6716889-1964_47_03.jpg
Digital In Arbeit

Das große Tabu: Oder-Neiße

Werbung
Werbung
Werbung

Bestellt noch eine Aussicht, daß die Oder-Neiße-Linie nicht Deutschlands Ostgrenze bleiben wird? Begünstigt heute irgend jemand die Wiederherstellung Deutschlands in den Grenzen von 1937? Wollten die Siegermächte 1945 ein Deutschland mit jenen alten Grenzen? — Die offizielle Politik der Bundesrepublik, der Regierung und der Opposition, nährt seit fünfzehn Jahren derartige Vorstellungen und Hoffnungen in einem großen Bevölkerungsteil. Auf seiner letzten Pressekonferenz am 25. September wiederholte Bundeskanzler Erhard „unseren alten Rechtsstandpunkt, und der ist ja doch in dem Potsdamer Abkommen festgelegt, auch mit der Unterschrift Sowjetrußlands, daß nämlich erst nach einer Wiedervereinigung und einem Friedensvertrag mit einer gesamtdeutschen Regierung die deutsche Ostgrenze endgültig geregelt werde. Es ist nichts davon gesagt, wie sie geregelt werde Um es ganz deutlich zu sagen, die Grenzen gelten weiter vom 31. Dezember 1937, das heißt vor der Hitlerschen Aggression.“ Hält aber eine solche Deutung der historischen Wirklichkeit stand — oder gerät hier deutsche Politik in die Gefahr eines Selbstbetrugs, der ihr legitimes Ziel — die deutsche Einheit — unglaubwürdig machen könnte?

Der Beschluß von Teheran

Polen ist am Ende des zweiten Weltkrieges geographisch nach Westen verschoben worden — nicht aus eigenem Entschluß, sondern durch Entscheidung der alliierten Siegermächte. Am 22. Februar 1944 teilte Churchill dem britischen Unterhaus mit, er habe sich im November 1943 auf der Konferenz von Teheran mit Stalin geeinigt, „daß Polen auf Kosten Deutschlands im Norden und Westen entschädigt werden müsse“. Die bedingungslose Kapitulation, die man von Deutschland verlange, bedeute, daß „die Atlantikcharta als ein Rechtsgrund, der die Abtretung von Gebieten an feindliche Staaten oder Grenzberichtigungen verhindert, nicht in Frage kommt“.

Die Westmächte wollten den russischen Ansprüchen auf Ostpolen nicht entgegentreten, nachdem die Sowjetunion zwischen 1941 und 1944 die Hauptlast des Krieges gegen Hitler getragen hatte; sie meinten, Stalin das nicht verweigern zu können, was ihm Hitler 1939 bewilligt hatte — zumal die Grenzlinie am Bug weitgehend der sogenannten Curzon-Linie entsprach, die westliche Sachverständige nach dem ersten Weltkrieg selbst als eine „gerechte“ Ostgrenze Polens empfohlen hatten.

Als ein britischer Unterhausabgeordneter Bedenken anmeldete, gab Außenminister Eden am 23. Februar 1944 zu bedenken: „Deutschland hat ganze Bevölkerungsgruppen aus weiten Landstrichen entfernt, Millionen von Menschen, und in vielen Fällen sind sie jetzt tot.“ Der polnischen Exilregierung teilte der britische Unterstaatssekretär Cadogan am 2. November 1944 mit: „Sie fragten, ob die Regierung Seiner Majestät bestimmt für die Vorverlegung der polnischen Grenze bis zur Oderlinie einschließlich des Hafens von Stettin sei. Die Antwort lautet, daß die Regierung Seiner Majestät tatsächlich der Ansicht ist, daß Polen das Recht haben sollte, sein Gebiet so weit auszudehnen.“ Und der amerikanische Präsident Roosevelt regte in einem Brief vom 17. November 1944 an die polnische Exilregierung die Vertreibung der Deutschen an: „Wenn die polnische Regierung und das Volk im Zusammenhang mit den neuen Grenzen des polnischen Staates eine Überführung nationaler Minderheiten in das Territorium Polens oder aus diesem hinaus wünscht, wird die Regierung der Vereinigten Staaten keine Einwände erheben und, soweit durchführbar, eine solche Überführung erleichtern.“

Churchills Votum

Unverblümter noch plädierte Churchill am 15. Dezember 1944 für „die vollständige Vertreibung der Deutschen aus den Gebieter^ die Polen im .Westen und Norden gewinnt“. Er sagte dazu: „Die Vertreibung ist, soweit wir das übersehen können, das dauerhafteste und befriedigendste Mittel. Es wird keine Mischung der Bevölkerung geben, durch die, wie sich in Elsaß-Lothrin- gen gezeigt hat, nur endlose Unzuträglichkeiten entstehen.“ Der britische Oppositionsführer stimmte dem am 25. Februar 1945 zu, als er im Unterhaus sagte: „Sie (die Deutschen) haben die alten Schranken zerbrochen, und daher sage ich, daß sie jetzt nicht an das alte Europa appellieren können Sie haben kein Recht, an die moralischen Gesetze zu appellieren, die sie selbst außer acht gelassen haben Die Umsiedlungen können sehr, sehr schmerzlich sein, aber vielleicht sind sie besser als ein ewiger Unruheherd von Volksteilen inmitten von Völkern, die sich hassen.“

In jenem Februar 1945, drei Monate vor Kriegsende, hatten die „großen Drei“ in Jalta auf der Krim beschlossen: „ daß Polens Ostgrenze mit Abweichungen in einigen Gebieten von fünf bis acht Kilometern zugunsten Polens, der Curzon-Linie folgen solle. Sie erkennen an, daß Polen im Norden und Westen beträchtlichen Gebietszuwachs erhalten muß. Sie sind der Auffassung, daß die Meinung der neuen provisorischen polnischen Regierung dei' nationalen Einheit über das Ausmaß des Gebietszuwachses zu gegebener Zeit in Erfahrung gebracht'werden und die endgültige Festlegung der Westgrenze Polens der Friedenskonferenz vorbehalten sein soll.“ Präsident Roosevelt interpretierte die Beschlüsse am 1. März 1945 vor dem Kongreß: „Die Entscheidung war ein Kompromiß Die Westgrenze wird endgültig bei der Friedenskonferenz festgelegt werden. Im großen ganzen wird sie dem neuen, starken Polen ein ganzes Stück von dem geben, was jetzt Deutschland heißt. Wir kamen überein, daß das neue Polen eine breite, lange Küste und viele neue Häfen haben wird; ferner, daß Ostpreußen — der größte Teil davon — an Polen fällt. Eine Ecke davon fällt an Rußland “

War die Entscheidung nur „vorläufig“?

Die Veränderung der deutschen Ostgrenze und die Vertreibung der Deutschen war also grundsätzlich beschlossene Sache, -als sich die Sieger in Potsdam zusammensetzten. Fünf Wochen vorher hatten sie (in der Berliner Deklaration vom 5. Juni 1945) „die oberste Regierungsgewalt in Deutschland“ übernommen. Die alliierten Oberkommandierenden betonten dabei, daß dies „nicht die Annektierung Deutschlands“ bedeute und daß die alliierten Regierungen „später die Grenzen Deutschlands festlegen werden“. Wenn daher in diesem Dokument (dem einzigen!) von Deutschland „in den Grenzen vom 31. Dezember 1937“ die Rede ist, so war damit ausdrücklich keine Grenzfestlegung gemeint, sondern lediglich das militärische Besatzungsgebiet abgesteckt: „Deutschland wird innerhalb seiner Grenzen, wie sie am 31. Dezember 1937 bestanden, für Besatzungszwecke in vier Zonen aufgeteilt.“ In Potsdam wurde dann am 2. August 1945 diese Einteilung insoweit korrigiert als die an Polen übergebenen deutschen Gebiete „nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen“.

Ganz logisch war daher im Pots

Trumans Theorie der

„Die Konferenz hat grundsätzlich dem Vorschlag der Sowjetregierung hinsichtlich der endgültigen Übergabe der Stadt Königsberg und des anliegenden Gebietes an die Sowjetunion zugestimmt, wobei der genaue Grenzverlauf der sachverständigen Prüfung vorbehalten bleibt.“

Dem formalen Anschein von „Vorläufigkeit“, der in der Potsdamer Regelung über die „früher“ deutschen Gebiete jenseits von Oder und Neiße gewahrt wurde, widersprach nicht nur die Vorgeschichte des Abkommens, auch seine Unterzeidiner gaben sich keinen Illusionen hin. Präsident Truman teilte der amerikanischen Bevölkerung am 9. August 1945 in einer Rundfunkansprache mit, daß „das von Polen zu verwaltende Gebiet eine kurze und leichter zu verteidigende Grenze zwischen Polen und Deutschland bieten wird. Von Polen besiedelt, damer Abkommen von einem „Deutschland in den Grenzen von 1937“ mit keinem Wort mehr die Rede. Die „höchste Regierungsgewalt in Deutschland“, die in Potsdam dem alliierten Kontrollrat übertragen wurde — und zwar in den „Deutschland als Ganzes betreffenden Fragen“ —, erstreckte sich nur noch bis zur Oder und Neiße. Polen wurde nicht Besatzungsmacht und erhielt keinen Sitz im Kontrollrat. Mit ausdrücklichem Hinweis auf die Krimbeschlüsse formulierte das Potsdamer Abkommen jedoch folgende Regelung — unter der Überschrift „Polen“:

„In Übereinstimmung mit dem auf der Krimkonferenz erzielten Abkommen haben die Häupter der drei Regierungen die Meinung der Polnischen Provisorischen Regierung der nationalen Einheit hinsichtlich des Territoriums im Norden und Westen, das Polen erhalten soll, geprüft. Die Häupter der drei Regierungen bekräftigen ihre Auffassung, daß die endgültige Festlegung (final delimitation) der Westgrenze Polens bis zur Friedensregelung zurückgestellt werden soll. Die Häupter der drei Regierungen stimmen darin überein, daß bis zur endgültigen Festlegung (pending the final determination) der Westgrenze Polens die früher deutschen Gebiete (the former German territories) östlich der Linie, die von der Ostsee unmittelbar westlich von Swine- münde und von dort die Oder entlang bis zur Einmündung der westlichen Neiße und die westliche Neiße entlang bis zur tschechoslowakischen Grenze verläuft, einschließlich des Teiles von Ostpreußen, der nicht unter der Verwaltung der UdSSR in Übereinstimmung mit den auf dieser Konferenz erzielten Vereinbarungen gestellt wird, und einschließlich des Gebietes der früheren freien Stadt Danzig unter die Verwaltung des polnischen Staates kommen und in dieser Hinsicht nicht als Teil der sowjetischen Besatzungszone in Deutschland betrachtet werden sollen.“

„kurzen Grenzen“

wird es die Grundlage für eine homogenere Nation bieten“. Truman anderseits war es vor allem gewesen, der sich (wie die Dokumente heute zeigen) in Potsdam formal nicht endgültig festlegen wollte, nachdem bereits die ersten Zeichen der Verstimmung zwischen Washington und Moskau sichtbar geworden waren. Truman war besonders verstimmt, weil die Sowjetunion inzwischen in Polen eine kommunistische Regierung zu installieren begann. Churchill und seine Experten waren der Meinung, daß jede Verzögerung in Polen nur weiter konsolidieren werde.

Görlitzer oder Glatzer Neiße?

Es kann heute als wahrscheinlich gelten, daß der Westen Polen zum Verzicht mindestens auf Niederschlesien bis zur Glatzer Neiße hätte bewegen können, wenn er dafür die formale Festlegung der Grenze geboten hätte. Anderseits kann kein Zweifel bestehen, daß die Westmächte weder damals noch später ihr grundsätzliches Ja zur Oder- Neiße-Grenze differenziert hätten und daß sie auch in Deutschland nie Zweifel an ihrer Haltung hätten aufkommen lassen, wenn sich Polen nach Westen hätte orientieren können, wenn Stalin nicht die Sowjeti- sierung Osteuropas begonnen hätte. Der angeblichen Vorläufigkeit der Oder-Neiße-Grenze widersprach aber vor allem Kapitel XIII. des Potsdamer Abkommens, das die Vertreibung (expulsion) von Millionen Deutschen aus diesen Gebieten anordnete. Die Generale Clay, Robertson und Koeltz bestätigten unter dem Vorsitz von Marschall Schukow auf der 12. Sitzung des Berliner Kontrollrates den Aussiedlungsplan.

Der gleiche Churchill, der sich ein Jahr vorher noch entschieden für die Vertreibung eingesetzt hatte, hielt es am 3. März 1946 plötzlich für geraten, der „von Rußland beherrschten polnischen Regierung“ vorzuwerfen, daß sie sich „in unrechtmäßiger Weise und in gewaltigem Maße in deutsche Angelegenheiten einmische und Massenausweisungen von Millionen Deutschen anordne“. Den geschlagenen Deutschen stellte Churchill jetzt in Aussicht, „sich den Russen oder den westlichen Demokratien anzubieten“. Am 6. September 1946 schwenkte der amerikanische Außenminister Bymes in seiner berühmt gewordenen Stuttgarter Rede auf diese Linie ein: In Potsdam hätten die Staatsoberhäupter zwar beschlossen, die. Abtretung Nordostpreußens an die Sowjetunion zu unterstützen, nicht aber die Abtretung ostdeutscher Gebiete an Polen. „Der Umfang des an Polen abzutretenden Gebietes muß bestimmt werden, wenn die endgültige Regelung getroffen wird“, sagte Byrnes. Er betonte aber zugleich: „Polen bat um eine Revision seiner Nord- und Westgrenze. Die Vereinigten Staaten werden eine Revision dieser Grenze zu Polens Gunsten unterstützen.“

Nur ein zeitweiliges Experiment?

Zehn Tage später antwortete Byrnes der sowjetische Außenminister Molotow: „Wem könnte der Gedanke in den Kopf kommen, daß diese Aussiedlung der Deutschen nur als zeitweiliges Experiment vorgenommen wurde? Allein schon der Gedanke an derartige Experimente mit Millionen Menschen ist unfaßbar, ganz zu schweigen von seiner Grausamkeit sowohl gegenüber den Polen wie gegenüber den Deutschen selbst. All das spricht davon, daß der von Truman, Attlee und Stalin unterzeichnete Beschluß der Berliner Konferenz die Westgrenzen Polens bereits festgelegt hat und nur seiner Besiegelung auf der künftigen internationalen Konferenz über den Friedensvertrag mit Deutschland harrt.“

„Durch das Hitlersche Abenteuer verspielt“

Der kalte Krieg, die zunehmende Spaltung Deutschlands und der Stalinismus in Osteuropa ließen solche „Besiegelung“ in weite Ferne rücken. 1947 hatte Jakob Kaiser (CDU) noch die Meinung vertreten, „daß die Polen selbstverständlich mit deutschen Ostgebieten entschädigt wer-

den“, und Kurt Schumacher (SPD) hatte von der Grenze von 1937 gesagt, sie sei „durch das Hitlersche Abenteuer verspielt“ — doch beide Politiker hielten an dem Gedanken fest, wenigstens einen Teil der verlorenen Gebiete zurückzugewinnen.

Als die Entstalinisierung in den fünfziger Jahren den Prozeß der Desintegration im Ostblock einleitete, wandelte sich auch die Haltung der westlichen Alliierten wieder. 1956 empfahl John McCloy der Bundesrepublik, zu erwägen, „ob es nicht zweckmäßig wäre, auf einen Teil der ehemals deutschen Gebiete zu verzichten, um damit die Wiedervereinigung West- und Ostdeutschlands näherzubringen“. Am 25. März 1959 setzte sich de Gaulle für die deutsche Wiedervereinigung ein, „vorausgesetzt, daß dabei die gegenwärtigen Grenzen im Westen, Osten, Norden und Süden nicht in Frage gestellt werden“. Ministerpräsident Debrė verdeutlichte das am 13. Oktober 1959: Zum Status quo, den es zu erhalten gelte, gehöre auch „die Respektierung der Grenze, und zwar aller Grenzen, mit Einschluß der sogenannten Oder-Neiße-Linie“. Im Sommer 1959 versicherte der amerikanische Vizepräsident Nixon dem polnischen Parteichef Gomulka in einem Warschauer Gespräch, Amerika denke nicht daran, die Revision der Oder-Neiße-Grenze zu unterstützen. Der amerikanische Außenminister Herter gab bei einem Gespräch mit Gomulka über die Grenzfrage (New York 1960) zwar keine konkreten Zusicherungen, doch gab er — wie Gomulka anschließend sagte — „Grund zu Zufriedenheit“.

Als Bundeskanzler Adenauer am 10. Juli 1960 in Düsseldorf den Ostpreußen die Rückkehr in ihre Heimat in Aussicht stellte, wenn man nur treu zur NATO stehen werde, richtete die Warschauer Regierung an die NATO-Mächte diplomatische Noten mit der Anfrage: Gibt es irgendwelche Absprachen innerhalb der atlantischen Verteidigungsorganisation, die den Bundeskanzler zu der Annahme berechtigen könnten, daß die NATO-Staaten territoriale Ansprüche der Bundesrepublik gegenüber Polen unterstützen würden? — In den schriftlichen Antworten kündigte kein NATO-Staat auch nur andeutungsweise an, daß er sich jetzt oder künftig für eine Revision der Oder-Neiße-Grenze ėinšetzen werde. Der "Primas von Polen, Kardinal Wyszynski, polemisierte am 18. August 1960 auf der Marienburg gegen Adenauer, den „feindseligen Menschen aus dem fernen Westen“, und forderte die Polen auf, ruhig zu bleiben.

Zweimal „Heimatrecht“

Tatsächlich wohnten in den Oder- Neiße-Gebieten schon 1960 über sieben Millionen Polen, heute über acht Millionen. Das angebliche Provisorium von 1945 dauert bald zwanzig Jahre. Nahezu vier Millionen Polen wurden in den Gebieten, die heute ein Drittel des polnischen Territoriums umfassen, schon geboren. Die Besiedlungsdichte hatte in diesem Raum schon 1960 den Vorkriegsstand zu 86 Prozent erreicht. 1946 lagen in diesem Gebiet 62 Prozent des Ackerlandes brach, 1960 waren 92 Prozent angebaut. Fast ein Drittel der polnischen Industrieproduktion kommt aus diesen Gebieten, deren Industrieanlagen nach dem Kriege zu 70 Prozent zerstört waren.

Die Polen haben sich zwei Jahrzehnte lang in diesen Gebieten eingerichtet — nicht komfortabel, Sonden so, wie es in dem vergleichsweise armen Lande überall aussieht. In einem Lande, das seine Industrialisierung, die mit Riesenschritten vorangeht, durch Konsumverzichte erkaufen muß. Es gibt heute in Polen, in allen Kreisen, gleich welcher politischen Orientierung, keine Neigung, über die Oder-Neiße-Grenze mit sich reden zu lassen. Die .Polen wissen, daß es außerhalb Deutschlands keine Regierung und keine Macht gibt, die diese Grenze ernstlich anzweifelt. Selbst in dem Falle, daß das Unwahrscheinliche einträte und der Kommunismus aus Osteuropa „verschwände“, so würde der Westen als erstes jene Garantie der Oder-Neiße-Grenze zu übernehmen haben, die heute die Sowjetunion bietet. Auch das wissen die Polen. Sie wollen in diesen Gebieten bleiben — auch weil ihr Staat anders nicht mehr lebensfähig wäre. Und sie werden darin bestärkt von der stärksten geistigen Kraft im Lande, der katholischen Kirche. Deutsche Politik hat auch mit diesem Willen

als einer Realität zu rechnen — gleich, ob er ihr gefällt oder nicht.

Gegen diese Realität stellt heute die offizielle Politik der Bundesrepublik zweierlei: Den Willen zur Revision und den Verzicht auf Gewalt. Ist Revision aber ohne Gewalt denkbar, wenn der Betroffene nicht mit sich reden läßt und wenn ihm das, was er besitzt, von aller Welt seit langem zugesagt ist? — Frankreich hat sich erst vor kurzem wieder durch den Mund des französischen Abgeordneten Palewski zur Oder- Neiße-Grenze bekannt. (Ein Pariser Regierungssprecher sagte am

14. September, Palewski habe zwar im eigenen Namen gesprochen, „doch nichts Falsches gesagt, sondern das, was in der Erklärung de Gaulles vom 25. März 1959 und Debrės vom

15. Oktober 1959 enthalten war“.) Selbst die Chinesen, an die sich heutzutage manche Illusionisten klammern, kommentierten den Standpunkt der Bonner Regierungserklärung zur Ostgrenze als „Traum eines Irren“ (Die amtliche Nachrichtenagentur Hsin-hua am 4. April 1964). Und Gordon Walker, der neue britische Außenminister, brachte vor kurzem im deutschen Fernsehen den westlichen Standpunkt auf eine lapidare Formel:

„Die Labour-Regierung ist der Ansicht, daß das Problem der Grenzen an Oder und Neiße erst bei der allgemeinen Regelung der Beziehungen gelöst werden kann. Wir hatten je-

Glaubhaft bleiben!

Also Anerkennung der Grenze? Wenn damit der formale Akt der Unterschrift gemeint ist, so erwarten das heute nicht einmal die Polen. Das Hauptproblem deutscher Politik liegt gegenwärtig darin, ihren Gewaltverzicht glaubhaft zu machen — mit allen schließlich darin liegenden Konsequenzen. Dazu gehört die nüchterne, wenn auch schmerzliche Erkenntnis dessen, was in Potsdam wirklich geschah — und was seitdem in der Weltmeinung und in den Oder-Neiße-Gebieten vor sich ging. Dazu gehört der Verzicht auf die Verbreitung falscher Hoffnungen. Und die Bereitschaft, sich ehrlich der Frage zu stellen, die immer wieder, und nicht nur von Polen, gestellt wird: Wenn nicht mit Gewalt — wie

doch erklärt, daß man sich nicht vorstellen könne, daß bei der wahrscheinlichen Regelung die Grenze an Oder und Neiße nicht anerkannt werde. Dies erklären wir und dies erklärt die gegenwärtige Regierung, und fast jede Regierung der Welt ist der gleichen Meinung.“

aber dann?

So wird sich eine friedliche nationale Politik der Bundesrepublik Deutschland allerdings am Ende nur glaubhaft machen können, wenn sie sich — gestützt auf alle Parteien — zu der Erklärung durchringt, daß sie in einem künftigen Friedensvertrag die Westverschiebung Polens und seine neuen Grenzen hinnehmen und sich an ihrer Garantie beteiligen wird. Da niemand bereit ist, Deutschland dieses Opfer zu ersparen, ist es besser, sich darauf vorzubereiten und seine politisch-psychologischen Belastungen jetzt schon ins Auge zu fassen — statt sie durch trügerische Erwartungen hinauszuzögern und dadurch nur zu vergrößern.

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung