6577860-1951_01_04.jpg
Digital In Arbeit

Das österreichische und europäische Antlitz Seipels

Werbung
Werbung
Werbung

Seipel hat, wenn er von der Eigenart der österreichischen Probleme sprach, wiederholt den Ausdruck „Das Antlitz Österreichs“ gebraucht. Vielleicht darf ich, wenn ich die Bedeutung Seipels für das österreichische Schicksal umreiße, mich seines Ausdrucks bedienen und von „Seipels Antlitz“ sprechen.

Der Weg Seipels zu staatsmännischem Wirken war ein ganz außergewöhnlicher. Er, am 19. Juli 1876 in Wien als Kind einer Familie aus sehr bescheidenem Milieu geboren, hatte sich dem geistlichen Beruf zugewendet. Im Jahre 1907 hatte er sich als Dozent für Moraltheologie habilitiert. Seine Habilitationsarbeit war betitelt „Die wirtschaftsethischen Lehren der Kirchenväter“. Diese Arbeit ist nicht nur durch durchsichtige Klarheit der Gedanken, sondern auch durch die geradezu klassische Sprache bemerkenswert. Inhaltlich widerlegte Seipel die Versuche, die moralischen Auffassungen des frühen Christentums in eine Wirtschaftslehre umzudeuten. Im Jahre 1917 wurde er als Hochschulprofessor an die theologische Fakultät in Salzburg berufen. Seiner politischen Gesinnung nach gehörte er selbstverständlich der Christlich-sozialen Partei an, ohne am politischen Getriebe teilzunehmen. Es erfaßten ihn jedoch als patriotischen Österreicher leidenschaftlich die nationalpolitischen Probleme der im Krieg um ihre Existenz kämpfenden übernationalen österreichischen Monarchie. Als Theoretiker rang Seipel vor allem nach Klarheit der Begriffe; dieses Ringen galt vor allem dem Problem Nation und Staat. Sein Buch, „Nation und Staat“ erschien im Jahre 1916, eine Arbeit, die, gestützt auf Auseinandersetzungen mit der zeitgenössischen Literatur, das Thema mit ungewöhnlicher Klarheit behandelte. Da-uei verlor er sich nicht allzuweit in rechtsgeschichtliche Einzelheiten, wußte jedoch die Auffassungen des Problems in den verschiedensten Lagern mit kristallheller Klarheit darzustellen. Aber Seipel blieb nicht bei der Theorie. Er gewann in Salzburg engen freundschaftlichen Kontakt mit Heinrich Lammasch, dem international bekannten österreichischen Völkerrechtslehrer, der sich nach Salzburg zurückgezogen hatte, und mit anderen geistig hervorragenden Männern, unter denen der bekannte Literat und österreichische Patriot Hermann Bahr vor allem zu nennen ist. Lammasch war, wenn er auch noch keiner Regierung angehört hatte, sowohl als Mitglied des Herrenhauses wie auch als Berater hoher Persönlichkeiten seit Jahren mit den brennenden Fragen der Umgestaltung der Monarchie befaßt worden. Jedem Streben nach persönlicher Macht fern, glühte Lammasch doch vom Verlangen, seine Person einzusetzen, wenn es möglich sein sollte, an der Verhinderung des Zerfalls Österreichs mitzuwirken. Er fand in der Schweiz Berührung mit hervoragenden Männern des Auslands.

Inzwischen hatte Seipels Werk „Nation und Staat“ über den Salzburger Kreis hinaus rasch die Aufmerksamkeit der breiten Öffentlichkeit, ohne Beschränkung auf eine Partei, erregt. Es ist nicht uninteressant, daß die Wiener sozialdemokratische „Arbeiter - Zeitung“ die erste Tageszeitung war, die „Nation und Staat“ in einer eingehenden Besprechung würdigte. Seipel selbst war in dieser Zeit ebenso wie Lammasch in der Schweiz mit Staatsmännern aus verschiedenen Ländern in Verkehr getreten, die sich mit den Problemen der Beendigung des mörderischen Krieges befaßten. Zweifellos hat schon damals seine markante Persönlichkeit Eindruck gemacht und Beachtung gefunden. Unter diesen . Umständen ist es nicht erstaunlich, daß Seipel im Oktober 1918 als Mitglied der letzten in der Monarchie gebildeten Regierung Lammasch, und zwar als Minister für soziale Fürsorge, berufen wurde. Bekanntlich ist diese Regierung nicht mehr zur fruchtbaren Wirksamkeit gelangt. Durch den Verzicht des Kaisers Karl auf die Regierungstätigkeit war der Wirksamkeit der letzten gesamtösterreicfai-schen Regierung nach 14 Tagen das Ende gesetzt. Seipel hat in diesen wenigen Tagen mit seinem Regierungschef zweifellos alles getan, um das Gerüst der alten Monarchie noch bis zu dem von ihm geplanten demokratischen Neubau auf Grund einer Föderation der Nationalitäten aufrechtzuerhalten. Es war jedoch bereits zu spät. Die Frage, ob das Schicksal der Monarchie noch hätte abgewendet werden können, wenn Männer wie Lammasch und Seipel früher ans Ruder gekommen wären, wird nie beantwortet werden können.

Wenn Seipels erstes Ziel, die Verhinderung der vollen Auflösung der alten Völkergemeinschaft in der Habsburger-monarehie, nicht mehr erreichbar war, so erblickte er die dringendste Aufgabe der Politik darin, nunmehr die kleine Republik lebensfähig zu gestalten und zu erhalten. Von diesem Gedanken erfüllt, trat Seipel ungesäumt in die politische Aktivität ein, zunächst in beTaten der Funktion innerhalb der Christlichsozialen Partei. Bei den Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung im Februar 1919 wurde er in Wien auf der christlich-sozialen Liste zum Abgeordneten gewählt. Seipel hat vom Beginn einer politischen Tätigkeit an immer die realen Grundlagen der Probleme und die erreichbaren Ziele ins Auge gefaßt und festgehalten. Des Wertes bewährter Traditionen bewußt, hat er sich doch niemals zu Bestrebungen fortreißen lassen, die Vergangenheit zu reaktivieren. Er hat geradezu durch sein Auftreten verhindert, daß eine monarchistische Partei von Bedeutung sich in Österreich bilden konnte. Im Parlament wandte sich Seipel sofort den unmittelbar drängenden Aufgaben zu. Zunächst mußte sich das republikanische Österreich eine Verfassung geben; Seipel wurde im Parlament zum Berichterstatter für die Verfassung bestellt. In dieser Eigenschaft hat er, den größten Schwierigkeiten zum Trotz, die Annahme der Verfassung vom Oktober 1920 durchgesetzt. Damit wurde auf breitester demokratischer Grundlage der auch heute noch geltende föderalistische Charakter der Republik festgelegt.

Obwohl Seipel schon seit 1919 an vorderster Stelle stand und an Geltung weit alle anderen Männer überragte, von denen nach Zerfall der ersten, die Christlich-soziale - Sozialdemokratische Partei umfassenden Koalition, als Kanzler die Rede sein konnte, hat es noch bis zum Mai 1922 gedauert, bis er zum Bundeskanzler gewählt wurde. Nicht leicht hat sich Seipel zur Übernahme dieses hohen Amtes entschlossen. Er, der sich der Pflichten seines geistlichen Berufes ebenso bewußt war wie der Pflichten seiner politischen Stellung, kannte genau die Argumente, die gegen die Vereinigung dieser beiden Pflichtenkreise in einer Person geltend gemacht werden können. Aber er bedachte auch, was seine Ablehnung der Übernahme der Regierungsgeschäfte bedeutet hätte. Die Lage Österreichs war kritisch. Wohl war der Vertrag von Saint-Germain schon geschlossen, die finanzielle und wirtschaftliche Lage des Landes schien aber fast hoffnungslos. Die Inflation der Währung hatte Siedehitze erreicht. Die Gefahr der Besetzung Österreichs durch Nachbarstaaten wurde ernst. Der sichtbarste Mann von denen, die noch an Österreich glaubten, durfte die Übernahme der Regierung nicht ablehnen. So nahm Seipel an. Bevor es noch zu spät war, gelang es ihm, im September 1922 den Völkeröffne meinen Mantel, um nach der Uhr in meinem Talar zu langen. In dem Augenblick, als beim öffnen meines Mantels das rote Zingulum und das bischöfliche Brustkreuz sichtbar wurden, sprang der kleine Bengel im Nu, ohne die Antwort auf seine Frage abzuwarten, mit behenden Sätzen davon und rief seinem in der Nähe stehenden kleinen Kameraden zu: .Adriano, 4 veramente un vescovo!' — ,Du, Adrian, es ist tatsächlich ein Bischof.“ — Die beiden Buben konnten es offenbar nicht glauben,

daß der gar so Junge, schlanke Mann, der eine grüne Schnur als Zeichen seiner Würde auf seinem breitkrempigen, schwarzen Hute trug, sonst aber nur einen schwarzen geschlossenen Mantel über seinem Talar an hatte, wirklich ein Bischof sein sollte. Ihre Vorstellung von einem Bischof gab ihnen hier ein Rätsel auf. Sie lösten das Problem auf die geschilderte Art.

Ob sich der Gefangene von Lepoglava heute noch an diese Bubengeschichte vom Petersplatz erinnert?

Ein Thema. Viele Standpunkte. Im FURCHE-Navigator weiterlesen.

FURCHE-Navigator Vorschau
Werbung
Werbung
Werbung