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Das Land der Exulanten und Konfiskationen

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Ein Bahnhof im heutigen westböhmischen Industriegebiet. Es ist spät am Abend und die Schatten der Nacht beginnen sich langsam über die Landschaft zu legen. Die Schlote der Fabriken und die Fördertürme der Kohlengruben sind nur mehr undeutlich sichtbar. Im Hintergrund hebt sich dunkel vom Himmel das Erzgebirge ab, auf dessen Kamm jetzt wieder die alte historische Grenze 'zwischen Böhmen und Sachsen verläuft.

Die Bogenlampen werfen ein mattes Licht über Bahnsteig und Schienen. Arbeiter und andere Leute kommen und warten auf Lokalzüge, die sie nach Hause bringen sollen. Mein Schnellzug nach Prag geht erst in einer halben Stunde. Es ist schon kalt und vom Erzgebirge streicht ein frischer Wind. Nebel steigen aus den Wäldern auf und vermischen sich mit dem Kohlenstaub, der hier ständig in der Luft liegt. Ich gehe mit einem Bekannten, einem Schweizer vom Internationalen Roten Kreuz, der auch auf den Zug nach Prag wartet, langsam den Bahnsteig auf und ab. Auf dem Ende des Perrons hatte sich eine größere Anzahl von Menschen versammelt. Neugierig treten wir näher zu der Gruppe. Es sind Menschen aller Altersklassen, von Kindern angefangen bis zu Greisen. Alle haben sie am Arm die weiße Binde, das Abzeichen, das jetzt die Deutschen in der Tschechoslowakei tragen müssen. Am Rücken oder in den Händen schleppen sie irgendein Bündel, in Decken eingewickelt und mit schlechtem Spagat verschnürt. „Deutsche, die ausgewiesen werden“, sagt mein Bekannter. „Die kommen jetzt in ein Lager oder direkt zu einer Grenze. Was sie in den Koffern und Rucksäcken tragen, ist das einzige, was sie von ihrem Eigentum behalten dürfen. Alles andere ist vom Staat beschlagnahmt.“ Ich schaue verstohlen in die Gesichter der Ausgewiesenen. Wie muß Menschen zumute sein, die alles verloren haben und völliger Ungewißheit und einem schrecklichen Winter entgegengehen? Aber weder ein Ausdruck des Hasses oder der Verzweiflung noch der Angst oder der Hoffnungslosigkeit spiegelt sich in ihren Gesichtern. Mit erloschenen Augen starren sie vor sich hin. Kein Wort kommt von ihren Lippen, sie warten, als wäre es ihnen ganz gleichgültig, was mit ihnen geschieht.

„Ich komme viel herum“, sagt mein Bekannter vom Roten Kreuz, „und auf allen Bahnhöfen sieht man das gleiche Bild. Diese Gruppe da ist nur ein kleiner Bruchteil jener Menschen, die jetzt das Land verlassen müssen. Über zwei Millionen sollen ausgewiesen werden.“ Wir gehen wieder zurück. „Und die Veränderungen in der wirtschaftlichen Struktur des Landes werden ungeheuer sein“, fährt der Schweizer fort, „diese Deutschen verlieren ja auch alles Eigentum, ihr ganzer Besitz wird konfisziert und verfällt dem Staat. Gehen Sie durch die Städte der Randgebiete und Sie werden auf fast allen Geschäften die Aufschrift ,Unter nationaler Verwaltung' sehen. Und die Fabriken, die deutsches Eigentum waren, sind natürlich auch konfisziert.“ „Es verfällt heute in der Tschechoslowakei nicht nur deutsches Eigentum der Konfiskation“, sage ich und weise auf die Wände des Bahnhofes, an denen Verordnungen der Regierung angeschlagen sind. „Lesen Sie sich das durch oder vielmehr, lassen Sie sich übersetzen, was drinnen steht. Neben dem gesamten deutschen Eigentum wird auch dasjenige der Tschechen, welche als Verräter oder Kollaboranten gelten, konfisziert, und das ist nicht gar so wenig. Aber darüber hinaus beschlagnahmt der Staat heute auch die gesamte tschechische Schwerindustrie, und zur Schwerindustrie gehören nicht nur Unternehmungen wie Skoda in Pilsen oder Bata in Zun, sondern auch Unternehmungen, welche nur vier- bis fünfhundert Arbeiter haben. Diese Unternehmungen werden alle entschädigungslos enteignet. In der Landwirtschaft soll die Konfiskation folgen. Jeder Grundbesitz über 50 Hektar wird weggenommen, was bedeutet, daß auch der tschechische Großgrundbesitz unter die Enteignung fällt. Sie sehen also, die jetzigen Gesetze richten sich nicht nur gegen die Deutschen, sondern treffen auch stärkstens das tschechische Volk.“

Mein Schweizer schüttelt den Kopf. „Einmalig in der Geschichte“, murmelt er. Ich muß lächeln. „Einmalig in der Geschichte?“ sage ich. „Dann scheinen Sie dld Geschichte dieses Landes wenig zu kennen. Denn Böhmen erlebte so alle zwei bis drei Jahrhunderte eine Zeit, in der innerhalb einer Spanne von einigen Jahrzehnten eine Konfiskation auf die andere folgte und Scharen von Exulanten aus dem Lande zogen. Wir durchleben gerade eine solche Epoche. Schon nach dem ersten Weltkrieg begann sie, als der neue tschechische Staat anfing, die großen Besitzungen des böhmischen Adels zu konfiszieren, wenn auch damals noch gegen Entschädigung und im Vergleich mit den heutigen Beschlagnahmungen nur im beschränkten Ausmaß. Mit der, Aufrichtung der nationalsozialistischen Herrschaft in Böhmen ging eine neue Welle von Konfiskationen über das Land. Nicht nur das ganze, sehr umfangreiche jüdische Vermögen wurde eingezogen, sondern auch viele Besitzungen der katholischen Kirche und insbesondere der Orden und zahlreiches tschechisches Eigentum. Wieviel Menschen in dieser Zeit ins Ausland emigrierten, werden Sie ja selbst wis- sen. Tschechen, Juden und auch Deutsche verließen das Land. Was wir heute hier erleben, ist teilweise nur ein Zurückschlagen des Pendels, eine Reaktion auf diese Zeit. Vor drei Jahrhunderten geschah ähnliches wie heute.

Während des Dreißigjährigen Krieges erlebte Böhmen eine Periode der Ausweisungen und Konfiskationen. Die allgemeine Meinung ist, daß damals nur teschechisches Eigentum von den Habsburgern, den Siegern der Schlacht am Weißen Berg, beschlagnahmt wurde, eine Meinung, die nicht ganz richtig ist. Nicht richtig deshalb, weil schon zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges, zur Zeit des böhmischen Aufstandes wider die Habsburger, viele Güter kaisertreuer Adeliger von den rebellierenden Ständen konfisziert wurden, wie die Güter der Martinitz und Slavata, deren Namen Sie ja aus der Geschichte des Prager Fenstersturzes kennen. Und nicht richtig, weil nach der Schlacht am Weißen Berg nicht ausschließlich tschechischer und protestantischer Besitz konfisziert wurde, sondern das Eigentum aller jener Personen, die in irgendeiner Form an der Rebellion teilgenommen hatten. Das betraf nicht nur Tschechen, sondern auch Deutsche, und nicht nur Protestanten, sondern auch Katholiken. Sie können sich vorstellen, welche Masse von Gütern damals in der Zeit von Ende 1622 bis März 1623 aus den Händen ihrer bisherigen Besitzer in neue Hände gelangten. Gegen 90 Millionen Gulden sollen die konfiszierten Güter wert gewesen sein, die nun von Seiten des Herrschers teilweise in die Hände der treugebliebenen Adeligen, teilweise an Kirchen und Klöster und vielfach auch an kaiserliche Generale als Belohnung vergeben wurden. Aber noch eine dritte Konfiskation erlebte Böhmen während des Dreißigjährigen Krieges, als nach der Ermordung Wallensteins dessen ganzer ungeheurer Besitz und der seiner Anhänger konfisziert wurde. Ein Drittel von ganz Böhmen sollen die beschlagnahmten Güter ausgemacht haben. Wieder wurden vielfach kaiserliche Generale damit für ihre Dienste belohnt, Generale, die aus allen Windrichtungen in die kaiserliche Armee gekommen waren und nun in Böhmen seßhaft wurden und dem böhmischen Adel sein internationales Gepräge gaben.

Aber der Dreißigjährige Krieg brachte neben diesen Konfiskationen und den allgemeinen Kriegsgreueln, denen Böhmen ja besonders ausgesetzt war, noch für viele hunderttausende Bewohner Böhmens die Austreibung aus ihrer Heimat. 1621 beginnend, wurden bis 1628 jährlich immer mehr und mehr Menschen aus ihrer Heimat gewiesen, weil sie sich weigerten, die katholische Religion anzunehmen. Über ganz Europa ergossen sich damals die böhmischen Exulantenscharen. Sachsen schluckte einen großen Teil, Brandenburg nahm viele auf. Sicher sind Sie schon einmal in Berlin mit der Stadtbahn nach Potsdam gefahren und dabei durch einen Ort gekommen, der bis auf unsere Tage herauf den Namen „Nowawes“ führte, was soviel wie Neudorf heißt und eine letzte Erinnerung an eine Exulantengruppe ist, die sich dort niedergelassen hatte. Aber auch in Polen, in England und in der Schweiz traf man auf die Exulanten, kein antikaiserliches Heer gab es damals, in dem sie nicht dienten, kein Land, in dem sie nicht versuchten, als Lehrer ihr Brot zu verdienen. Denken Sie an das Grabmal in Amsterdam, in welchem der berühmteste dieser Exulanten, Jan Arnos Comenius ruht.“

Unsere Unterhaltung wurde unterbrochen. Der Lautsprecher verkündet kreischend, daß der Schnellzug nach Prag zehn Minuten Verspätung haben werde. Idi dachte an die Zugsverhältnisse in Österreich und mußte lachen, daß man zehn Minuten Verspätung überhaupt der Erwähnung wert fand. Der Herr aus der Schweiz frug riadi dem Grund meines Lachens. Ich sagte es ihm. „Ja, die Tschechoslowakei hat viel Kohle im Ver-gleidi zu österreidi, da kann sich der Verkehr natürlich leichter abwickeln, aber“, fuhr mein Bekannter fort, „erzählen Sie mir noch was von Konfiskationen und Exulanten in Böhmen.“ „Es ist nicht mehr viel zu erzählen“, erwiderte ich. „Nur einige Worte will ich noch über die Hussitenzeit sprechen, als einer Zeit, in der es auch zahllose Konfiskationen in Böhmen und viele Flüchtlinge aus diesem Lande gab. Richteten sich die Maßnahmen während des Dreißigjährigen Krieges vielfach gegen Protestanten und gegel Tschechen, so während der Hussitenzeit hauptsächlich gegen Katholiken und Deutsche. Sehen Sie in dieser Richtung herunter. Ein paar Stationen von hier liegt Komotau. Dort wurden im Jahre 1421 sämtliche männliche Einwohner von den Hussiten erschlagen, mit Ausnahme von dreißig, welche die Erschlagenen begraben mußten. Und ähnlich wird es mit andern Städten gegangen sein, welche in die Hände der Hussiten fielen. Nur ein kleiner Teil der Deut-sdien war über die Hussitenzeit im Land geblieben. Ein großer Teil war erschlagen worden, ein großer Teil durch die Wälder und über das Gebirge aus dem Land geflohen, nach Sachsen und in die übrigen umliegenden Länder. Was damals von den Hus-siten konfisziert wurde, kann kaum heute alles erfaßt werden. Neben vielen Gütern der damals sehr reichen katholischen Kirche sicher auch das Eigentum fast aller Deutschen, welche besonders in den Städten großen Reichtum besaßen. Bezeichnend ist ein Erlaß König Sigismunds von Böhmen, des Luxemburgers, aus dem Jahre 1436 an die Stadt Prag und die übrigen Städte des Landes, in dem er ihnen versichert, daß sie nie gezwungen würden, die geflüchteten Deutschen wieder aufzunehmen und ihnen ihr Eigentum wieder zurückzustellen.“

Unsere Unterhaltung wurde wieder unterbrochen. Einige offene Waggons, wie sie sonst zum Transport von Kohle verwendet werden, wurden auf einem Nebengeleise hereingeschoben. Dann ertönte irgendwoher ein Pfiff und die Deutschen begannen langsam und schweigend auf die Waggons zu klettern. Ein Personenzug fuhr in die Station ein und hielt. Menschen strömten aus den Waggons, andere drängten sich an die Türen, um wieder hineinzugelangen, Türen wurden zugeschlagen, Leute rannten hin und her, um noch einen Platz zu ergattern. Dann kam der Beamte mit dem Befehlsstab und ging nach vorn. Aber er gab kein Zeichen, sondern wartete, wartete recht lang. Endlich hob er den Stab, der Zug rollte aus dem Bahnhof. Da sah ich erst, daß die offenen Waggons mit den Exulanten an den Zug angehängt worden waren und mit ihm in die Nacht hinausfuhren.

Sdiweigend warteten wir auf unsern Zug.

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