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Das Rütli in der Herrengasse

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Das Rütli, eine vom Ufer des Vierwaldstätter Sees in einer Viertelstunde zu erreichende Waldwiese, wo die Vertreter der Talschaften Uri, Schwyz und Nidwaiden in der Nacht des 7. November 1307 den Bund der Eidgenossen durch den Rütlischwur erneuert haben, ist seit Friedrich Schillers „Wilhelm Teil“ nicht nur den Eidgenossen ein Begriff. Dieses Nationalheiligtum hat in der jüngsten Geschichte der Schweiz eine noch größere Bedeutung erlangt. Als Italien im Jahre 1940 nach dem für Deutschland siegreichen Frankreichfeldzug an der Seite Deutschlands in den Krieg eintrat, bildete die Schweiz eine Insel inmitten der Achsenmächte. Die Bereitschaft der „Realpolitiker“, sich den Diktaturen von Berlin und Rom zu beugen, verbreitete sich wie eine Seuche über das ganze Land; die Haltung der Heimatfront war besorgniserregend, denn Zersetzung hatte alle Kreise, auch den Bundesrat und das Offizierskorps, ergriffen. In dieser ernsten Stunde befahl General Henri Guisan die Kommandanten der Heereseinheiten und Truppenkörper zu einem Rapport auf das Rütli. „Wir befinden uns an einem Wendepunkt unserer Geschichte. Es geht um die Existenz der Schweiz.“ Nach dieser ernsten Einleitung gab aber der General keinen Rat für die günstigste Taktik des Rückzuges, sondern den strikten Befehl, immer und überall Widerstand zu leisten und die Alpenpässe zur Alpenfestung, zum Reduit, auszubauen. Tatsächlich wurde dieser Rütlirapport, der dem Bundesrat in Bern großes Kopfzerbrechen verursachte, zum Wendepunkt in der Geisteshaltung des Schweizer Volkes; er war Anfang und Höhepunkt geistiger Landesverteidigung.

Die Vierteilung Österreichs

Ein vielleicht noch bedeutungsvolleres Ereignis steht am Anfang der Geschichte unserer Zweiten Republik. Zugetragen hat es sich vor nunmehr 20 Jahren im niederösterreichischen Landhaus • in der Herrengasse zu Wien. Vier BesatzUrtgszonen zerteilten Österreich. Da jedem Oberbefehlshaber die oberste Regierungsgewalt in der von den Truppen seines Staates besetzten Zone eingeräumt war, gab es vier Regierungen. Die ohnehin minimale Macht der am 27. April 1945 in Wien gebildeten Bundesregierung reichte nicht über die Enns. Die westlichen Alliierten versagten dieser zu einem Drittel aus Kommunisten bestehenden Regierung die Anerkennung. Im russisch besetzten Wien und Niederösterreich konnte aber nur eine Regierung bestehen, die der Armee der Sowjetunion genehm war. So wurde die Enns zur Grenze, über die nicht einmal Briefe befördert werden durften; noch am 14. September gab die Eisenbahndirektion Linz bekannt, daß zwischen Oberösterreich und Wien keine Züge verkehren. Als am 11. September bei der ersten Sitzung des Alliierten Rates die Anerkennung der Bundesregierung versagt blieb, schrieb Staatskanzler Dr. Karl Renner in einem Artikel an die „Times“, daß Österreich seine Unabhängigkeit nur dann erhalten könne, wenn sich die Großmächte auf eine einheitliche Behandlung einigen. Vom gleichen Gedanken waren die provisorischen Landeshauptleute der Bundesländer, die die aus der Nichtanerkennung drohende Gefahr erkannten, beseelt. Obwohl sich die damals amtierenden Landesregierungen auf kein Mandat des Volkes berufen konnten (praktisch waren, sie ausschließlich von den Besatzungsmächten abhängige und diesen in erster Linie verpflichtete Exekutivorgane), ergriffen sie eine erfolgreiche Initiative. Da es weder Nationalrat noch Bundesrat gab, kam es zu den Länderkonferenzen; zuerst in Salzburg, wo sich die Vertreter der westlichen Bundesländer trafen, und dann in Wien. Der Beschluß des Alliierten Rates vom 21. September beleuchtet die Situation: Die Einberufung einer Länderkonferenz durch den provisorischen Staatskanzler wird genehmigt und den Besatzungsmächten empfohlen, den Delegierten die Reise nach Wien zu ermöglichend).

Am 24. und 25. September tagten dann die Vertreter der Länder unter dem Vorsitz des Staatskanzlers im Haus der niederösterreichischen

Landesregierung in Wien. Jedes Bundesland war durch zwei Mitglieder der Landesregierung und je zwei Delegierte der politischen Parteien vertreten. Der Verlauf dieser Konferenz machte den Unterschied zur Ersten Republik deutlich.

Die Beschlüsse bekundeten den festen Willen, über alle sonstigen Interessen das gemeinsame Vaterland zu stellen. Obwohl auch die auf Grund der Länderkonferenz umgebildete Bundesregierung ziemlich weit links stand (zum Beispiel war das wichtige Innenministerium und das nicht minder wichtige Unterrichtsministerium von Vertrauensleuten der KPÖ geleitet) und kaum dem politischen Querschnitt der Gesamtbevölkerung entsprach, forderte die Länderkonferenz — einschließlich der Vertreter der konservativen Bundesländer — die Anerkennung dieser Regierung durch den Alliierten Rat. Und obwohl es für ernährungsmäßig besser gestellte Bundesländer und für solche, die eine „freigebigere“ Besatzungsmacht hatten, verlockend gewesen wäre, einige Zeit die Selbstherrlichkeit zu genießen, forderte die Länderkonferenz eine einheitliche Lebensmittelbewirtschaftung, einheitliche Lebensmittelkarten und Verbraucherkategorien für ganz Österreich und die Herstellung der Einheit in der Anwendung des österreichischen Rechts.

Die unbedingte Einigkeit und Entschlossenheit dieser und einer zweiten Länderkonferenz, die am 9. Oktober stattfand, führte am 20. Oktober zur Anerkennung der provisorischen Staatsregierung durch alle vier Besatzungsmächte und in der Folge zur Ausschreibung von Nationalrats- und Landtagswahlen für den 25. November.

Im entscheidenden Augenblick

Der Einigkeit der Länderkonferenz war die in vorletzter Stunde erfolgte Anerkennung der provisorischen Staatsregierung zu danken. Dies war die Voraussetzung für die Abhaltung der ersten Nationalratswahl, aus der die erste frei gewählte Bundesregierung hervorgehen konnte. Dieser Einigkeit der österreichischen Bundesländer und der festen und kompromißlosen Haltung der österreichischen Wähler, die keiner Einschüchterung erlagen, ist es zu danken, daß unser Vaterland nicht in ein Ost- und Westösterreich zerfiel und unserer Bundeshauptstadt das Schicksal Berlins erspart blieb. Der „Kalte Krieg“, der nur ein paar Monate später zwischen den Westmächten und der Sowjetunion ausbrach, hätte die Wiederherstellung der Einheit unseres Staates — wenn nicht gar für immer — so doch auf lange Sicht vereitelt.

Zwanzig Jahre sind seit diesen Ereignissen vergangen. Es wird gut sein, sie heute in Erinnerung zu rufen. In einer Zeit, die gerne wieder das Trennende statt dem Einigenden betont, die bei allem berechtigten Föderalismus der Länder, die Interessen des gemeinsamen Vaterlandes zu kurz kommen läßt.

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