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Das neue Menschheitsproblem

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Die Medizin hat uns — in Verbindung mit der Sozialpolitik und Pensionssicherung — ein neues Problem beschert: die breite Schicht des Alters. Die mittlere Lebensanwartschaft des Europäers, die zu Beginn der Neuzeit ungefähr 20 Jahre betragen hatte, stieg von 34 Jahren um 1900 auf 54 vor dem Weltkrieg 1938 bis 1945 und nähert sich nunmehr 60 Jahren. Die Dichtigkeit der alten Leute wird zum internationalen Problem; in der Schweiz zum Beispiel waren im Jahre 1900 nur 38% der Gestorbenen über 60 Jahre, 1940 waren es 62,9%, und die über 65 Jahre Alten machten 1950 insgesamt 9,4% der Bevölkerung, in Zürich sogar 11,9% (gegenüber 5,9% im Jahre 1900), aus. Die USA gaben kürzlich 8% der Bevölkerung als über 65 Jahre alt an, während England über 10% im Pensionsalter nennt, das dort für Männer mit 65 und für Frauen mit 60 Jahren gegeben ist und schätzungsweise in 30 Jahren mit 20% Pensionisten rechnet. In Österreich betrug die Zahl der über 65jährigen schon vor 1938 über 8% der Gesamtbevölkerung, und Wien zählte 1939 über 100.000, also fast 6%, die das 70. Lebensjahr überschritten hatten.

Diese Hinweise dürfen nicht als Lebensvorwurf gegen die Altgewordenen mißverstanden werden, sondern stellen ein ernstes Anliegen der Sorgepflicht dar. Je älter man wird, desto größer wird die Hilfsbedürftigkeit. Die Jahrgänge mit den zahlreichsten Sterbefällen waren 1947 die vom 60. bis 80., besonders die vom 65. bis 78. Lebensjahr. Selbst in der bessergestellten Schweiz waren mindestens 4 bis 5% der über 60jährigen ausgesprochen anstaltsbedürftig, und in England sind 71% der chronisch Kranken über 65 Jahre. In New York waren 1950 in den öffentlichen Spitälern 22,5%, in den Privatspitälern 20% der Betten mit Siechen und alten Leuten belegt — ein Spitalsproblem, das ja auch in Wien seit einigen Jahren zu schaffen macht. Andererseits aber muß man annehmen, daß mindestens ein Achtel detr alten Leute, die zu Hause leben, völlig einsam und verlassen hausen, so daß sie vor Zwischenfällen ungeschützt und im Krankheitsfall unbetreut sind. Der Ausbau der Anstaltsfürsorge wird immer dringlicher. Obwohl zum Beispiel die englische Regierung seit 1945 über 300 Altersheime mit über 8000 Betten errichten ließ, herrscht dort noch empfindlicher Heimmangel. Die USA müßten 258.000 Betten neu erstellen, um das Soll zu erreichen, das — bei einem Gesamtsoll von neun Betten pro 1000 Einwohner für die Gesundheitsfürsorge überhaupt — zwei Betten pro 1000 Einwohner für Alte und Sieche erfordert. In Wien haben wir dieses theoretische Mindestsoll — dank Lueger — zwar erreicht, mit 19 Anstalten der Altersfürsorge (1947), und 6575 Betten, davon sechs Anstalten (5601 Betten) städtisch und 13 (974) privat. Aber jedermann weiß, daß selbst das praktisch längst nicht genügt, weil bei uns durch die Wohnungsnot, durch die Zerstörung des Hausrates bei den Bombardierungen, durch den Geburtenausfall oder Kriegstod der sorgepflichtigen Kinder und durch die Abwertung aller Ersparnisse und Renten, die Selbstversorgung der alten Laute in ihren Eigenwohnungen ungewöhnlich erschwert ist.

Wir haben in Österreich zusätzlich 43 katholische Privatkrankenhäuser mit 6750 Betten, die erfahrungsgemäß einen starken Prozentsatz von chronisch Erkrankten und älteren Patienten aufnehmen, gegen die sich speziell Kliniken reservierter halten. Allerdings zwingt uns die Politik der Krankenkassen, deren durchschnittliche Verpflegs- dauer derart herunterzudrücken, daß sie derzeit in den Privatspitäleim bei zirka 12 Tagen (gegenüber 20 Tagen in den öffentlichen Krankenhäusern) steht. In der eigentlichen Altersfürsorge gibt es in Österreich außerdem 59 katholische caritative Anstalten mit 3296 Betten. Schließlich ist es eine caritative Leistung, die nicht unterschätzt werden darf, wenn unsere Ordensschwestern in Hunderten von öffentlichen Altersheimen, Siechenhäusem und Pflegeanstalten schon seit Jahrzehnten den Pflegedienst verrichten. Wenn wir uns den derzeitigen Anstaltsbelag näher ansehen, so hatten zum Beispiel die 19 Wiener Altersheime 1947 einen Bestand von insgesamt 11.052 Pfleglingen. Dabei fällt das starke Übergewicht an Frauen (7435 gegenüber 3617 Männern) auf — in den Anstalten um 100%, während das weibliche Geschlecht in den älteren Jahrgängen sonst nur um zirka 20% überwiegt. Der größte Teil der Insassen ist verwitwet oder ledig, nur 817 waren verheiratet. Meistens handelt es sich um frühere Ehefrauen, die nun verwitwet und — angesichts der geringen Kinderzahl der Wiener Familie — familienlos leben. Es fällt auf, daß durchschnittlich zwei Pfleglinge pro Bett und Jahr entfallen und die mittlere Verpflegs- dauer nur 188 Tage beträgt, während etwa Lyon einen Durchschnitt von vier Jahren meldet. Darin drückt sich nicht nur eine höhere Sterblichkeit beziehungsweise ein möglichst später Anstaltseintritt aus, sondern auch eine gewisse Angst vor dem Altersheim.

Worin ist sie begründet? Unser Besitz ist unser Nachteil; unsere Anstalten sind meist Jahrzehnte, mitunter sogar Jahrhunderte alt und selbst als Spitäler bekanntlich vielfach rückständig. Einen Bau, wie das neue Züricher Kantonsspital mit einem Kostenaufwand von 96 Millionen Schweizer Franken, also über 650 Millionen Schilling für nur 1400 Betten, so daß das Bett fast auf eine halbe Million kommt, und mit einem Angestelltenstand von 1420 (also 1 : 1) wird sich

Österreich nie leisten können. Zweifellos ist unser Anstaltssystem aber recht veraltet, und es war in den letzten Jahren schon wegen der überschweren Steuerlasten unmöglich, es gründlich zu erneuern; die caritativen Orden hätten sich leichter getan, wenn sie Sessellifte oder auch kostspielige „Kinderdörfer" errichtet hätten, als sich mit ihren Schützlingen durch diese harte Zeit hindurchzusorgen. Dabei tun wir uns mit manchen Problemen des Altersheimes leichter, weil unsere caritativen Anstalten keine Großbetriebe sind — Bettenzahl unserer katholischen Altersheime durchschnittlich 56, in Wien 75 —, die sich psychologisch natürlich vor größere Belastungen und Aufgaben gestellt sehen. Andererseits dürfen wir über unseren Anstaltssorgen nicht die Vielen vergessen, die außerhalb derselben sind — oft in größter Verlassenheit und Hilflosigkeit.

So wird sich auch die Öffentlichkeit Österreichs mit diesem, stets an Umfang und Schärfe zunehmenden Problem beschäftigen müssen. Deshalb war es zu bedauern, daß sich zu den diesbezüglichen Beratungen des VII. Internationalen Krankenhauskongresses in Brüssel — außer mir — kein Vertreter unseres Landes einfand. Der Ordensrat der weiblichen Ordensgenossenschaften Österreichs hat sich bei sednen kürzlichen Oberinnentagungen und bei seiner Ökonominenkonferenz bereits eingehend mit diesem Anliegen befaßt. Die österreichische Caritas - Zeitschrift bringt demnächst eine Zusammenstellung der praktischen Folgerungen, die sich hiezu ergeben. Die Interessengemeinschaft der katholischen caritativen Anstalten und Heime (Vorort Linz), die über 240 Häuser vertritt, wird die wirtschaftliche Seite des nötigen Ausbaues der caritativen Altersfürsorge studieren und fördern müssen, wie sich die nächste Zusammenkunft der Generaloberinnen unserer Schwesternorden mit der Personalbeistellung beschäftigen solltd. Es wäre zu wünschen, daß die staatlichen Behörden eher Anreiz und Erleichterung zur Einrichtung von Altersheimen bieten, als den allgemeinen

Existenzkampf der caritativen Anstalten noch verschärfen, über den fürsorgerischen Arbeiten sollten jedoch auch die a 11 e r s ps y c h o 1 o g i s c h e n und sozialpolitischen Anliegen der fortschreitenden Alterung unseres Volkes nicht übersehen werden. Rentenerhöhung wie Pensionsstillegung — beide werden auf einer anderen Ebene als des Parteienzankes neu gesehen werden müssen. Vor allem werden die mittleren Jahrgänge selber ihre Ehe- und Familiengestaltung mehr auf die Tatsache abstellen müssen, daß sie in Bälde einer überdichten Altersschichte angehören werden, deren Notstand auch der reichste Staat durch eine Altersrente nicht wird meistem können, deren Sorgepflicht vielmehr naturgemäß vor allem den eigenen Kindern zusteht, die dann hoffentlich — vorhanden und dafür vorgeformt sind.

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