stichhältigen Indizien verurteilt worden zu sein.

Diese gewichtigen Minuspunkte, die für die Betroffenen besonders schmerzlich sind, dürfen jedoch nicht über die ebenso gewichtigen Pluspunkte dieses Urteils, dem in ganz Italien große Bedeutung zugemessen wird, hinwegtäuschen. Dem Gerichtshof kann der gute Wille, ein verständnisvolles und gerechtes Urteil zu suchen, nicht abgesprochen werden. Dieser gute Wille und die Noblesse Dr. Simonettis können nicht hoch genug bewertet werden. Dieses Urteil war nur in der weltoffenen, toleranten Atmosphäre der großen lombardischen Industriestadt möglich, irr dem sich,idi .Bevölkerung ,’wenigaiunj den „Terroristenprozeß“

kümmerte, als um ein Verfahren, in dem es um die Beine eines hübschen Mädchens ging.

„Ich brauche dringend Erholung“

„Ich bin müde und erschöpft", sagte Präsident Dr. Simonetti, der vor kurzem zum Rat des obersten italienischen Gerichtshofes in Rom ernannt wurde, nach dem Urteil. „Ich brauche dringend Erholung.“ Man glaubte es ihm gerne. Der größte Prozeß der italienischen Justizgeschichte dauerte über sieben Monate. In diesen insgesamt 96 Sitzungen des Gerichtshofes, den sein Präsident sehr umsichtig, aber stets straff geleitet hat, wurden 68 Angeklagte und fast 500 Zeugen einvernommen. Über 30 Anwälte, unter ihnen allein 21 der Verteidigung, hielten oft tagelang dauernde Plädoyers. Der Prozeßakt umfaßt über

50.0 Seiten. Und auch im Beratungszimmer ist ein absoluter Rekord aufgestellt worden: Länger als 30 Stunden hat noch kein italienisches Gericht beraten.

Wie sehr dieser Monsterprozeß an den Nerven aller Beteiligten zerrte, zeigt sehr deutlich der plötzliche Tod des jüngsten Geschworenen — es war jener, der sich während der Einvernahme der Angeklagten ein mal aus Protest die Ohren zugehalten hatte, was kein gutes Omen zu sein schien. Er darf als Opfer dieses nervenzermürbenden Verfahrens bezeichnet werden. „Dieser Prozeß wird uns allen noch Unglück bringen, deshalb werde ich mich nur mehr ganz kurz äußern“, soll Staatsanwalt Dr. Grėsti, für den das Urteil eine nicht unerhebliche Blamage bedeutet, abergläubisch und erschüttert gesagt haben. Die Angeklagten allerdings hatten Glück im Unglück: an die Stelle des Verstorbenen, dessen Einstellung wenig Gutes zu verheißen schien, rückte just jener Ersatzgeschworene nach, der (als einziger) Deutsch versteht und den Häftlingen wohlwollend eingestellt gewesen zu sein schien.

Hunde in der Zeugenkammer

Der Urteilsverkündung waren strengste Sicherheitsmaßnahmen vorausgegangen. Während in Südtirol die Bewachung der öffentlichen Gebäude und Anlagen verstärkt und Polizei- und Heereseinheiten in ‘-Alarmbereitschaft gesetzt wurden, würden auch die, Sieherheite,vorkeh- rdrigen im monströsen Mailänder Justizpalast mehr als verdoppelt. Dutzende Karabinieri bewachten den Eingang, jede Aktentasche wurde streng kontrolliert. In den Tagen vor dem Urteil wurde sogar ein Schäferhunddienst eingerichtet. Die „Anti- tritol-Hunde“, extra darauf dressiert, hatten die Aufgabe, während der Nacht in den Gängen des Gerichtsgebäudes nach eventuell eingeschmuggeltem Sprengstoff zu suchen. Mehr als ein Anwalt, der während der letzten Verhandlungen bei über 30 Grad Hitze eine kurze Zigarettenpause einlegen wollte und zu diesem Zweck in die kleine Zeugenkammer nebenan ging, wurde durch die riesigen Hunde, die tagsüber dort eingesperrt waren, erschreckt...

Das Los der verurteilten zwanzig Südtiroler Häftlinge ist bitter: Soweit sie über Besitz verfügen, wird er versteigert und zur Deckung der hohen Gerichtskosten, die auf acht bis zehn Millionen Schilling geschätzt werden, benützt werden. Aber auch für sie und ihre schwergeprüften Angehörigen (so hat der nun 34jährige Bauer Georg Pirchner aus Lana, der zu 14 Jahren und sieben Monaten Gefängnis verurteilt wurde, sieben Kinder) gibt es noch einen Schimmer berechtigter Hoffnung. Abgesehen von der Möglichkeit vorzeitiger Haftentlassung wegen guter Führung dürfte auch im Berufungsverfahren, das wiederum in Mailand stattfinden wird, manches Urteil revidiert werden. Sollte das Klima von Genf und Mailand weiterhin anhalten und nicht durch neue Pläne unverantwortlicher Hitzköpfe, welche die gewaltsame Lösung des Südtirolproblems mit Sprengstoff anstreben, getrübt werden, dann dürfte auch ein Gnadenakt des Staatspräsidenten nicht lange auf sich warten lassen.

Das Mailänder Urteil ist in Südtirol mit einer gewissen Erleichterung begrüßt worden. Die positiven Folgen dieses Richterspruches werden nicht ausbleiben. Es könnte dazu beitragen, den Graben des Mißtrauens und der Verständnislosigkeit in Südtirol langsam wieder zuzuschütten. Der über sieben Monate dauernde „Geschichtsunterricht über Südtirol“, wie ein Anwalt den Mailänder Prozeß genannt hat, ist nicht umsonst gewesen...

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