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Digital In Arbeit

Das seelische Arbeiterproblem

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Vor kaum hundert Jahren war der einzige Platz, wo der Mensch, der sich in Bedrängnis befand, Schutz und Hilfe finden konnte, die Kirche. Die Probleme, die auf den Menschen eindringen und ihn in Bedrängnis versetzen können, haben sich im Verlaufe von hundert Jahren wesentlich vergrößert. Wenn sie auch im Grunde dieselben geblieben sind, Hunger, Krankheit, seelische Bedrückung, Familienzerwürfnis, Verfolgung, Krieg, so hat ihr Format sich doch tausendfach vergrößert. Ich fühle mich nicht berufen, .zu entscheiden, ob die Zeit, die inzwischen vergangen ist, Fortschritt gebracht und die Zivilisation verbreitert und vertieft hat, obwohl die Beweggründe, die zu der Tatsache führen, daß ich hier in Amerika meine Berichte für die „Furche“ schreiben muß, anstatt in meiner Heimat Österreich, fast wie eine Antwort auf diese Frage aussehen. „Inmitten vergessener Künste, zerstörten Handels, inmitten der Überreste der Literatur und unter vernichteten Völkern spricht der Europäer von Fortschritt, weil es ihm gelang, durch ingeniöse Anwendung einiger wissenschaftlicher Errungenschaften eine Gesellschaft zu organisieren, in der er irrtümlich Bequemlichkeit für Zivilisation hält.“ Was würde der ehemalige englische Premierminister Benjamin Disraeli, Lord of Beacons-field, der dieses Wort einmal nur von Europa sprach, heute sagen, wenn er auf die zerstörte Welt blicken könnte, aus der sidi noch immer die geballten Fäuste erheben und über der das Wort Gottes noch immer im Nebel der Gehirne und an den Wänden verhärteter Herzen echolos verhallt?

In einen der wichtigsten Bereiche dieser zerrissenen ruhelosen Welt, in die Arbeiterschaft, soll nach dem Willen der Vorkämpfer für die Idee des Industriekaplans ein Samariterwerk der Seele getragen werden. Der nichtamerikanische Leser wird sich nicht wundern dürfen, daß der amerikanische Plan eben auch seine typische amerikanische Eigenart hat, geformt nach den vorhandenen besonderen Verhältnissen, aber doch wohl auch in dieser Gestalt nicht ohne Anregung für andere Verhältnisse.

„Vom Standpunkte der Kirche aus gesehen, ist der Industriekaplan eine missionäre Institution.“ Diese Worte befinden sich-'in der Einleitung, mit welcher der tapfere Fürsprecher des Planes, Reverend B. Sayre, seinen Bericht an sein vorgesetztes Ordinariat beginnt.

Nun erhebt sich sofort die Frage: Worauf gründet sich die Stellung des Industriekaplans, der also inmitten industrieller Arbeiterschaft als seelischer Berater wirken soM? Eine Dotation aus irgendwelchen öffentlichen oder diözesanen Mitteln gibt es nicht. Seine Lebensmöglichkeit muß abo innerhalb seines Arbeitsraumes erschlossen werden. Hier beginnen sofort die großen Schwierigkeiten, die sich aus den besonderen amerikanischen Verhältnissen, zumal der konfessionellen Zersplitterung, ergeben.

„Folgende Prinzipien wurden der Verwirklichung der Idee zugrunde gelegt“, fährt der Bericht des Reverend Francis B. Sayre an sein vorgesetztes Ordinariat fort:

Die Arbeit des Industriekaplans sollte von einer möglichst großen interkonfessionellen Gruppe unterstützt werden, denn sie wird unter Personen der versdiiedensten Religionen ausgeübt werden.

2. Die Arbeit des Industriekaplans sollte ein gemeinsames Unternehmen — finanziell sowohl als auch in jeder anderen Beziehung — der Betriebsleitung und der Arbeiterschaft jenes Unternehmens sein, in dessen- Fabriken sie ausgeübt wird. Rein psychologisch schon würde ein Kaplan, dessen Arbeit gänzlich von der Betriebsleitung finanziert wird, unannehmbar für die Arbeiterschaft sein. Intelligente Betriebsleitungen haben erkannt, daß ein Kaplan, dessen Tätigkeit erfolgreich sein soll, von den Arbeitern als irgendwie „zu ihnen gehörend“ angesehen werden müßte. Dies geht schon aus den geringen Erfolgen hervor, die bisher von Kaplancn aufgezeigt wurden, die als „Industry Counsellors“ (Berater der Industrie) von Unternehmern angestellt und ausschließlich von diesen bezahlt wurden. Umgekehrt würde sich der Kaplan in einer ebenso ungünstigen Position befinden, wenn er einseitig nur in den Diensten der Arbeiterschaft stünde.

3. Nachdem der Kampf für bessere Arbeitsbedingungen und für die Wohlfahrt der Arbeiterbevölkerung hauptsächlich von Gewerkschaften geführt wird, sollte in bezug auf Einführung und Durchführung der Idee des Industriekaplans ausschließlich nur mit solchen Unternehmungen verhandelt werden, die G e-werkschaften anerkennen und deren Arbeiter gewerkschaftlich organisiert sind.“

Es ist also ersichtlich, daß' der Industriekaplan, wenn er Katholik ist, nicht etwa nur für die katholischen Arbeiter da ist, sondern als seelischer Beistand für alle, die ihn ansprechen oder deren Vertrauen er erobert. Welche außerordentlichen Anforderungen an den Takt und das Einfühlungsvermögen dieses Mannes werden hier gestellt! Er kann nicht etwa Missionar sein in dem Sinne, daß er für seinen Glauben wirbt, sondern er hat vielmehr aus seiner christlichen Liebe heraus zu schenken, dadurch die harte Schale des Indifferentismus zu durchbrechen und die Seele für die Erkenntnis der religiösen Werte zu bereiten.

Wie Sayre in seinem Bericht an das Ordinariat dariegt, ist in allen Diskussionen über den Industriekaplan, in denen er als eine „Brücke“ oder als ein „Sprachrohr“ zwischen Unternehmer und Arbeiter bezeichnet wurde, mit Nachdruck von beiden Parteien darauf Wert gelegt worden, klar zu machen, daß er in keiner Hinsicht als ein „Mittler“ oder offizieller „Vermittler“ in Meinungsverschiedenheiten gedacht ist. Seine Verbindung zu den beiden Gruppen ist rein ideel und niemals offiziell. Wo es sich um Meinungsverschiedenheiten handelt, wird seine Tätigkeit sein müssen eher vorzubeugen, als zu sdilichten. „Es ist ja der Sinn seiner Arbeit, alle Menschen, und Gruppen sich ihrer moralischen und religiösen Verpflichtungen bewußt zu werden und ihr Erfolg wird solche Meinungsverschiedenheiten entweder mäßigen oder aber überhaupt vorbeugend verhindert haben.“

Zwei große Hemmungen bestehen: erstens die Mitarbeit alller Kirchen zu erlangen, die in diesem Lande der verschiedenen Religionen unerläßlich ist, und zweitens die Annahme des Industriekaplans direkt durch die Arbeiterschaft. Es hat sich .gezeigt, daß die oberste Gewerkschaftsleitung dem Problem aufrichtig günstig gesinnt ist und sie zu unterstützen versprach. Auch Versammlungen der Arbeiterschaft, in welchen Sayre seine Ansichten entwickelte, hatten gute Ergebnisse. Die Schwierigkeit entstand in jenem Augenblick, in dem die Arbeiter abstimmen sollten. Man fürchtete die politischen Konsequenzen, die aus einer etwaigen Opposition gegen die Idee irgcndeinmal entstehen könnten. Ohne Abstimmung konnten aber auch keine Beiträge von den Arbeitern erreidit werden.

Ich hatte ein Gespräch mit Mr. Paul Fessenden, dem Exekutivsekretär des Gewerkschaftsrates von Akron, Ohio. Akron ist eine Stadt von rund 350.000 Einwohnern und der Sitz. der amerikanischen Gummi-industrie, die rund 40 Prozent der gesamten Weltkautschukproduktion verbraucht. Mister Paul Fessenden erklärte mir folgendes: „Wir haben uns schon lange, bevor Reverend Sayre an uns herantrat, mit der Idee eines Arbeiterberaters in Fabriken befaßt Die Notwendigkeit hiezu ergab sich schon aus dem Umstände, daß an die Gewerkschaftskanzleien von einer stetig wachsenden Anzahl Ratsuchender herangetreten wurde. Wir konnten diese vielen Fälle kaum mehr bewältigen. Der Idee des Reverend Sayre standen wir durchaus sympathisch gegenüber. Aber es ergaben sich Schwierigkeiten, erstens, weil die Kirche darauf bestand, diese Stellung zu allererst zur Verbreitung und Vertiefung der göttlichen Lehre zu benützen. Wir sind aber der Ansicht, daß Religion in die Kirche gehört, die Stellung des Industriekaplans aber die eines irdischen Fürsorgers sein soll. Die zweite sehr große Schwierigkeit ergab sich aus der Stellung der verschiedenen Kirchen Amerikas zueinander. Bereits die Erörterung der Frage, welchen Bekenntnissen diese Industriekaplane entnommen werden sollen, führte zu Widersprüchen. Für uns

Gewerkschaften gibt es keine religiösen oder rassischen Vorurteile. Uns ist es gleichgültig, wer der Arbeiterberater ist, die Hauptsache ist, daß er ein wirklicher, neutraler Arbeiterratgeber ist. Den verschiedenen Kirchen schien dies jedoch nicht gleichgültig gewesen zu sein. Wir geben uns keiner Täuschung hin, daß es in diesem Lande noch viel Diskriminierung gijpt. Der Industriekaplan hätte zur Verminderung dieser Diskriminierung viel beitragen können.“

Auf meine Bitte, eine Erklärung über die Einstellung der Gewerkschaften zur Religion abzugeben, antwortete Mr. Fessenden: „Wir sind keinesfalls gegen Religion. Wir wissen sehr wohl, daß der Arbeiter, auch wenn er im täglichen Leben noch so wenig religiöse Ansichten äußert oder Sitten einhält, zutiefst in seinem Herzen doch religiös ist. Die meisten lassen ihre Kinder doch taufen, sie schicken sie doch in die Sonntagsschule, sie heiraten in der Kirche und legen auf ein kirchliches Begräbnis doch wert. Wir wissen sehr wohl die Grenzen unserer Macht abzuschätzen, sehen aber auch die Grenzen der Macht der Kirche. Vor allen Dingen aber verkennen wir nicht den Umstand, daß dieses Land ja gegründet wurde, um die Freiheit der Religionsausübung zu gewährleiste n.“

Noch ist der große ideale Plan über die Propaganda nicht hinaus. „Eine neue Idee der Voraussicht und Tatkraft der Kirche sowie ein neuer Sinn ihrer Verantwortlichkeit wurde der Öffentlichkeit eindrucksvoll zum Bewußtsein gebracht. Wir können nur säen, allein in Gottes Macht steht es, die Frucht reifen zu lassen.“ So schloß Reverend Sayre.

Ist es nicht ergreifend, daß die heroische Idee des Industriekaplans hier zu einer Zeit geboren ward, in der in anderen Ländern an Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Verantwortlichkeit vor Gott und den Menschen so wenig gebracht wurde?

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