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Das ideologische Groreinemachen

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In diesem Land ist aber die stärkste ideologische Wandlung der letzten Zeit im kommunistischen Osteuropa eingetreten. Die Opfer der Terrorprozesse wurden reichlich verspätet freigelassen, zum Teil sogar rehabilitiert, dafür ein geringer Prozentsatz der für die Verbrechen und Fehler Schuldigen ausgeschaltet. In Prag — noch mehr aber in Preßburg — ist man noch immer dabei, Ballast abzuwerfen: daß dies natürlich nicht reibungslos und ohne harte Kämpfe in den obersten Parteigremien vor sich geht, ist verständlich. Unverständlich hingegen ist die ideologische Stagnation oder, wenn man will, der Rückfall in Polen in einen harten Kurs; galt doch dieses Land noch vor nicht allzu langer Zeit als ein Modell für die Möglichkeit der Existenz eines wohl kommunistischen, jedoch national betonten Landes innerhalb des sogenannten „Sozialistischen Lagers“.

Das ideologische Großreinemachen in Rot-Osteuropa hält unvermindert an. Worauf ist diese Entwicklung zurückzuführen? Erstens ist sie mit einem Generationsproblem verbunden; zweitens ist sie als eine Nachwirkung der Erschütterungen von 1956 anzusehen; drittens ist sie historisch und national bedingt und nicht zuletzt ein Werk der Männer der Feder und des Geistes.

Die kommunistischen Führer Osteuropas haben nach 1945 mit Ausnahme von Tito, der sein Land aus eigener nationaler Kraft befreien konnte, ihre Führungsposition einzig und allein den Bajonetten der Roten Armee zu verdanken gehabt. Diese stalinistische Exportware machte sich zu Recht bei dem eigenen Volk verhaßt und mußte früher oder später einer Säuberung zum Opfer fallen. In der Zwischenzeit ist aber in den bereits durch stalinistische Methoden kommunistisch gemachten osteuropäischen Ländern eine nicht mehr hundertprozentig moskauhörige zweite Generation aufgewachsen, die mehr oder minder lautstark ihren Anspruch auf eine Führerrolle angemeldet hat oder im Begriff ist, dies zu tun. Diese Generation ist keine revolutionäre mehr; sie ist das Produkt einer Industriegesellschaft, deren Ideale nicht darin bestehen, das Marxsche Paradies auf Erden zu verwirklichen, sondern ein Auto privat zu besitzen. Diese Menschen, mögen sie auch nominell der Partei angehören, wetteifern nicht miteinander um Ideologien, sondern wollen reale Aufgaben lösen, auch dann, wenn diese nicht leicht mit den Prognosen des Marxismus-Leninismus in Gleichklang zu bringen sind.

Der Oktober 1956 hat die tollkühnen Antikommunisten zur Erkenntnis gebracht, daß ein Ausbrechen aus dem Vorgürtel des Sowjetimperialismus allein mit revolutionärem Elan unmöglich ist. Diese schmerzliche Ernüchterung brachte eine Nivellierung hervor. Die Kommunisten wagten es nicht mehr, ein zweites Mal zu den brutalsten stalinistischen Mitteln zu greifen, und auch die Nichtkommunisten fanden sich mit ihrer Situation ab und schlössen, so gut es ging — jeder für sich allein —, Frieden mit dem jeweiligen Regime.

Solange Stalin zentralistisch herrschte, wagten die einzelnen Völker nicht, ihre historischen Gegensätze hochzuspielen. Seit Albaniens Abfall — bei welchem es sich gezeigt hatte, daß auch Zwerg Nase den mächtigen russischen Bären in den Schwanzstummel zwicken kann, ohne deshalb sogleich zermalmt zu werden — gelten die ungeschriebenen Gesetze einer Waffenruhe zwischen den einzelnen Nationen innerhalb des Ostblocks nicht mehr. Die traditionellen Feindlichkeiten zwischen Ungarn und Rumänen, Tschechen und Slowaken, Polen und Deutschen, Ungarn und Slowaken sind wieder aufgeflammt und werden nicht nur in privatem Bereich, sondern auch auf höchster Ebene ausgefochten. Manche — wie die Rumänen — wagen, es sogar, an Tabus, wie der geheuchelten Freundschaft zum russischen Volk, zu rütteln.

Genauso wie der „polnische Frühling“ im Oktober 1956 und die ungarische Revolution zur gleichen Zeit ohne Vorarbeit der Männer des Geistes und der Feder unmöglich gewesen wären, kann ruhig gesagt werden, daß auch die heutige Entwicklung in Osteuropa dem mutigen Wirken der Männer des Geistes und der Feder zuzuschreiben ist. Vor allem trifft es im Fall der Tschechoslowakei zu, denn ohne das Vorprellen der slowakischen Schriftsteller und Journalisten im letzten Frühjahr säßen die Altstalinisten in diesem Bereich noch immer auf ihren Thronen. Aber auch die ungarischen Schriftsteller, die sich nach langem Schweigen aus Protest erneut mutig und mit sehr viel Talent zu Wort melden, können als Bahnbrecher bezeichnet werden.

Natürlich kommt dieses „Catch-os-catch-can“ auf dem Gebiet der Ideologie den noch vorhandenen Dogmatikern in den Parteireihen, aber auch den Ideologen der marxistischen Weltanschauung, mehr als ungelegen. So zum Beispiel kritisierte der Sekretär der KP der Tschechoslowakei, Vladimir Koucky, die Tätigkeit der Parteioppositionellen in einer Rede vor dem ZK-Plenum mit folgenden Worten: „Viele unserer Kritiker aus den Reihen der Parteimitgliederschaft, die selber noch vor nicht allzu langer Zeit einander im Herunterleiern von dogmatischen Sprücheln übertrumpft hatten, machen diejenigen, die der Partei Glauben schenken, lächerlich und bezeichnen diese als Primitive. Sie bezeichnen die Ideologie der Partei als eine längst überholte Mythologie und die Politik der Partei als ein System von Betrügereien.“ Das ZK-Plenum, vor welchem diese Worte erklungen waren, tagte knapp vor Weihnachten und beschäftigte sich ausschließlich mit Fragen der Ideologie und machte schließlich den Parteimitgliedern in einer Resolution zur Aufgabe, gegen alle dogmatischen, sektiererischen, in erster Linie aber kleinbürgerlichen Erscheinungen auf dem Gebiet der Ideologie aufzutreten, Dieser Aufruf fruchtete nur wenig. Die alte Parteiführung steht nach wie vor in pausenlosem Sperrfeuer des parteioppositionellen Nachwuchses, der sich insbesondere in der Slowakei stark bemerkbar macht und allwöchentlich auf den Seiten der zahlreichen Kulturzeitschriften seine Giftpfeile in Richtung Parteizentrale abfeuert. Bereits zweimal empfing in den letzten Wochen Partei- und Staatschef Novotny die rebellischen Schriftsteller und Journalisten zu einer „freundschaftlichen Aussprache“. Diese „Aussprachen“ dauerten jeweils beinahe einen ganzen Tag, und es dürften dabei nicht gerade freundliche Worte gewechselt worden sein.

Tatsache ist, daß ein Nachlassen der bisherigen strengen Parteizensur festgestellt werden kann. Dies kann sogar am äußeren Bild der Tageszeitungen abgelesen werden. Seit Jahresbeginn änderten die tschechischen und slowakischen Parteiblätter ihr graphisches Äußeres: das Parteizentralorgan „Rnde Pravo“ ist nicht mehr ein ödes Mitteilungsblatt über Erfolgsmeldungen in Wort und Bild, sondern nimmt allmählich die Gestalt einer wohlredigierten Zeitung an. Die Kulturzeitschriften, die sich nicht nur mit kultureller Thematik allein beschäftigen, sondern zu einem Forum von Könnern aus allen Berufssparten geworden sind, haben ein Niveau, um das man sie beneiden muß, und rütteln jede Woche ihre Leserschaft geistig auf. In diesem Land scheint die Notbremse der Parteiideologen zu spät gezogen worden, und den Zentristen der marxistischen Ideologie dürfte die Kontrolle entglitten sein.

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