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Das neue Verfassungsrecht der Vereinigten Staaten

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Eines der hervorstechendsten Merkmale der amerikanischen Verfassung ist ihr Alter. Obwohl die United States ein verhältnismäßig junges Staatswesen sind, ist ihre Verfassung das älteste derartige zur Zeit in Kraft befindliche Dokument. Diese Langlebigkeit verdankt sie zum großen Teil der Art, in der sie durch Auslegung gewachsen ist. Wohl wurden der Verfassung seit ihrem Inkrafttreten 1789 nur wenige formelle Ergänzungen („Amendments“) hinzugefügt, doch hat sie verschiedene Erweiterungsprozesse durchgemacht, die sie den veränderten Bedingungen und neuen Bedürfnissen anpassen sollten. In diesem Vorgang finden wir eine gewisse Erinnerung an Iherings „Naturgesetz vom wechselnden Gehalt“. Blieb die ursprüngliche Verfassung auch unversehrt erhalten,' so wurde doch die Bedeutung vieler ihrer Bestimmungen abgeändert oder erweitert, je nachdem es die wechselnden Verhältnisse des amerikanischen Lebens verlangten.

So ist die Verfassung nicht nur stets das grundlegende Gesetz des Landes geblieben; sie wurde auch zu einem immer wirksameren und volkstümlicheren Instrument der Regierung. Ihre Anpassungsfähigkeit bedeutete nicht Schwäche, sondern Stärke.

Dieser Prozeß der Auslegung und Ausdehnung wurde auf mancherlei Weise und durch verschiedene Körperschaften durchgeführt. Das Aufwachsen politischer Parteien, die Methoden der Gesetzgebung und die von den einzelnen Zweigen der Regierung entwickelten Gewohnheiten haben dazu beigetragen. Die letzte gesetzliche Instanz aber war der Oberste Gerichtshof („Supreme Court“), der durch die Auslegung der Rechte der Bundesregierung wie jener der Regierungen der Einzelstaaten weitgehend die Verfassungsentwicklung bestimmt hat.

Gewiß war der Oberste Gerichtshof zunächst durchaus nicht immer bereit, Anträge des Kongresses zu billigen, die die Rechte oder die Funktionen der Bundesregierung vermehrten. Seit seinem Bestände hat er in 80 Fällen vom Kongreß beschlossene Gesetze, Gesetzesteile oder Gesetzesauslegungen für verfassungswidrig und nichtig und in 700 Fällen Gesetze oder Abschnitte aus der Gesetzgebung der E i n-zelstaaten für ungültig erklärt. Doch waren von den bis 1935 aufgehobenen 67 vom Kongreß beschlossenen Gesetzen oder Gesetzesteilen nur wenige von großer oder wirklich allgemeiner Bedeutung gewesen. In den sechs bedeutenderen Fällen waren die durchwegs ausgesprochen konservativen Entscheidungen des Gerichtshofes einer scharfen und eingehenden Kritik unterworfen worden.

Die Jahre 1935/36 brachten dann die in der amerikanischen Rechtsgeschichte bedeutsamste Gruppe von Fällen des sogenannten „gerichtlichen Vetos“ („judicial Veto“). In einem Zeitabschnitt von 17 Monaten traf der Oberste Gerichtshof zwölf Entscheidungen, die den größten Teil der New-Deal-Gesetzgebung außer Kraft setzten. Der vom Kongreß unter der Führung des Präsidenten Roosevelt unternommene Versuch, einerseits die Folgen der wirtschaftlichen Depression — Arbeitslosigkeit, Geschäfts-, Farm- und Gemeindebankrotte und Überproduktion — zu beheben, andererseits den Wirkungskreis verschiedener früherer Reformen zur Überwachung der Arbeitsbedingungen und der Geschäftspraktiken auszudehnen, wurde als verfassungswidrig erklärt. Die bedeutsamsten dieser Entscheidungen betrafen die Gesetze betreffend die industrielle Sanierung,“ Eisen-bahnerpensionen, die Farmergrundentschuldung, das landwirtschaftliche Ausgleichs-, das Weichkohle- und das Gemeindebankrottgesetz.

In dieser wichtigen Reihe von Fällen stützte sich der Oberste Gerichtshof nicht nur auf eine einzige Bestimmung der Verfassung. Die Paragraphen, die die Delegierung der gesetzgebenden Gewalt und die Beraubung von Freiheit und Eigentum ohne rechtmäßiges Verfahren verboten, wurden angewendet, während die Verfassungsbestimmungen, die den Kongreß ermächtigen, Steuern einzuheben, Ausgaben für die öffentliche Wohlfahrt zu machen, den Handel zwischen den Einzelstaatcn zu regeln, den Wert des Geldes festzusetzen und Bankrottgesetze einzubringen, alle in einem einschränkenden Sinn ausgelegt wurden. Einen weiteren Beweis für die besonders konservative Haltung der Mehrheit des Gerichtshofes (mehr als die Hälfte der Fälle wurde durch ein 5 :4- oder 6 : 3-Votum entschieden) brachten zwei Entscheidungen, in denen die Gesetzgebung von Einzelstaaten aufgehoben wurde. Das eine dieser

Judik'ate erklärte, mit Hilfe einer neuartigen

Auslegung der Immunitätsklausel des 14. Amendments ein staatliches Steuergesetz für ungültig, während die andere behauptete, daß ein Einzelstaat durch die Festsetzung von Mindestlöhnen für in Fabriken beschäftigte Frauen die Klausel des „rechtmäßigen Verfahrens“ verletze.

So vertrat der Oberste Gerichtshof die Ansicht, daß durch die Bundesgesetzgebung die wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen und Ursachen einer großen nationalen Depression nicht behoben werden könnten. Ein friedlicher, konstitutioneller Wandel erschien in dieser Situation nahezu unmöglich; und doch wurden in weniger als einem Jahr, ohne Gewalt oder Verfassungsänderung die einschränkenden Entscheidungen der Jahre 1935/36 entweder abgeändert oder ihre Modifikation war zumindest in Sicht. Innerhalb von drei Jahren war eine friedliche, verfas-sungsmäßigeRevolution durchgeführt worden — und zwar durch den Obersten Gerichtshof selbst.

Die Größe des Obersten Gerichtshofes wird durch den Kongreß, nicht durch die Verfassung bestimmt. So bestand er ursprünglich aus sechs Mitgliedern, später aus sieben, im Laufe der Geschichte meistens aus neun und nur kurze Zeit unter Lincoln aus zehn Mitgliedern. Kurz nachdem Präsident Roosevelt im Februar 1937 zum zweitenmal sein Amt angetreten hatte, legte er dem Kongreß einen Gesetzentwurf über die Reform der Bundesgerichtshöfe vor. Der den Obersten Gerichtshof betreffende Abschnitt hätte dem Präsidenten der US die Macht verliehen, für jeden über 70 Jahre alten Richter des Supreme Court, der aus dem Dienst schied, einen zusätzlichen Richter zu bestellen. Als Begründung wurde angeführt, daß der Gerichtshof wegen des hohen Alters so vieler Richter starke Rückstände in seinem Arbeitspensum aufweise. Der wahre Grund für Roosevelts Antrag war ein anderer: Der Gerichtshof war gar nicht besonders im Rückstand, aber der Präsident sah in der konservativen Tendenz der bisherigen Entscheidungen des Gerichtshofes ein Hindernis für den weiteren Ausbau der sozialen Gesetzgebung.

Roosevelts Reformplan für den Obersten Gerichtshof erlitt im Kongreß eine Niederlage deshalb, weil der Oberste Gerichtshof inzwischen mit neueren Entscheidungen seine frühere Haltung aufgegeben hatte. So bestätigte der Gerichtshof, im Widerspruch zu einer zehn Monate früher erflossenen Entscheidung, ein Gesetz des Staates Washington, das Mindestlöhne für arbeitende Frauen festsetzte. In der Zwischenzeit war weder eine Neuernennung erfolgt, noch hatten die Richter ihre Meinung geändert — bis auf einen, Richter Roberts, dessen Übertritt von der konservativen zur sozialfortschrittlichen Seite genügte, um einen völligen Wechsel im Verfassun.gsrecht herbeizuführen.

Im April 1937 bestätigte der Oberste Gerichtshof das Nationale Arbeitsverhältois-gesetz — wieder durch ein 5 :4-Votum. Keiye der früheren Entsdicidungen wurde ausdrücklich widerrufen, doch stand die Entscheidung in offensichtlichem Widerspruch zu der 1935/36 öfter erfolgten Auslegung der Verfassungsbestimmung, die den Kongreß zur Regelung des Handels zwischen den Einzelstaaten ermächtigt. In aufeinanderfolgenden Entscheidungen bestätigte dann der Gerichtshof die Gesetze betreffend Alters- und Arbeitslosenversicherung, die Regelung landwirtschaftlicher und großstädtischer Milchmärkte, die Regelung der Arbeitszeit und Mindestlöhne sowie die Aufsicht über Gesellschaften öffentlichen Nutzens. Er stimmte auch der Bundeskontrolle schiffbarer Flüsse zu und sicherte das große Werk der Tennessee Valley Autho-rity, durch seine Weigerung, hier auf die Frage der Verfassungsmäßigkeit einzugehen.

Man könnte nach dem Anschein meinen, daß heute das „gerichtliche Veto“ nicht mehr besteht und das amerikanische Verfassungsrecht jetzt ausschließlich vom Kongreß geschaffen wird. Dies trifft nicht zu.

Der Gerichtshof ist jetzt nach am e r i k anischer Auffassung-das fortschrittlichste Organ der Staatsführung. Zugleich aber bleibt er auch weiterhin der Hüter der Verfassung. Nur wird eben jetzt eine soziale Gesetzgebung nicht mehr für verfassungswidrig erklärt, weil sie den Wirtschaftsinteressen'einzelner Gruppen unannehmbar erscheint. Das gilt sowohl für die Bundesgesetzgebung, wie für die der Einzelstaaten.

Zur selben Zeit war der Gerichtshof stärker als jemals zuvor in seiner Geschichte darauf bedacht, die bürgerlichen Rechte religiöser, politischer und wirtschaftlicher Gruppen zu schützen. Der unmittelbare Nutznießer der meisten seiner Entscheidungen zugunsten religiöser Minderheiten war die unter dem Namen der „Zeugen Jehovahs“ bekannte Sekte, und hier war keiner der Richter eifriger als Richter Murphy, ein überzeugter Katholik. Der Rahmen dieser Entscheidungen wird ja immer weit genug sein, um alle religiösen Gruppen zu umfassen. Ähnlich können auch Entscheidungen zum Schutz der Gewerkschaften auf alle ähnlichen Gemeinschaften angewandt werden. Entscheidungen, die die Redefreiheit —

das Recht der abweichenden

Meinung und der Kritik — sichern, finden sich in Fällen aus der Kriegs- wie aus der Friedenszeit und die dadurch geschützten Personen gehören sowohl der äußersten Linken wie der äußersten Rechten an.

Auf diese Weise vollzog sich in den Vereinigten Staaten in den letzten zehn Jahren ein Wandel der Auslegung, der weder dem Gerichtshof neue Vollmachten verlieh, noch der Verfassung neue Bestimmungen hinzufügte. Schließlich aber wurde sowohl die Macht des Kongresses wie die der einzelstaatlichen Gesetzgebung erweitert — außer in der so lebenswichtigen Sphäre der bürgerlichen Rechte. Hier wurde der Schutz der Freiheit der Gemeinschaften und Einzelindividuen verstärkt. Zugleich aber wurde den gesetzgebenden Körperschaften ein weit größerer Wirkungskreis in der Behandlung schwer-wiegender sozialer und wirtschaftlicher Fragen eingeräumt, als dies seit einem Jahrhundert der Fall gewesen war.

So hat der Oberste Gerichtshof die Verantwortung auf sich genommen, die bestehenden Bestimmungen der Verfassung den Bedürfnissen einer hochentwickelten und industrialisierten Gesellschaft anzupassen.

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