Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Nationalismus. Aus zwei Weltkriegen klug geworden, so glaubten wir, hätte das alte Europa den nationalen Ungeist für immer begraben. Aber das war ein Trugschluss. Am helllichten Tage, als das Ende aller Geschichte und Klassenkämpfe bereits heraufgedämmert war, ist er aus seiner Gruft gestiegen und sucht nun wieder den Kontinent heim.
Wie fast jede Ideologie der Gegenwart ist auch dieser Wiedergänger eine Ausgeburt des "langen 19. Jahrhunderts", das mit der Französischen und Industriellen Revolution begann und mit dem Ersten Weltkrieg endete. In diesen rund 125 Jahren geschah die "Verwandlung der Welt", so ein Buchtitel: die Umwälzung aller gesellschaftlichen Verhältnisse, die ausgehend von Europa schließlich die ganze Erde erfasste. Im 19. Jahrhundert wurde nicht nur die moderne Welt erschaffen, sondern auch die Begriffe, mit denen wir sie zu beschreiben pflegen: Schlüsselbegriffe der Gegenwart wie Staat, Volk, Demokratie, Geschichte, Familie erhielten während dieser "Sattelzeit"(Reinhart Koselleck) ihren heutigen Sinn; andere wurden überhaupt erst geprägt, zum Beispiel Industrie, Kapitalismus oder eben Nationalismus, und verweisen damit auf umstürzend Neues, das im langen 19. Jahrhundert in die Welt kam.
Die Mobilisierung der Massen
1848 war es mit der Revolution in Europa scheinbar vorbei. Doch in Wahrheit nahm die große gesellschaftliche Umwälzung nun erst richtig Fahrt auf. Eisenbahnen, Schifffahrtslinien und Telegrafenleitungen überzogen in immer dichteren Netzen den Globus. Die Förderung von Kohle und die Produktion von Eisen, später Stahl, stiegen rasant. Millionen Menschen verließen ihre angestammten Wohnsitze, wanderten in die wachsenden Industriezentren oder nach Übersee aus. Die Mobilisierung der Massen veränderte auch die politischen Systeme. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bildete sich das heraus, was wir heute gemeinhin mit Demokratie gleichsetzen: die mögliche Teilhabe aller (zunächst jedoch nur männlichen) Staatsbürger am politischen Prozess mittels Wahlen, Massenmedien und Parteien. Damals entstand der Nationalstaat als politische Organisationsform einer (idealerweise) kulturell homogenen Volkswirtschaft, die mit anderen Gemeinwesen in ständigem Konkurrenzkampf steht. Dieses Modell erwies sich als derart durchschlagskräftig, dass es allen älteren Herrschaftsformen - so auch dem Habsburgerreich - über kurz oder lang den Garaus machte und den alten Liberalismus einen "seltsamen Tod"(George Dangerfield) sterben ließ.
In den eisernen Klammern des Nationalstaats und seiner Ideologie schien die ungeheure soziale Dynamik, die sich in den beiden Revolutionen entfesselt hatte, endlich gebändigt. Die vielfältigen Widersprüche zwischen den Menschen und Klassen, die die Revolutionen nicht etwa aufgehoben, sondern verschärft hatten, waren in der Nation auf wundersame Weise befriedet - mit phänomenalen Effekten für die Wirtschaft, die zwischen 1850 und 1914 (trotz einer Depression in den Siebziger und Achtziger Jahren) einen weltweiten Boom erlebte. Die kulturelle Hochblüte in Europa am Ende dieses Booms, in den Jahrzehnten vor und nach 1900, wird gern als Belle Époque verklärt, als Spätsommer des bürgerlichen Zeitalters, den Autoren wie Stefan Zweig ("Die Welt von Gestern") und Florian Illies ("1913") kunstvoll beschworen haben.
Wenn sich der konservative Mainstream von heute nach der guten alten Zeit zurücksehnt, hat er letztlich die Belle Époque im Sinn oder, wenn ihm diese bereits zu angekränkelt scheint von Dekadenz, die robustere "Gründerzeit" davor. "Wer nicht vor 1914 geboren ist, weiß nicht, was ein gutes Leben ist." Solche Aussagen hat der Autor dieses Artikels noch von seinen Großeltern gehört. Der Vorstellungshorizont der meisten "Konservativen" dürfte daher im späten 19. Jahrhundert enden - in einer Welt, als unaufhörlicher wirtschaftlicher Fortschritt scheinbar mit gesellschaftspolitischer Stabilität einherging, als oben und unten noch ebenso klar geschieden waren wie Mann und Frau oder Weiß und Schwarz.
Der Erste Weltkrieg zerstörte die vermeintliche Idylle jäh und für immer. Doch er war kein "Unglück" und war auch nicht allein der Torheit der Regierenden geschuldet, sondern ging aus der Rivalität der europäischen Nationalstaaten hervor, die seit Jahr und Tag auf einen Krieg zusteuerten und gewaltige Waffenarsenale angelegt hatten. Ihre Rivalität hatten die Staaten von den alteuropäischen Reichen geerbt, aus denen sie hervorgegangen waren; sie lag aber auch in der Dynamik des Nationalstaats begründet, innere gesellschaftliche Widersprüche in äußere Konflikte zu übersetzen. Zusammen mit der ökonomischen Expansion Europas, die sich damals anschickte, den Erdball total zu erfassen, ergab das ein explosives Gemisch.
Imperialistische Strategien
Lange waren die europäischen Volkswirtschaften gewachsen, indem sie sich - teils durch britische Vermittlung -den Globus mit seinen Rohstoffen und Märkten einverleibten, fremde Länder und Völker ihren Interessen unterwarfen und die eigene überschüssige Bevölkerung nach Übersee exportierten. Doch gegen Ende des 19. Jahrhunderts war der Kuchen bis auf ein paar Krümel verteilt, sodass Gewinne nur noch zu Lasten der anderen Spieler zu erzielen waren. 1914 war daher anders als die "Sattelzeit" keine historische Zäsur, kein Epochenjahr, das zwei strukturell verschiedene Abschnitte der Weltgeschichte voneinander scheidet, sondern nur der Beginn einer neuen Phase, die durch staatlich organisierte Gewaltexzesse beispiellosen Ausmaßes geprägt war. Auch später gab es keine "Stunde 0". So gesehen ist das 19. Jahrhundert bis heute nicht zu Ende.
Die Geschichte wiederholt sich nicht. Aber ähnliche gesellschaftliche Strukturen bedingen ähnliche Wahrscheinlichkeiten für kontingente historische Ereignisse. Die politisch-ökonomische Makrostruktur des Globus hat sich seit 1914 nicht geändert. Wir leben noch immer in einer Welt, in der nationalstaatlich verfasste Volkswirtschaften miteinander konkurrieren und die mächtigeren unter ihnen - namentlich die USA, China, Russland -imperialistische Strategien verfolgen, die UN hin oder her.
Die Europäische Union als halbherziger Gegenentwurf hat es zunehmend schwer, sich in einer solchen Welt zu behaupten. Wie die Vielvölkerreiche des 19. Jahrhunderts sieht sie sich steigendem Legitimationsdruck ausgesetzt, unter dem sie in ihre nationalen Bestandteile zerfallen könnte. Historische Bildung ist ein möglicher Weg, dem Gespenst des Nationalismus und seinen Trugbildern von einer goldenen Vergangenheit nicht auf den Leim zu gehen. Das lange 19. Jahrhundert verdient in diesem Zusammenhang besonderes Studium. Unlängst ist eine Überblicksdarstellung des britischen Historikers Richard J. Evans auf Deutsch erschienen, "Das europäische Jahrhundert". Sie erzählt vieles von dem, was oben skizziert wurde, und noch manches mehr. Als Teil einer Reihe des Penguin-Verlags beschneidet sie das 19. Jahrhundert jedoch auf die Zeit zwischen 1815 (Napoleons Sturz) und 1914. Das ist ein erhebliches Manko, denn ohne die Doppelrevolution um 1800 ist alles Folgende nicht wirklich zu verstehen. Evans verzichtet zudem auf eine ordnende These, er erzählt einfach, was passiert ist. So zieht ein Jahrhundert vor dem Leser oder der Leserin vorbei, ohne dass ein Bezug zu den Problemen der Gegenwart erfahrbar wird. Den Nationalismus erklärt der britische Verfasser gar für obsolet und überwunden. Er hatte das Buch im Mai 2016 fertig, einen Monat vor dem Brexit-Votum. Historiker sind eben keine Propheten.
Anstelle dieser Neuerscheinung sei daher das Werk eines anderen britischen Autors empfohlen: Eric Hobsbawms 1962,1975 und 1987 erschienene Trilogie über das "lange 19. Jahrhundert" - eine Bezeichnung, die Hobsbawm selbst geprägt hat. Diese Trilogie gehört -neben Jürgen Osterhammels "Verwandlung der Welt" - noch immer zum Erhellendsten, was man über die Geschichte dieser so dramatischen und bis heute folgenreichen Zeit lesen kann.
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