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Das Jahr der Entscheidung

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1961 ist in der Deutschen Bundesrepublik Wahljahr. Nach allem, was man an Vorbereitungen in den letzten Monaten gesehen und erlebt hat, wird Westdeutschland in diesem Jahr zwischen zwei Kanzlerkandidaten zu wählen haben: zwischen dem 85jährigen Kanzler Konrad Adenauer (CDU) und dem 43jährigen regierenden Bürgermeister von Berlin, Willy Brandt (SPD). Die Parteizugehörigkeit steht mit Recht in Klammern, denn, so paradox dies auch klingen mag, die Bundestagswahlen stehen durch Konrad Adenauers überragende Persönlichkeit so sehr in seinem Zeichen, daß das deutsche Volk praktisch nicht mehr zwischen Parteien, sondern zwischen Persönlichkeiten zu wählen hat, wobei sich Brandt im wesentlichen bemüht, zu sagen, so

anders als Adenauer sei er gar nicht, nur eben ein beträchtliches Stück jünger. Ob die von der CDU-Fraktion vorgenommene Nominierung Erhards als Kronprinz mehr als Wahltaktik ist, wird sich erst erweisen müssen. Es sei daran erinnert, daß bereits 1957 vor der Wahl die Behauptung auftauchte, Adenauer werde den Kanzlerposten nach zwei Jahren an Erhard abtreten. Die entscheidende Figur ist nach wie vor Adenauer.

Was an anderen Parteien noch in den Bundestag einziehen wird, ist daneben ziemlich bedeutungslos. Die Situation von 1961 ist allerdings gegenüber den anderen Wahljahren insofern wesentlich anders, als es diesmal zum erstenmal in Brandt eine auch international anerkannte Alternative zu Adenauer gibt: Die ziemlich unverhüllte Aufforderung Kennedys an Brandt, ihn im Frühjahr zu besuchen, stach deutlich von der reservierten Aufnahme ab, die Konrad Adenauers Ankündigung eines Amerikabesuches unmittelbar nach Kennedys Wahl fand.

Nicht jung gegen alt

Trotzdem tut sich der allzu leicht, der die Entscheidung des Jahres 1961 auf die Formel jung oder alt bringen will. Ganz abgesehen davon, daß dies nicht der wesentlichste Unterschied zwischen den beiden Kandidaten ist, spricht sehr vieles dafür, daß dieses Jahr 1961 ein Jahr einer sehr viel tiefer gehenden und ernsteren Entscheidung werden wird, neben der schließlich auch das Wahlergebnis verblassen könnte. Wir meinen die Veränderungen in der internationalen

Politik, die durch den Wahlsieg Kennedys bedingt sind. Mit dieser Wahl bricht, wenn nicht alle Zeichen trügen, eine neue Ära der Beziehungen Amerikas zu Rußland an, die auch die Bundesrepublik vor neue Entscheidungen stellt. Das Problem einer deutschen Ostpolitik wird sich nicht mehr hinausschieben lassen.

„Versäumnis?“

Wenn man davon spricht, pflegen die Gegner Adenauers in lautes Lamento auszubrechen, die Bundesrepublik habe vornehmlich durch seine Schuld die Normalisierung der Beziehungen zu Polen und der Tschechoslowakei versäumt. Wahrscheinlich werden spätere Geschichtsbücher dieses „Versäumnis“ zu Adenauers größten . Leistungen zählen, so wie

seine entschiedene Hinwendung zum Westen als solche bereits gepredigt wird. Beides gehört nämlich, genau genommen, zusammen. Nie hätte Adenauer mit einer nur irgendwie gearteten Ostpolitik Deutschland befrieden und den Anschluß an den Westen finden können, der in Deutschland nicht so neu ist, wie man oft hört. Deutschland als ein Land der Mitte hat immer eine nach dem Westen und eine nach dem Osten gekehrte Seite gehabt. Die entschiedene Hinwendung nach dem Osten und damit der Konflikt mit Ost und West ist erst nach der verhängnisvollen kleindeutschen Lösung von 1871 dominierend geworden. Nach dem Untergang Preußens war es ein von dem Rheinländer Adenauer staatsmännisch begriffenes Gebot der Stunde, den Anschluß nach dem Westen durchzuführen. Diese radikale Schwenkung der deutschen Politik wurde ihm erleichtert, weil sie gleichzeitig ein Anschluß an den Wohlstand des Westens war. Sie war aber überhaupt nur durchzuführen, weil die ganzen Ostprobleme bewußt ausgeklammert wurden und weil sich Flüchtlinge und Vertriebene in die Wirtschaft Westdeutschlands eingliedern ließen. Aber das war keine Lösung der Ostprobleme, die nun in diesem und den folgenden Jahren auf Westdeutschland zukommen. Denn wie eine Versöhnung, ein Waffenstillstand im kalten Krieg oder eine Koexistenz auch aussehen werden, die Kennedy als seine Aufgabe ansieht: West-Berlin, die Oder-Neiße-Linie oder gar die Sudetenfrage werden davon in irgendeiner Weise betroffen sein.

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