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Das Schicksal zaudert...

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Im Morgengrauen des 10. Mai 1940 stand an der deutsch-luxemburgischen Grenze, des Angriffsbefehles gewärtig, die gewaltigste Panzermasse bereit, die bis dahin gesammelt an irgendeiner Front aufgetreten war: drei Panzerkorps — dicht aufgeschlossen hintereinander — zu einer Phalanx von 160 km Tiefe geballt, deren letzte Einheiten noch 80 km östlich des Rheins standen. Auf einer einzigen Straße nacheinanderge-reiht, würden diese Kolosse eine von Trier bis Königsberg reichende Kolonne gebildet haben.

Durch Monate waren die bevorstehende Offensive, ihre Ausführbarkeit, ihre Zielrichtung und Durchführung Gegenstand widerspruchsvoller Erwägungen gewesen. Nun waren die Würfel gefallen, die Vorbereitungen getroffen; wie weit das Schicksal die Invasionsheere tragen würde, stand in den Sternen.

Man hatte ursprünglich den Plan von 1914 (Einmarsch bei Lüttich, dann Drehung nach Süden) kopieren wonen. General von M a n s t e i n fand ihn zu durchsichtig. Ein frontaler Zusammenprall in Belgien, erklärte er, könne nicht die völlige und endgültige Lösung bringen. Dagegen werde ein Durchbruch durch die Ardennen vom Feinde wegen des schwierigen Geländes nicht erwartet. Sei aber dieses ohne bedeutende Gegenwirkung passiert, so biete hinter der Maas das wellige Gelände Nordfrankreichs ein ideales Manövriergelände für einen reißend schnellen Vormarsch der Panzerheere. Die Fachleute verwarfen den Plan, Hitler billigte ihn. Nie wäre er aber zur vollen Auswirkung gelangt, wenn die französischen Strategen sich nicht geradezu in die Falle gedrängt hätten, die sich nach dem Durchstoßen der Ardennen hinter ihnen schließen sollte: die modernst ausgerüsteten und beweglichsten alliierten Kräfte, die 1., 7. und 9. französische Armee, das britische Expeditionskorps, wurden nach Belgien vorgetrieben, um dieses Land und Holland zu schützen. Jeder Schritt vorwärts machte diese Masse noch anfälliger gegen den Vorstoß durch die Ardennen. — Endgültig entschied sich das deutsche Hauptquartier für Mansteins Plan „auf Grund bestimmter, aus Brüssel stammender Nachrichten und Pläne der Alliierten“, wie Liddell Hart in seinem überaus spannungs- und aufschlußreichen Werk „Die Strategie einer Diktatur“ (Verlag Amstutz, Herdeg & Co., Zürich) berichtet.

Der Feldzug begann, die Luftlandung in Holland rüttelte die ganze Welt auf. Sie wurde übrigens von nicht mehr als 4000 Fallschirmjägern ausgeführt, während die noch verfügbaren restlichen 500 gegen das belgische Fort Eben Emael und die von diesem gedeckten Kanalübergänge operierten! Der vorgeplante Fall trat ein, und während noch die französischen und deutschen Armeen in Belgien die Klingen kreuzten, ergossen sich die Panzerspitzen der Armee von Kleist bereits nach Durchbruch der Ardennen und der Maas in das offene Nordostfrankreich, verstärkt durch ein Panzerkorps, das eben noch in Belgien gefochten hatte und nach Erfüllung seiner Aufgabe rasch hinter der Front umgeschwenkt worden war. Durch Verlagerung ihrer Schwerpunkte brachten die Angreifer am 27. Mai die belgische Armee zur Waffenstreckung. Von da an ging alles rasch: „Die einzige ernstliche Schwierigkeit, auf die wir trafen, lag im Ubergang von Flüssen und Kanälen, nicht im feindlichen Widerstand“, erklärte General von Bechtolsheim zu Liddell Hart.

Der Widerstand, den die Panzerwalze im schwierigen Maas- und Gebirgsge-lände gefunden hatte, war zu ihrem Glück nicht stark, denn die Artillerie konnte nur fünfzig Schuß Munition je Batterie mitführen! Aber die feindlichen Divisionen im Angriffsabschnitt waren „armselig bewaffnet und von geringer Qualität“. Die besten Kräfte waren in Belgien, wurden langsam gegen die Küste zurückgedrückt und nun von den Panzerheeren umfaßt. Die Erfolge waren so überwältigend, daß die deutsche Heeresleitung bedenklich wurde. Denn je weiter die Panzerarmeen zur Küste durchstießen, eine um so längere ungeschützte Flanke boten sie den südlich von ihr stehenden, auf noch fünfzig Divisionen geschätzten französischen Armeen zum Gegenstoß. Hitler bremste deshalb für einen Tag den Kampf. Aber die französischen Heere waren wie gelähmt. Die volle Wucht des „Blitzkrieges“ hatte sie getroffen. Das Rennen der Kampfwagenverbände zum Kanal ging in einem so rasenden Tempo weiter, daß sich plötzlich General Giraud, als neuernannter Kommandant der 6. Armee diese suchend, mitten unter deutschen Truppen sah. Hier ist der französische Feldherr, dessen Flucht von der Feste Königstein später so viel Aufsehen erregte, zum zweitenmal in seinem Leben von deutschen Soldaten gefangen worden.

Ein energischer britischer Gegenstoß machte noch vorübergehend Sorge, aber er wurde von zu geringen Kräften getragen. Immer dichter wurde das Netz, das die Deutschen vor die Rückzugslinie der alliierten Streitkräfte in Belgien legten. Nun war es deren Verhängnis, daß General Gamelin sie ohne Rückendeckung so weit nach vorne getrieben hatte.

Am 22. Mai wurde Boulogne, am 23. Calais durch die vordringenden Deutschen isoliert. Die deutschen Panzer standen näher zu Dünkirchen als die verfolgten britischen Truppen. Die vordersten Kampfwagen sahen von Bergues aus den legendär gewordenen Rettungshafen greifbar vor sich liegen!

Da kam ein telephonischer Befehl des Obersten von Greiffenberg aus dem OKH, daß der Vormarsch der Panzergruppe von Kleist einzustellen sei: unmittelbarer Befehl des Führers. Auf eine Verwahrung erfolgte die Präzisierung: „Die Panzerdivisionen haben sich auf mittlerer Artillerieschußweite von Dünkirchen zu halten.“ Kleist ignorierte den Befehl, seine Panzer drangen in Haze-brouck ein und schnitten die britischen Rückzugslinien ab. Auch der Oberbefehlshaber der Expeditionsstreitkräfte, Lord Gort, wäre dabei gefangengenommen worden. Auf neue nachdrückliche Weisung zog endlich Kleist seine Tanks zurück und mußte sie drei Tage halten lassen, während denen die Briten entschlüpften. Dann wurde der Panzervormarsch gegen sich versteifenden Widerstand wieder aufgenommen, um neuerlich — und diesmal endgültig — abgestoppt zu werden. Aus Belgien anmarschierende Infanterieverbände nahmen schließlich Dünkirchen in Besitz — der Kern der britischen Armee, 335.000 Mann, war aber bereits geborgen. Wir kennen die Schilderung der furchtbaren Schwierigkeiten und Opfer, die diese Evakuierung unter dem Hagel der Stukabomben forderte. Die Küste war mit brennenden Wagen, zerstörten Tanks weithin bedeckt. Die nun kriegsgehärtete und als einzige militärisch voll ausgebildete britische Armee aber gelangte in unzähligen Schiffen, Booten und Barkassen über den Kanal: Kader des Invasionsheeres von 1944.

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