Das Jahrhundert der Vertreibungen

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Menschen auf der Flucht, verjagt von anderen, die sie hassen - die Tragödien um "ethnische Säuberungen" ziehen sich durch das ganze 20. Jahrhundert ...

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Menschen auf der Flucht, verjagt von anderen, die sie hassen - die Tragödien um "ethnische Säuberungen" ziehen sich durch das ganze 20. Jahrhundert ...

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Unsere Mütter, Mischi und ich flüchten mit dem Wagen, den das magere Pferd zieht, in die Weingärten ... Wir bleiben die Nacht über auf freiem Feld. Am Morgen suchen wir Wasser für das aufgescheuchte Pferd. Frauen, die fortwährend beten und weinen, begegnen uns. Sie sagen, wir sollten nicht in die Stadt zurück. Man habe alle Männer und Burschen erschossen ... Am Haustor hört man schwere Schritte und laute Stimmen ... Ich flüchte zur Mutter. Die Männer sagen zu ihr, sie müsse in zehn Minuten gepackt haben ... Wir gehen in einer Kolonne, Mischi und ich nebeneinander, vor uns Helen mit ihrem kleinen Bruder auf dem Rücken ... Sehr lang ist die Kolonne, die aus Frauen und Kindern besteht ..."

Kosovo 1999? Nein: Werschetz im jugoslawischen Banat, 1944. Der damals zwölfjährige Robert Hammerstiel brauchte 55 Jahre, um die Traumata des Halbwüchsigen aus der Vertreibung der Öffentlichkeit mitteilen zu können, Traumata, die im ganzen Werk des in Niederösterreich gelandeten, inzwischen international bekannten Malers nach wie vor nachwirken. ("Von Ikonen und Ratten - eine Banater Kindheit 1939-1949", Verlag Christian Brandstätter, Wien, 1999) Flüchtlingszüge aus dem Kosovo schließen dieses Jahrhundert ab, das in seiner ganzen Länge durch "ethnische Säuberungen", durch Vertreibungen von Menschen aus ihrer angestammten Heimat geprägt war - und immer bestanden die Kolonnen vorwiegend aus Frauen und Kindern. Die Illusion "ethnisch reiner" Territorien, aufgestachelter Haß auf die "Andersartigen", auf Menschen anderer Religion, anderer Sprache - und immer damit verbunden, die Habsucht, sich deren Vermögen anzueignen: Motive einer kaum je abreißenden Reihe von Menschenrechtsverletzungen.

Als das Jahrhundert begann, tobte in Südafrika der Krieg der Engländer gegen die Buren. Seit fast einem Jahrhundert konkurrierten sie hier miteinander in dem an Gold, Diamanten, Zuckerrohr reichen Land, aus dem die eingeborenen Buschmänner, Kaffern, Hottentotten blutig vertrieben worden waren ... Als die im offenen Kampf unerfahrenen Buren zum Partisanenkrieg übergingen, verschärften die Engländer die Kriegsführung. "Die Höfe der Buren, die mit den Rebellen in Verbindung standen, wurden zu Tausenden niedergebrannt", schreibt ein Zeitgenosse, "die Frauen und Kinder in Konzentrationslagern zusammengepfercht". 20.000 von ihnen, vor allem die Kinder, starben. Und Adolf Hitler konnte 40 Jahre später darauf hinweisen, daß die Konzentrationslager nicht von ihm erfunden worden waren.

Auch die nächste "ethnische Säuberung" erfolgte in Afrika, im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Als die Rinderherden der immer zahlreicher werdenden deutschen Farmer die der eingeborenen Herero von den Wasserstellen verdrängten, brach der Aufstand los. Auf beiden Seiten grausam geführt, mündete der Krieg in dem "großen Drama" am Waterberg: Die Scharen der Hereros, auch hier wieder vor allem Frauen und Kinder, wurden in die Wüste getrieben, wo sie verdursten sollten, und die deutsche Führung rühmte sich: "Keine Mühen, keine Entbehrungen wurden gescheut, um dem Feinde den letzten Rest seiner Widerstandskraft zu rauben. Die wasserlose Omaheke sollte vollenden, was die deutschen Waffen begonnen hatten: die Vernichtung des Hererovolkes."

Zu dieser Zeit gärte es auf dem Balkan bereits merkbar. Montenegro, Serbien, Bulgarien, aber auch Griechenland lauerten darauf, auch den Rest der europäischen Türkei untereinander aufzuteilen, war er doch von Angehörigen ihrer Völker bewohnt - aber fast nirgends mit eindeutigen Abgrenzungen voneinander. Als 1912 der erste Balkankrieg losbrach, forderten die Serben das Kosovo Polje und den Adriahafen Durazzo für sich - ohne Rücksicht auf die albanische Bevölkerung dieser Gebiete. Schon damals schrieben westliche Zeitungen von den Massakern der Serben an den "Albanesen".

Hitlers Vorläufer Der Streit um das Kosovo endete zunächst mit dem Sieg Serbien/Jugoslawiens - bis zu dessen Besetzung durch Deutschland und Italien: Das Kosovo wurde Albanien angegliedert - und die "Säuberung" verlief nun in entgegengesetzter Richtung. Die von Tito dem Territorium gewährte Autonomie wurde schließlich von Slobodan Milosevic' beseitigt ...

Im Zug der Balkankriege kam zum ersten Mal der Gedanke zum Tragen, nationale Minderheiten zu "transferieren": 1913 vereinbarten Bulgarien und das Osmanische Reich die - freiwillige - Aussiedlung der türkischen Minderheit in Bulgarien wie der bulgarischen aus Ostthrazien - Vorbild wieder für die Absiedlungen der Volksdeutschen aus Bessarabien und der Bukowina sowie der Baltendeutschen aus dem Baltikum nach dem sowjetischen Einmarsch 1940.

Als die revolutionären Jungtürken mit den europäischen Ideologien auch den Nationalismus einbrachten und von einem Großtürkischen Reich unter Einbeziehung aller Turkvölker träumten, hatten darin weder Armenier und Tscherkessen Platz noch die Griechen, die seit drei Jahrtausenden in Anatolien siedelten. Wie im zaristischen Rußland die Pogrome an den Juden, so gab es in der Türkei vor 1914 immer wieder blutige Übergriffe gegen Armenier. 1909 wurden in Adana 30.000 Armenier bestialisch ermordet.

Im April 1915 begann die systematische Vertreibung der Armenier aus Anatolien und Cilicien. Die Verluste auf Hungermärschen, durch Seuchen und Übergriffe werden von Armeniern mit zwei Millionen angegeben. Zu dieser Zeit aber amtierte als deutscher Vizekonsul in Erzurum Erwin von Scheubner-Richter, der 1923 eines der Opfer des Hitlerputsches in München wurde. Er gilt als einer der Berater Hitlers in der Frage der Vernichtung von Juden und Polen. Die vom NS-Regime angewandten Methoden gleichen weitgehend ihren türkischen Vorbildern.

Im Ersten Weltkrieg auf seiten der Mittelmächte sollte die Türkei im Frieden von Sevres die restlichen europäischen Gebiete abtreten, dazu auch das seit 1919 von Griechenland besetzte Smyrna mit seinem Hinterland und seiner starken griechischen Minderheit. General Kemal Pascha, der spätere Staatspräsident Kemal Atatürk, revoltierte, setzte in Ankara eine Gegenregierung ein und stieß mit Erfolg gegen die Griechen vor: 600.000 Griechen kommen ums Leben, 1,5 Millionen müssen ihre Heimat verlassen. Der Friedensvertrag von Lausanne besiegelt die Aussiedlung von 1,4 Millionen Griechen aus Anatolien und 380.000 Türken aus den nun griechisch gewordenen Gebieten im Norden.

Tod und "Umvolken" Waren alle diese Aktionen gegen Angehörige anderer Völker gerichtet, so kommen unter Josef Stalin Angehörige anderer Volksschichten in das Visier der Vernichtung. "Die Zahl der in den Lagern Umgekommenen überstieg die Zahl der Erschossenen etwa um das Zehnfache ... Allein in der Ukraine ließ Stalin etwa sechs Millionen Bauern absichtlich verhungern", schreibt der sowjetische Historiker Michail Voslensky.

Hitler konnte bei der Durchführung seiner Pläne auf "bewährte" Muster zurückgreifen - englische KZ, türkische Deportationen. Nur die Gaskammern waren Eigenbau. Und in so manchem neubesetzten, aus vorheriger Unfreiheit befreitem Gebiet - in Lettland, der Ukraine oder Kroatien - fand er willfährige Helfer zur Durchführung ethnischer Säuberungen, zur Abreaktion des Hasses auf "andere", auf Juden, Serben, Kommunisten. Aus den "eingegliederten Ostgebieten" sollten 7,8 Millionen Polen und 600.000 Juden verjagt und durch Balten- und Volksdeutsche sowie Südtiroler ersetzt werden. Bis 1941 wurden 800.000 Polen in das "Generalgouvernement" abgeschoben. Im Rahmen des "Generalplanes Ost" sollten innerhalb von 25 Jahren 14 Millionen "Fremdvölkische" "umgevolkt und eingedeutscht" werden.

Die Rechnung müssen nach Kriegsende die Menschen zahlen, die ihre Heimat dort verlassen müssen, wo die Sieger sich ausbreiten, sich bereichern, allein unter sich bleiben wollen. Und die nun Rache nehmen wollen an denen, die die gleiche Sprache wie die Unterdrücker sprechen.

Die Befriedigung der einstigen Verhandler über den Erfolg des "Bevölkerungstransfers" von Lausanne läßt bei den Konferenzen von Jalta und Potsdam gar nicht den Gedanken aufkommen, es wäre ein Unrecht, 14 Millionen Deutsche aus ihrer Heimat zu vertreiben. In Polen beginnen die Vertreibungsmaßnahmen noch während der Kämpfe, in der Tschechoslowakei unmittelbar nach Kriegsende, bevor noch die großen Drei die "ordnungsgemäße Überführung deutscher Bevölkerungsteile aus Ost- und Südosteuropa" verkünden.

Jugoslawien wird in Potsdam nicht erwähnt - dort hat die Entrechtung, die Verschleppung, die Einlieferung der Donauschwaben in Konzentrationslager schon im Oktober 1944 begonnen. Obwohl sich Tito-Partisanen und königstreue Cetnici als Todfeinde gegenüberstehen - in diesem Punkt sind sie einig: die Deutschen haben im Jugoslawien von morgen keine Lebensberechtigung mehr. Ihre reiche Habe verfällt dem neuen Staat - ein wesentliches Motiv für die Vertreibung. Erst 1948 werden die letzten Vernichtungslager geschlossen. Von einer halben Million Donauschwaben ist jeder sechste ums Leben gekommen. Und auch im zerfallenen Restjugoslawien denkt 40 Jahre später niemand daran, die Vertreibungsbeschlüsse von Jaice vom Herbst 1943 wenigstens rechtlich zu widerrufen.

Dreißig Jahre lang bleibt Europa von ähnlichen "ethnischen Säuberungen" verschont - nicht die Welt: Biafra, Kambodscha, Burundi. Für Kontinuität ist gesorgt. Und Slobodan Milosevic' nimmt sie für Europa wieder auf. Gibt es kein Ende?

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