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Das österreichische Drama

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Ein besonderes Kapitel widmet Churchill der Vergewaltigung Österreichs. Bei dieser Darstellung lehnt er sich zum Teil an die Zeugenaussagen in Nürnberg, an Schuschniggs „Requiem in Rot-Weiß-Rot“ und an das Tagebuch Jodis an. Um zu beweisen, daß damals eine gemeinsame militärische Aktion Frankreichs,der Tschechoslowakei und Jugoslawiens nicht aussichtslos gewesen wäre, stellt er fest, daß, wiewohl diese Aktion „Otto“ von der deutschen Generalität längst vorbereitet worden war, die deutsche Kriegsmaschine nur „schwankend über die Grenze rumpelte und in der Nähe von Linz zum Stillstand kam“, so daß die Panzer aus dein Gewirr herausgeholt und auf die Bahn verladen werden mußten. Gerade an jenem Tage war Churchill zu einem Abschiedsessen geladen, das Chamberlain in Downing Street dem von einem Posten abberufenen Botschafter Ribbentrop und dessen Gattin gab. Während des Essens wurde Chamberlain die Nachricht von dem Einmarsch der Nazi in Österreich überbracht. Auf ein Zeichen des Premierministers erhob sich Mrs. Chamberlain sehr bald und schlug gegen die englische Gewohnheit vor, daß die Damen und Herren gemeinsam den Kaffee im Salon nehmen sollten. Die Ribbentrops bemerkten nicht, daß ihre Gastgeber die Gesellschaft möglichst rasch za beenden wünschten. „Ich bin überzeugt“, fährt Churchill in seiner Darstellung fort,

„daß beide genau wußten, was inzwischen vorging, und es für ein geschicktes Manöver hielten, den Premierminister von seiner Arbeit und vom Telephon fernzuhalten. Schließlich sagte Chamberlain zum Botschafter: ,Ich muß nun leider gehen und mich mit dringenden Geschäften befassen“, und verließ den Raum ohne weitere Umstände. Die Ribbentrops zögerten weiter, so daß die meisten von uns sich entschuldigten und nach Hause gingen. Zu guter Letzt müssen auch sie sich wohl verabschiedet haben. An diesem Tage sah ich Ribbentrop zum letztenmal, bevor er gehängt wurde.“ Mit achtungsvoller Anerkennung gedenkt im Zusammenhänge Churchill des „hartnäckigen“ Widersundes, den Präsident Mik1as der Erpressung Hitlers entgegensetzte.

Die bewegte Sprache, mit der Churchill die Vergewaltigung Österreichs darstellt, steigert sich zu zornigen Ausfällen, sobald er auf den Fall der Tschechoslowakei und auf jenen Höhepunkt des Verrats an allen Verträgen, an jedem Rechtsbewußtsein, der Völkerbundsatzung und aller politischen Ehrlichkeit zu sprechen kommt, die er als die „Tragödie von München“ bezeichnet. Er zitiert alle offiziellen Versicherungen, welche die französische Regierung bis zur elften Stunde in Prag in dem Sinne abgeben ließ, daß Frankreich seine Verpflichtungen gegenüber der Tschechoslowakei als heilig ansehe und unter allen Umständen erfüllen werde. Er zerpflückt die Umgarnungen der Tschechoslowakei durch trügerische Angebote Hitlers, solange dieser sich Österreichs noch nicht bemächtigt hatte. Er berichtet über neuerliche, bisher unbekannte Schritte des russischen Botschafters in London, Maisky, die einem rechtzeitigen Einvernehmen zwischen den Großmächten zur Rettung der Tschechoslowakei dienen sollten, Anregungen, die in Downing Street in taube Ohren fielen. Er weist auf die Rede Litwinows vom 21. September 1938 itn Völkerbund hin, in der der russische Außenminister das Verschwinden Österreichs als ein für das Schicksal Europas bedeutungsvolles Ereignis bezeichnete, die Ignorierung seines Konferenzvorschlags beklagte und ohne Umschweife die Entschlossenheit des Moskauer Kriegsministeriums erklärte, mit Vertretern der französischen und tschechoslowakischen Kriegsämter sofort gemeinsame militärische Maßnahmen zum Schutze der Tschechoslowakei zu erörtern. Er gibt ein detailliertes Bild der strategischen Lage und insbesondere der militärischen Stärke der Tschechoslowakei, das die damalige Nervosität vor der Überlegenheit der deutschen Kriegsmaschine als unbegründet erscheinen läßt. Und zu allem sollte man auch annehmen, daß der britische Geheimdienst von dem gleichzeitigen Konflikt zwischen Hitler und seiner Generalität etwas erfahren haben müßte. Unter solchen Verhältnissen setzte Chamberlain in einem dreimaligen Canossagang nach Deutschland seine unwürdigen Bemühungen um ein Kompromiß mit Hitler fort. Marschall Keitel erklärte in Nürnberg, Deutschland sei im September 1938 militärisch nicht stark genug gewesen, um die Tschechoslowakei anzugreifen, wenn diese von den Westmächten unterstützt worden wäre. Eine richtige Einschätzung der Tatsachen hätte damals, sagt Churchill, dafür gesprochen, den Mahnungen der Ehre Gehör zu schenken. Im übrigen wird bei Beurteilung der Münchner Vereinbarung bisher ein anderer Umstand zu wenig ins Licht gerückt: daß der Ausschluß Rußlands, da damals Mitglied des Völkerbundes und Verbünde-

ter Frankreichs und der Tschechoslowakei war, von der Münchner Beratung in Moskau als Versuch einer Einkreisung der Sowjetunion empfunden wurde und den Ausgangspunkt für eine Orientierung Rußlands nach der deutschen Seite bilden sollte.

Dem Vordringen des nazistischen Deutschland in das Vakuum, das durch die Zerstückelung Österreich-Ungarns geschaffen wunde, ist mit dem zweiten Weltkrieg das Einrücken Rußlands in den gleichen Raum gefolgt. Diese Ereignisse scheinen Churchill veranlaßt zu haben, sein Urteil über die Bedeutung des alten Donaureiches seit der Abfassung seines Ge- »chichtswerkes über den ersten Weltkrieg wesentlich zu revidieren. Er nennt in dem nunmehr vorliegenden Buche die Zerschlagung Österreich-Ungarns durch die Verträge von St.-Germain und Trianon eine „große Tragödie“ und schreibt:

„Jahrhunderte lang hatte dieser letzte lebende Überrest des Heiligen Römischen Reiches einer großen Zahl von Völkern, zum Vorteil von Handel und Sicherheit, ein gemeinsames Leben ermöglicht, und keines dieser Völker besaß in unserer Zeit die Kraft oder Lebensenergie, um sich allein gegen den Druck eines wiederauflebenden Deutschlands oder

Rußlands zu behaupten … Es gibt keine einzige Völkerschaft oder Provinz des habsburgischen Reiches, der des Erlangen der Unabhängigkeit sticht die Qualen gebrecht hätte, wie sie von den alten Dichtern und Theologen für die Verdammten der Hölle vorgesehen sind. Die edle Hauptstadt Wien, die Heimstätte so großer, lang verteidigter Kultur und Tradition, der Knotenpunkt so vieler Straßen, Wasserwege und Bahnlinien, blieb elend und hungernd liegen wie ein mächtiges Kaufhaus in einem verarmten Viertel, dessen Bewohner zum größten Teil fortgezogen sind."

So gibt nun Churchill zu, daß sich der Kampf gegen die deutsch-magyarische Hegemonie im alten dualistischen Reiche als Kriegsparole der Alliierten im ersten Weltkriege allenfalls rechtfertigen ließ, daß aber die Zerstörung einer großen Ordnungsmacht im Donaubecken ein schwerer Fehler vom gesamteuropäischen Standpunkt war. Liegt nicht eine Parallele zu diesem Irrtum in jener Politik des zweiten Weltkriegs, die mit der Niederschlagung eines gefährlichen Gewaltregimes zugleich die zweite große Ordnungsmacht im Herzen Europas zertrümmerte?

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